Er steht im Tor, im Tor, im Tor, und Hoek dahinter - so spielt sich das tagtäglich an der Säbener Straße ab. Während die Torwartübungen laufen, parkt sich der Torwarttrainer des FC Bayern, Frans Hoek, meist in unmittelbarer Nähe des Torhüters hinter der Kiste.
Läuft etwas schief, greift der 54-jährige Niederländer sofort ein. "Geh' ein Stück vor", schallt es dann über den Platz. "Ein Stück nach links. Nach links!", schreit Hoek und der Torwart gehorcht. Es fehlt eigentlich nur der Joystick in der Hand.
Schon nach einer Halbserie ist klar, dass Hoek eine intensive Bindung zu seinen Torhütern Thomas Kraft, Jörg Butt und Rouwen Sattelmaier aufgebaut hat. "Er schaut auf alles und sieht alles", sagt Kraft ehrfürchtig.
Und ausgerechnet der nun ins zweite Glied versetzte Butt outete sich in der Hinrunde gegenüber SPOX als großer Hoek-Fan: "Schon 1995, als ich meine Profikarriere begann und Hoek Torwarttrainer in Amsterdam war, war ich von der Ajax-Spielweise sehr angetan."
Van Gaal vertraut Hoek seit zwei Jahrzehnten
Um zu verstehen, welch großen Einfluss Frans Hoek in punkto Torhüter auf Louis van Gaal hat, schaut man sich am besten ein prägendes Zitat der niederländischen Spieler- und Trainer-Legende Johan Cruyff an.
"Als Trainer einer Spitzenmannschaft kann man unmöglich Fachmann für alle Bereiche sein", sagt Cruyff. "Die Kunst liegt darin, für die Bereiche, in denen man weniger Ahnung hat, ein Team der besten Spezialisten um sich zu scharen."
Dieses Prinzip hat van Gaal von Cruyff übernommen. Wenn man nun bedenkt, dass Hoek seit den frühen neunziger Jahren für van Gaal die Koryphäe des Torhüterwesens ist, muss man kein Hellseher sein, um zu erahnen, welch großen Anteil der Torwarttrainer an der aktuellen Entscheidung, Kraft ins Bayern-Tor zu stellen, hat.
"Butt hat alles gut gemacht, aber Kraft ist besser geworden und ich denke, wir kommen mit Kraft weiter", sagte van Gaal am Mittwoch. In Wirklichkeit sprach aber Hoek.
Hoek: Trainer, Dozent, Buchautor
Es ist jedenfalls kein großes Geheimnis, dass van Gaal dem Urteil seines Torwart-Fachmanns seit zwei Jahrzehnten blind vertraut - vor allem, wenn es um Talente geht.
Beide arbeiteten bereits gemeinsam für Ajax Amsterdam (91-97), später auch für den FC Barcelona (97-00, 02-03). Beide machten in der gemeinsamen Zeit zwei zum jeweiligen Zeitpunkt völlig unbekannte junge Torhüter namens Edwin van der Sar (Ajax) und Victor Valdes (Barca) gegen alle Widerstände zur Nummer eins.
Hoek gilt als Vorreiter einer speziellen Videoanalyse für Torhüter, die sich genau mit den Stärken und Schwächen des nächsten Gegners befasst.
Bereits in den neunziger Jahren ist Hoek auf der ganzen Welt ein gefragter Dozent für Demonstrationstrainings. Er erarbeitet zusammen mit dem niederländischen Fußball-Verband KNBV spezielle Torhüterkurse und verfasst zwei Bücher über Torhüter - sein Buch "Torwarttraining" gilt heute noch als Fach-Bibel für Torwarttrainer vom Amateur- bis in den Profi-Bereich.
"Van der Sar könnte fast überall Libero spielen"
Vor allem mit dem Aufbau von van der Sar von einem No-Name zum wohl weltbesten spielenden Torhüter setzte Hoek bereits vor über 18 Jahren neue Maßstäbe.
"Edwin war für die damalige Zeit wahrlich nicht der Prototyp eines Torhüters", meint der Torwarttrainer im Rückblick. "Uns aber geht es stets um die Frage, welchen Typ Torhüter ein Team braucht - und Edwin war damals perfekt für unsere Spielweise."
Van der Sar war 1989 mit 18 Jahren als Torhüter Nummer vier zu Ajax gekommen, nur um drei Jahre später Stanley Menzo unter van Gaal als Nummer eins abzulösen. Hoek habe van der Sar "gemacht", betont er gerne. Einen ähnlichen Werdegang legte später auch Victor Valdes hin und nun vielleicht auch Thomas Kraft.
Was man wissen muss: Van Gaal teilt mit Hoek die Ansicht, dass der Torwart gleichsam auch letzter Feldspieler ist. "Der könnte bei fast jedem Bundesligisten Libero spielen", staunte Klaus Toppmöller einst nicht schlecht über den "Fußballer" van der Sar.
Torhüter ist die Rückendeckung für die Abwehrspieler
Für van Gaal und Hoek ist nicht etwa die Innenverteidigung Ausgangspunkt eines idealtypischen Angriffs, sondern der Torwart. Dementsprechend muss die Nummer eins unter van Gaal im Idealfall über überdurchschnittliche fußballerische Qualitäten verfügen, sowie präzise und vorausschauend das Spiel einleiten können.
Wichtig ist auch eine entsprechende - im Bayern-Fall offensivere - Positionierung im Strafraum. "Mit Rückpässen wird der Torwart genutzt, um das Spiel zu verlagern oder um sich aus Drucksituationen zu befreien", doziert Hoek.
"Unsere Verteidigung spielt mehr nach vorne als andere Mannschaften. Und wir spielen hinten auch viel eins gegen eins. Der Torhüter ist deswegen die Rückendeckung für die Abwehrspieler." Daran ist auch Hoeks spezielle Trainingsmethodik orientiert, da sie sich immer an konkreten Spielsituationen orientiert.
Die Zukunft des Torwartspiels?
"Er wird nie einfach so ein paar Bälle aufs Tor schießen lassen. Ganz oft werden andere Spieler in das Torhütertraining einbezogen. Frans übernimmt dann die Führung der Spielergruppe, so dass das Torhütertraining im Grunde innerhalb des Mannschaftstrainings stattfindet", wird van der Sar im "Fachbuch Fußballkondition" zitiert.
"In Hoeks Philosophie ist der Torwart nicht isoliert, sondern in die gesamte Mannschaftstaktik integriert", pflichtet ihm Butt bei. "Dabei geht es nicht darum, nur den Torhüter zu trainieren, sondern den gesamten Defensivverbund. Er versucht immer, eine gute Abstimmung zwischen Keeper und Abwehr zu schaffen."
Butt weiter: "Daher spricht er viel mit den Abwehrspielern und lässt entsprechend trainieren. Der Torwart muss in die Mannschaftstaktik eingebunden werden, das ist die Zukunft des Fußballs."
Hoeks Problem mit Kahn
In diesem Kontext ist auch eine Anekdote aus dem Jahr 2006 zu sehen. Als damals der Kampf zwischen Jens Lehmann und Oliver Kahn um die Nummer eins im deutschen Tor tobte, schlug sich Hoek eindeutig auf die Seite von Lehmann.
Nicht etwa, weil er diesen für den besseren Torhüter hielt, sondern einfach nur für geeigneter, die Spiel-Philosophie von DFB-Teamchef Jürgen Klinsmann umzusetzen.
"Wenn Klinsmann die Abwehr nach vorne rücken lassen will, dann braucht er einen anderen Torhüter als Oliver Kahn", sagte der Torhüter-Fachmann damals. Mit der Abwehr nahe am Tor sei Kahn ohne Frage einer der besten der Welt, argumentierte Hoek, "aber wenn die Viererkette die Räume eng macht, ist das nicht seine Stärke".
Nun birgt es durchaus eine gewisse Ironie, dass der ehemalige Kahn-Kritiker Hoek seit 2009 beim Ex-Arbeitgeber des Titans als Torwarttrainer angestellt ist. Doch Hoek war eben nie für Konformität zu haben, sondern verfolgt seit Jahrzehnten eine klare Philosophie, wenn es um Torhüter geht.
"Block Zement mit großem Charisma"
Hoek unterscheidet in diesem Kontext zwischen einem Reaktionstorhüter und einem Antizipationstorhüter, ganz nach van der Sars Vorbild. Den Reaktionstorhüter, wie es Kahn war oder Tim Wiese ist, zeichnen meist spektakuläre Paraden auf der Linie, eine beeindruckende physische Erscheinungsform und halsbrecherischer Mut aus.
Diese Art Torwart ist meist aber spielerisch limitiert und mangelhaft in der Strafraumbeherrschung. Als einen "Block Zement mit großem Charisma" bezeichnete Hoek den typischen Reaktionskeeper einst.
Der Antizipationstorhüter hingegen vereint mehrere Fähigkeiten auf sich, auch wenn er vielleicht seltener so genannte unhaltbare Bälle aus dem Winkel taucht: Neben Spielintelligenz sind vor allem Schnelligkeit, Beidfüßigkeit und perfekte Abwürfe bzw. Pässe gefragt.
Der Grundgedanke: Ein Antizipationskeeper soll Spielsituationen frühzeitig erkennen und darauf richtig reagieren können. "Beim Training trichterte er uns ein, dass wir immer so lange wie möglich auf den Beinen bleiben müssen. Er findet, dass man nur dann nach einem Ball hechten sollte, wenn dies unerlässlich ist", erklärt van der Sar.
Genauso ist Hoek ein Feind des Abschlags, denn der lange Ball, aus der Hand geschlagen, kann selten hundertprozentig genau ausgeführt werden.
Hat Hoek dazu gelernt?
Gemeinsam mit van Gaal macht Hoek bei seiner Torhüterwahl auch nicht vor unpopulären Entscheidungen halt. Beim FC Barcelona balgten sich anno 2002 eigentlich Robert Enke, zuvor Kapitän von Benfica Lissabon, und der argentinische Nationaltorhüter Roberto Bonano um den Platz im Tor. Hoek und van Gaal entschieden sich aber für den erst 20-jährigen Victor Valdes, die designierte Nummer drei.
Ein Aufschrei ging durch Barcelona, auch weil die Trainer den Torhütern fortwährend ihren Erfolg mit van der Sar unter die Nase rieben.
"Ständig erzählten sie uns von Edwin van der Sar. Van der Sar macht dies, und van der Sar macht das", wird ein entnervter Bonano in der Robert-Enke-Biografie "Ein allzu kurzes Leben" von Ronald Reng zitiert, in dem Hoek nicht unbedingt als verständnisvoller Menschenfreund rüber kommt.
Dem widersprach Butt allerdings bereits vor einigen Monaten vehement und suggerierte, dass Hoek in den letzten Jahren in punkto Einfühlungsvermögen dazu gelernt habe. "Er ist ein sehr offener Mensch, immer gut gelaunt", sagte Butt. "Man hat auch nicht das Gefühl, dass seine Philosophie in Stein gemeißelt ist. Vielmehr versucht er, zu überzeugen und Dinge gemeinsam zu erarbeiten. Er ist ein sehr offener, wissbegieriger Mensch, der sich auch weiterentwickeln will."
Und auch, wenn es Butt nicht schmecken wird: Mit Thomas Kraft hat Hoek nun wieder einen jungen Keeper, den er ganz nach seinen Vorstellungen formen kann. Als Freifahrtschein sollte der 22-Jährige die Berufung zur Nummer eins jedoch nicht sehen. Als Victor Valdes vor neun Jahren seine Nerven nicht in den Griff bekam und öfter patzte, griffen van Gaal und Hoek nach 17 Spielen doch wieder auf den erfahrenen Bonano zurück.