Manchmal gibt es Zufälle, die bestimmte Ereignisse heraufbeschwören - oder zumindest begünstigen. Im Falle Gylfi Sigurdsson und Hoffenheim war es ein Zufall geografischer Natur und hatte eigentlich gar nichts mit Fußball zu tun - eher mit der Schulwahl von Ralf Rangnicks 19 Jahre altem Sohn Kevin.
"Dadurch, dass mein Sohn bis vor vier Wochen noch in Reading zur Schule ging, kannte er ihn. Mein Sohn hat ihn spielen sehen", erinnerte sich der 1899-Trainer dieser Tage daran, wie der Name Gylfi Sigurdsson erstmals im Hause Rangnick fiel.
Der Coach würde freilich nie so weit gehen, zu sagen, sein Sohn habe Hoffenheims (1899 - Schalke, 20.15 Uhr im LIVE-TICKER) neues Offensivjuwel im Alleingang entdeckt. Das würde auch der Scouting-Abteilung der Kraichgauer nicht gerecht werden.
Vorschau: Schalke in Hoffenheim am Scheideweg
Stolzer Preis - für einen Unbekannten
Tatsache ist aber, dass 1899 Sigurdsson vor einigen Wochen beim beeindruckenden 4:1-Sieg der isländischen U 21 gegen Deutschland erstmals beobachten ließ, und, nachdem die Eindrücke offenbar positiv waren, anschließend für kolportierte sechs bis sieben Millionen Euro verpflichtete.
Nun ist es durchaus verwunderlich, dass ein deutscher Bundesligist einen hohen siebenstelligen Betrag an einen englischen Zweitligist (FC Reading) für einen Spieler überweist, der außerhalb der Insel bislang kaum nennenswert in Erscheinung getreten ist.
Glaubt man jedoch seinen Förderern in England, ist der offensive Mittelfeldspieler, der diese Woche seinen 21. Geburtstag feierte, jeden Cent davon wert. Bei Reading fühlten sich die Fans jedenfalls schlichtweg beraubt, als der Wechsel am 31. August, dem letzten Transfertag, verkündet wurde.
Reading-Vereinsführung entschuldigt sich
In Fan-Foren war vom "größten Fehler der 139-jährigen Vereinsgeschichte" die Rede. "The Sig", wie Sigurdsson in Anlehnung an die Figur "The Stig" aus der BBC-Show "Top Gear" genannt wurde, war das Tafelsilber des Traditionsvereins. Dementsprechend entschuldigend hörten sich die Erklärungen der Vereinsführung an.
Man habe bei der von Hoffenheim aufgerufenen Summe eben klein bei geben müssen, schrieb der Klub auf der eigenen Homepage - außerdem habe Sigurdsson die Chance unbedingt ergreifen wollen."Ich verstehe, dass einige Fans es gerne gesehen hätten, dass Gylfi bleibt", sagte Readings Präsident Sir John Madjeski demütig, aber er sei nun mal ein fantastischer junger Spieler, der Begehrlichkeiten wecke.
Kurzum: "Er war einer der feinsten Kerle, die in meiner 20-jährigen Amtszeit das Reading-Trikot trugen." Den Eindruck bestätigte Sigurdsson prompt selbst, da er sich höchstpersönlich mit einem rührenden Abschiedsbrief auf der Vereinshomepage gebührend von den Fans verabschiedete.
"Sig! Sig! The Sig's on fire!"
Dabei kannte Sigurdsson bis vor einem Jahr genau genommen kein Mensch. Im zarten Alter von 15 Jahren war Gylfi aus Reykjavik ausgezogen, um Fußballprofi zu werden. Reading, in der Grafschaft Berkshire westlich von London gelegen, erschienen ihm und seinem Vater Siggy (sic!) dafür geeignet.
"Es war zu Beginn sehr hart für mich", sagt Sigurdsson über seine Anfänge auf der Insel, "aber für meinen Traum vom Fußball-Profi-Dasein war es unerlässlich, Island zu verlassen. Es schien mir ein notwendiges Übel zu sein."
In Reading hatte er das Glück, dass mit Brynjar Gunnarsson und Ivar Ingimarsson bereits zwei Isländer in der ersten Mannschaft aktiv waren, die den Jungspund fortan unter ihre Fittiche nahmen. "Die beiden haben mir auf und abseits des Platzes wirklich sehr geholfen", sagt Sigurdsson.
Nach zwei Ausleihen an die unterklassigen Klubs Shrewsbury Town (2008) und Crew Alexandra (2009) gelang ihm im vergangenen Jahr der Durchbruch in Readings erster Mannschaft. Vor der Saison hatte ihn noch niemand auf dem Zettel gehabt, am Ende der Spielzeit skandierte das gesamte Madejski Stadium: "Sig! Sig! The Sig's on fire!"
Elfmetergrüße aus Liverpool
Vor allem seine Fähigkeit, aus großer Ferne mit gewaltigen Rechtsschüssen Tore zu erzielen und die Präzision seiner Freistöße ließen auf der Insel aufhorchen. Außerdem erwies sich der Isländer trotz seines jungen Alters als tödlicher Elfmeterschütze - landestypisch unterkühlt eben.
"Wir haben klar gesagt, dass wir einen Spieler suchen, der nachgewiesen hat, dass er torgefährlich ist - das hat er eindrucksvoll", lobt Rangnick. "Er ist ein Spezialist für Standards. Seine Ecken und Freistöße kann man mit Sejad Salihovic vergleichen."
Endgültig ins Bewusstsein der englischen Fußballfans schoss sich Sigurdsson in der 3. Runde des letztjährigen FA-Cups. Dem haushohen Favoriten FC Liverpool trotzte Reading im Januar ein 1:1 ab, nur um die Reds elf Tage später an der Anfield Road mit einem 2:1-Sieg nach Verlängerung zu demütigen.
Sigurdsson verwandelte dabei in der 92. Minute einen Elfmeter zum 1:1 - vor einer Wand von Liverpool-Fans. Die Saison schloss er letztlich mit 21 Toren in 44 Pflichtspielen ab.
Arsenal hatte ihn auf dem Zettel
"Gylfi hatte schon immer eine ganz spezielle Klasse am Ball, er ist technisch sehr gut", berichtet Ex-Mitspieler und Kumpel Alex Pearce über seinen Freund. "Er arbeitet hart, legt nach dem Training Extraschichten ein. Wir alle wussten schon lange, dass er eine große Karriere vor sich hat - auch wenn er damals mit 15, als er bei uns ankam, wirklich ein verdammt schüchterner Junge war."
Dass er nun in Hoffenheim spielt und nicht bei den Top-Klubs der Premier League, ist eigentlich nur dem passenden Timing geschuldet. Viele englische Erstligaklubs schreckten vor der hohen Ablösesumme für einen Zweitligaspieler zurück, andere hatten keine Verwendung für einen "Grenzgänger zwischen Sturm und Mittelfeld" (Rangnick)."Ich habe letzte Woche mit dem Chefscout von Arsenal gesprochen. Sie hatten ihn auch auf dem Zettel, haben aber zum Glück gerade keinen Spieler für diese Position gesucht", erklärt der Hoffenheim-Coach.
Rangnick selbst hatte sich zuvor den exklusiven Rat des Ex-Stuttgarters und -Berliners Jolly Sverrisson eingeholt, der die isländische U 21 trainiert (Sverrissons Sohn Holmar Örn spielt ebenfalls in der U 21) und offenbar in höchsten Tönen von Sigurdsson schwärmte.
"Englands Verlust ist für Deutschland ein Gewinn"
"Wir sind sehr zufrieden. Gylfi ist noch jung. Von der Mentalität gibt es gar keine Probleme mit Isländern. Sie haben eine wunderbare Mentalität, sind Wikinger. Und die Sprache wird auch kein Problem sein, wenn man sieht, wie gut er Englisch spricht", sagt Rangnick vorfreudig und geht davon aus, dass er bereits in "drei oder vier Monaten" Interviews auf Deutsch geben kann.
Wo Sigurdsson in Hoffenheims Team spielen soll, beantwortete er bereits selbst: am liebsten hinter den Spitzen. "Das ist die Rolle, die mir am besten liegt. Aber ich kann auch auf anderen Positionen im Mittelfeld spielen", sagte der 20-Jährige. "Die Hauptsache ist, dass ich spiele."
In Reading hat man jedenfalls keine Zweifel, dass sich der Isländer in der Bundesliga durchsetzen wird. "Ich werde seine Entwicklung aufmerksam verfolgen", sagte Reading-Coach Brian McDermott, der unverhohlen zugab, zusammen mit Sigurdssons Vater einige Tränen vergossen zu haben.
"Gylfi ist nicht nur ein fantastischer Spieler, sondern auch ein fabelhafter Mensch", urteilt McDermott und meint abschließend beinahe staatstragend: "Englands Verlust ist für Deutschland ein Gewinn."