Der Fußballfan liebt ungeschriebene Gesetze, sie sind an jedem Stammtisch die heilige Formel und oftmals auch das letzte Argument, wenn man nicht mehr weiter weiß. "Bayer Leverkusen wird nie beim FC Bayern gewinnen", ist eines dieser Gesetze. Oder: "Bayer Leverkusen wird nie deutscher Meister."
Zur Verteidigung der Bayer-Ehre ist anzuführen, dass Leverkusen bereits zweimal in München gewonnen hat. Das letzte Mal ist allerdings schon so lange her, das man sich kaum mehr an den Siegtorschützen Marek Lesniak oder seinen wild wachsenden Oberlippenbart erinnern mag.
Und doch war Lesniaks Name am Sonntag im Gespräch. Bayer-Stürmer Eren Derdiyok, der arme Kerl, wurde nach der Partie von einem Journalisten gefragt, ob er Lesniak kenne, dabei hatte der Schweizer beim letzten Leverkusener Sieg vor 20 Jahren doch noch Windeln getragen und bestimmt nicht Leverkusens Gastspiel im Olympiastadion gegen die Grahammers und Dorfners dieser Welt verfolgt.
Wer war eigentlich wer?
Ob es denn nicht ein guter Zeitpunkt gewesen wäre, in Lesniaks Fußstapfen zu treten, war die Nachfrage auf Derdiyoks Unwissenheit. Der Stürmer antwortete, wie ein Bayer-Spieler seit zwei Dekaden im Prinzip immer antwortet: Es sei immer noch der FC Bayern gewesen und da könne man schon mit einem 1:1 zufrieden sein und außerdem: vielleicht klappt es ja nächstes Jahr mit diesem Lesniak-Dings.
Dabei hatte Derdiyoks Mannschaft den Rekordmeister zumindest in der ersten Halbzeit am Rande einer Niederlage. Gegen den juvenilen Offensivschwung der Gäste hatten die Bayern-Innenverteidiger wie "Kühlschränke zwischen Hasen" ausgesehen, wie es die "Süddeutsche Zeitung" am Montag treffend bezeichnete. Lediglich wenige Millimeter trennten Bayer von einer 2:1-Führung und, wer weiß, vielleicht sogar von einem Sieg.
Überhaupt stellte diese erste Halbzeit die offene Frage in den Raum, wer denn hier eigentlich der Hausherr, der Rekordmeister, der Mir-san-mir-FC-Bayern ist. Die Herren in Rot, die den Ball mehr per Zufall als mit spielerischer List über das Feld trugen, oder die Herren in Weiß, die ein klares Spielkonzept an den Tag legten und aus einem ballsicheren Mittelfeld mehrere präzise Angriffe aufs gegnerische Tor zauberten.
Kein Murren über Ausfälle
Während van Gaals Bayern-Mittelfeld seine Dominanz immer noch in eine Unmenge an Querpässe umwandelt, läuft Jupp Heynckes' Übersetzung im Mittelfeld schon seit Saisonbeginn auf einem größeren Zahnrad. Das 4-4-2 mit Doppel-Sechs sitzt, auch ohne die zwei Säulen Renato Augusto und Simon Rolfes.
Weil sich der junge Stefan Reinartz in der Zentrale als vorzüglicher Nebenmann des nicht mehr so flippigen Arturo Vidal erweist und Toni Kroos im linken Mittelfeld genauso gefährlich ein Spiel aufziehen kann wie im Zentrum und dazu auch noch defensiv zu gefallen weiß.
Ergänzt wird das Mittelfeld von den agilen Außenverteidigern, die Kroos und Tranquillo Barnetta im Offensivspiel unterstützen. Gonzalo Castro, der in München einen schwächeren Tag erwischte, spielt links genauso sicher wie auf seiner angestammten Seite. Und rechts macht Neuzugang Daniel Schwaab einen ebenso guten Eindruck. Auch hier wird über den Ausfall von Michal Kadlec nicht gemurrt.
Der langsamte Kühlschrank der Liga
Richtig rund wird die Sache dann, wenn Bayer bei Ballbesitz des Gegners das Spielfeld engmaschig macht und mit den beiden Spitzen Stefan Kießling und Derdiyok den Gegner schon früh in seiner Hälfte empfängt.
Ganz hinten, als vorletzte Instanz, kommt Sami Hyypiä die eigentlich entscheidende Rolle zu. Auch Leverkusen hat einen Kühlschrank, der wahrscheinlich dazu noch der langsamste Spieler der Bundesliga ist. Aber eben auch mit einem fantastischen Stellungsspiel und mehr Erfahrung und Unaufgeregtheit gesegnet ist, als der komplette Rest der Mannschaft zusammen.
Hyypiä spielt meist eine Art verkappter Libero und positioniert sich leicht nach hinten versetzt zu Nebenmann Manuel Friedrich, um durch die Staffelung direkten Laufduellen aus dem Weg zu gehen.
Komplettiert wird die Bayer-Elf von Nationaltorhüter Rene Adler, der hinten auch mal einen Unhaltbaren rausfischt, so gesehen gegen Anatolij Tymoschtschuk, kurz vor der Pause oder gegen Mario Gomez kurz vor dem Abpfiff.
Gutes Bayer, zauderndes Bayer
Und doch bleibt dieses lebendige, kreative und unerschrokene Bayer auch am 13. Spieltag immer noch ein klein wenig ein zauderndes Bayer. In München war der Elan nach einer Halbzeit dahin, Leverkusen zollte dem Tempo in den zweiten 45 Minuten Tribut und machte den Gegner durch eigene Passivität stark. Selbiges war auch schon in Wolfsburg (3:2 nach 3:0) und Schalke (2:2 nach 2:0) passiert.
"Das kann man manchmal gar nicht erklären", sagte Stefan Kießling auf Nachfrage von SPOX, warum die Bayer-Hasen im zweiten Durchgang nicht mehr zwischen den Kühlschränken wuselten, sondern verstecken spielten.
Adler im Interview: "Wir sind eine Spitzenmannschaft"
Rene Adler ergänzte: "Wir sind ja nicht so weltfremd und wissen nicht, dass der FC Bayern noch eine Schippe drauflegt. Wir mussten erstmal hinten gut stehen und kein Gegentor kriegen, das haben wir gut gemacht." Aber eben auch wieder nur unentschieden gespielt, zum sechsten Mal in dieser Saison.
"Sind reifer und mental stärker geworden"
Immerhin sagten alle Bayer-Spieler unisono, dass sie ohne Angst nach München gefahren seien. "Wir sind diesmal als Tabellenführer hier gewesen, wollten diese Führung verteidigen und das haben wir geschafft", sagte Kießling.
"Natürlich musst du so ein Spiel auch mal gewinnen, einen Big Point setzen. Aber wir sind nach 13 Spieltagen ungeschlagen, das zeigt, dass wir reifer und mental stärker geworden sind. Und irgendwann gewinnen wir auch mal die Big Points", so der inzwischen neunmalige Torschütze.
Immerhin: Im Gegensatz zur letzten Saison verliert Bayer die engen Spiele nicht mehr.
Achtungserfolg für die Milchbubi-Horde
Ein Remis beim Rekordmeister nach einem frühen Rückstand ist für ein Team, das mit Ausnahme von Friedrich (30) und Hyypiä (36) nur mit Spielern unter 25 Jahren antrat, der beste Ausdruck eines Reifeprozesses, der unter Heynckes beschleunigt wurde.
Und wenn man schon das eine ungeschriebene Gesetz nicht brechen konnte - vielleicht klappt es ja am Ende der Saison mit dem anderen.
Die "Ihr werdet nie deutscher Meister"-Gesänge waren in München jedenfalls nach dem Ausgleich verstummt.
Die Fans sparten sich die Energie - um die eigene Mannschaft auszupfeifen.