Sven Ulreich zögerte beim Blick auf sein Handy lange. Das Display zeigte eine ihm unbekannte Nummer an, für gewöhnlich geht er dann wie viele seiner Berufskollegen nicht ran.
Nach ein paar Sekunden nahm er doch noch ab. Am anderen Ende sprach Robert Enke. Ulreich und der VfB Stuttgart hatten ein paar Stunden davor bei Bayer Leverkusen mit 0:3 verloren. Ein herber Dämpfer für die Stuttgarter Jagd nach einem UEFA-Cup-Platz.
In der Sportschau hatte Enke die Partie gesehen und sich mächtig geärgert. Über die Art, wie seinem Kollegen Ulreich die Niederlage angekreidet wurde. Bei den ersten beiden Leverkusener Toren sah er unglücklich aus, ein eindeutiger Fehler war aber nicht zu erkennen.
Gespräch mit Enke gibt Ulreich viel
Dass ihn der damalige Trainer Armin Veh dann auch noch öffentlich kritisierte und als Hauptschuldigen der Pleite abstempelte, gab Ulreich erstmal den Rest. Bis sich plötzlich Robert Enke meldete.
Beide hatten sich zwei Wochen davor zum ersten Mal überhaupt gesehen, der VfB holte bei Hannover 96 ein 0:0, Ulreich hielt solide. Nach dem Spiel wechselten beide ein paar Takte, dann verlor Ulreich den elf Jahre älteren Enke schnell wieder aus den Augen.
Er habe keinen Fehler gemacht, solle sich nicht verrückt machen lassen von der harten Kritik, gab ihm der Nationaltorhüter jetzt mit auf den Weg. Es war kein langes Gespräch zwischen den beiden, aber für Ulreich doch so eindringlich und nachhaltig, dass er bis heute noch beinahe ehrfurchtsvoll daran zurückdenkt.
Oggersheim statt Bayern
Ein 19-Jähriger kann an so etwas leicht zerbrechen. Veh nahm Ulreich wieder aus dem Tor. Dabei hatte der Trainer im Nachwuchstorhüter doch den Weg aus der Malaise mit Raphael Schäfer gesehen, der sich seine erste und auch letzte Saison bei den Schwaben längst selbst verbaut hatte.
Jetzt ließ ihn Veh fallen. So tief sogar, dass die Übergangs-Nummer-1 plötzlich nur noch die Nummer drei war, hinter Schäfer und auch Alexander Stolz. Das hieß dann wieder Oggersheim oder Pfullendorf statt Bayern oder Schalke.
"Ich habe gleich gelernt, wie hart das Geschäft sein kann. Das war damals schwierig zu verarbeiten", sagt Ulreich im Rückblick. "Aber das hat mich nur noch stärker gemacht. Ich konnte aus der damaligen Situation einige wichtige Schlüsse für meine weitere Karriere ziehen."
Eine Rote Karte bringt neue Einsätze
Seine Zeit in der Bundesliga schien vorbei, noch ehe sie richtig begonnen hatte. Elf Spiele durfte er für den VfB machen, am letzten Spieltag der Saison 2007/08 musste ihn Veh nochmals bringen. Es war der Abschluss einer wechselhaften Saison. Dann kam lange Zeit nichts.
"Diese Phase war sicherlich nicht ganz einfach für mich, die Leistungen der gesamten Mannschaft waren nicht wie erhofft. Dementsprechend wechselhaft waren die Leistungen der gesamten Defensive, auch meine."
In der folgenden Saison war Jens Lehmann die neue Stammkraft im VfB-Tor, Ulreich absolvierte kein einziges Spiel in der ersten Mannschaft. Dafür aber 36 bei der U 23. Erst Lehmanns Ausraster gegen Aristide Bance und die resultierende Rote Karte für den Routinier spülte ihn plötzlich wieder zurück ins Becken Bundesliga.
"Ein junger Torwart braucht Vertrauen"
Ulreich zeigte sehr vernünftige Leistungen, der VfB holte aus vier Spielen zehn Punkte. Vor allem aber hatte er sich als zuverlässig erwiesen und bereit dafür, einen nächsten Anlauf zu wagen.
Vielleicht ist es ein Charakteristikum von Ulreichs Karriere, dass auch Christian Gross ähnlich wie Veh, nicht so restlos überzeugt war vom jetzt 22-Jährigen. Vor der Saison erwählte der Schweizer seinen Nachwuchstorhüter zögerlich zur Stammkraft - aus Gross' Worten waren immer wieder Zweifel zu hören, ob der junge Ulreich die Chance würde nutzen und das zaghafte Vertrauen würde rechtfertigen können.
"Sicher macht ein junger Torwart auch Fehler. Aber er braucht das Vertrauen. Und er muss Erfahrungen sammeln. Nur so kann er sich entwickeln", ist seine Meinung. Aber das Vertrauen wurde früh in der Saison schon wieder attackiert.
Fixpunkt in einer Mannschaft ohne gelebte Hierarchie
Der obligatorische Katastrophen-Start der Mannschaft stellte die Weichen schnell auf höchste Alarmstufe. Ulreich hatte in etlichen Spielen dazu das Pech, dass gleich der erste gegnerische Torschuss unhaltbar im Netz landete. Ein gefährlicher Cocktail, der Ulle dieses Mal aber nichts anhaben konnte.
Im Gegenteil: In den wilden Stuttgarter Wochen und Monaten ist Ulreich längst ein Fixpunkt geworden in einer Mannschaft ohne gelebte Hierarchie.
Innerhalb kurzer Zeit hat sich der Torhüter im internen Ranking seinen Platz erobert. Da ist, gerade für die letzte Instanz beim Fußball, eine wichtige Komponente. Er dirigiert jetzt mehr und lautstärker, das gesteigerte Selbstbewusstsein ist förmlich greifbar.
Ulreich außerhalb jeder Diskussion
Im DFB-Pokalspiel beim Chemnitzer FC waren es Ulreichs Paraden, die den VfB gegen einen Viertligisten überhaupt im Spiel hielten, in der Europa League hat er erst einen Gegentreffer kassiert. Nur in der Bundesliga läuft es mal wieder nicht.
Der VfB hat den drittbesten Angriff, aber eben auch die drittschlechteste Abwehr der Liga. 27 Gegentore sind nicht wegzudiskutieren, zwangsläufig fällt die Diskussion da zurück auf den Torhüter. Und hier endet sie abrupt. Weil Ulreich außerhalb jeder Diskussion steht."Meine Macke ist, dass ich keine Macke habe"
Sein Torhüterspiel strahlt schon längst Souveränität aus. Auf der Linie und im Eins-gegen-eins war er schon immer reaktionsschnell, "von Jens Lehmann habe ich mir einiges abgeschaut, etwa das Herauslaufen bei Flanken und das Mitspielen hinter der Abwehr", sagt er.
"Vielleicht ist meine Macke, dass ich keine Macke habe. Ich mag es abseits des Fußballplatzes gerne ruhig und unaufgeregt." Kein Bling-Bling an den Ohren, keine Skandälchen, kein Abheben. Einfach nur der Sven. Der mit dem Stallgeruch. Der seit der E-Jugend für den VfB Stuttgart aufläuft.
Auch das ist ein wichtiges Kriterium in den schweren Zeiten, die der Klub derzeit durchläuft. Spieler wie Sven Ulreich sind dann mehr als Angestellte des Vereins. Sie stiften Identifikation und geben Zuversicht.
Sven Ulreich im Steckbrief