SPOX: Sie sagten vor einigen Wochen, dass Ihr Trainer Thomas Tuchel immer wüsste, was in Ihnen vorgeht und wie Sie ticken würden. Das wäre auch der Grund, warum Sie noch in Mainz spielen. Was sind Sie denn für ein Mensch?
Jan Kirchhoff: Im Privatleben bin ich das Gegenteil von aufregend. Ich bin aufgeschlossen, von Fußball abgesehen habe ich aber keine besonders hervorstechenden Interessen. Bei mir geht vieles den gewohnten Gang. Ich bin daher auch niemand, der mal einfach so seine Meinung ändert oder leicht vom Gegenteil zu überzeugen ist. Thomas Tuchel kennt mich da sehr genau. Es ist wahrscheinlich keine leichte Aufgabe, gewisse Routinen und Überzeugungen bei mir aufzubrechen.
SPOX: Was meinen Sie?
Kirchhoff: Ich fühle mich oft ertappt von ihm. Er beobachtet mich ganz genau und spricht Defizite immer direkt an, wenn er ein Fehlverhalten bei mir erkennt. Beispielsweise, wenn ich wie in Wolfsburg nicht den nötigen Kampfeswillen ausstrahle. Das fällt mir selbst nicht auf, dafür aber Thomas Tuchel.
SPOX: Die Unterredungen zeugen davon, welches Potenzial Tuchel in Ihnen sieht. Sie seien trotz der Größe von 1,95 Meter ein begnadeter Techniker und daher wie gemacht für das defensive Mittelfeld. Sie selbst sehen sich als Innenverteidiger. Warum?
Kirchhoff: Ich fühle mich in der Innenverteidigung einfach wohler. Es stimmt, dass ich für einen Defensivspieler über ein sauberes Passspiel und eine gute Ballannahme verfüge. Es gibt dennoch unzählige Zehner und Sechser, die eine viel bessere Technik mitbringen als ich.
SPOX: Mit Ihrer Vielseitigkeit entsprechen Sie dem Ideal eines modernen Abwehrspielers. Beobachten Sie bewusst, wie Dortmunds Mats Hummels als Innenverteidiger sich ins Mittelfeld vorschiebt oder Barcelona zwischen einem 4-3-3- und 3-4-3 switcht, um sich selbst zu verbessern?
Kirchhoff: Ich vergleiche mich schon mit Spielern auf meiner Position wie eben Hummels. Bei ihm ist es auffälliger als bei allen anderen, wie sich das Innenverteidiger-Spiel verändert hat. Barcelona hingegen habe ich noch nicht so unter die Lupe genommen, doch der Trend zu einer Dreier-Abwehrkette ist auch in der Bundesliga zu erkennen. Viele Teams spielen mit Außenverteidigern, die sehr hoch stehen und bei Ballbesitz fast zu Flügelstürmern werden. Dann rückt ein Sechser häufig in die Abwehr, so dass eine Dreier-Abwehrkette entsteht. Dieses Wechselspiel zwischen der Sechs und der Innenverteidigung entspricht meiner Art des Fußballs.
SPOX: Sie gehören heute zu den hoffnungsvollsten Abwehr-Talenten Deutschlands, dabei mussten sie vor zwei Jahren wegen einer Achillessehnenverletzung eine komplette Saison aussetzen. Selbst über ein Karriereende wurde spekuliert. Haben Sie den jetzigen Erfolg je für möglich gehalten?
Kirchhoff: Die Pause tat mir insofern gut, weil ich die Zeit nutzen konnte, um meine Freundschaften zu pflegen und mein Abitur zu machen. So hatte ich eine Sicherheit, wenn es mit der Profikarriere nicht geklappt hätte. Es war trotz allem eine sehr schwere Zeit. In einigen Phasen habe ich mich gefragt: Warum quäle ich mich durch, wenn nichts mehr Spaß macht? Doch am Ende hat sich immer der Optimist in mir durchgesetzt.
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SPOX: Sie müssen in der Tat ein von Grund auf optimistischer Mensch sein angesichts der unzähligen Rückschläge in Ihrem Leben. Es fing bereits in der C-Jugend an, als Sie bei Ihrem Stammverein Eintracht Frankfurt mehr oder weniger aussortiert wurden.
Kirchhoff: Ich war in der Eintracht immer einer der Besseren, dann kam in der C-Jugend der Bruch, als ich verletzungsbedingt ein dreiviertel Jahr pausieren musste. Danach habe ich den Anschluss komplett verloren und war von da an bis zum Weggang nach Mainz nur noch Ersatzspieler. Mir wurde immer gesagt, dass ich fußballerisch eine super Qualität mitbringe würde, dafür die körperlichen Defizite zu groß seien.
SPOX: War es denn so?
Kirchhoff: Ja, mir fehlte es an allem: Kraft, Kondition, Schnelligkeit, es hat von vorne bis hinten nicht gereicht. Ich habe versucht, daran zu arbeiten, aber mit Extra-Einheiten konnte ich den Rückstand nicht aufholen. Es war deprimierend zu erkennen, dass ich an meine Grenzen ging - und immer noch allen anderen hoffnungslos unterlegen war. Diese Eindrücke haben sich in mein Gehirn eingebrannt.
Hier geht's zu Teil II: Kirchhoff über die Parallelen zu Lewis Holtby und Thomas Tuchels Veränderung