Aus der Heimat weggejagt und sich selbst überschätzt: Jan Kirchhoff musste etliche Krisen überstehen. Heute ist er U-21-Nationalspieler und beim FSV Mainzt 05 einer der Lieblingsspieler von Trainer Thomas Tuchel. Der ungewöhnliche Weg des 21-Jährigen.
SPOX: Sie sagten vor einigen Wochen, dass Ihr Trainer Thomas Tuchel immer wüsste, was in Ihnen vorgeht und wie Sie ticken würden. Das wäre auch der Grund, warum Sie noch in Mainz spielen. Was sind Sie denn für ein Mensch?
Jan Kirchhoff: Im Privatleben bin ich das Gegenteil von aufregend. Ich bin aufgeschlossen, von Fußball abgesehen habe ich aber keine besonders hervorstechenden Interessen. Bei mir geht vieles den gewohnten Gang. Ich bin daher auch niemand, der mal einfach so seine Meinung ändert oder leicht vom Gegenteil zu überzeugen ist. Thomas Tuchel kennt mich da sehr genau. Es ist wahrscheinlich keine leichte Aufgabe, gewisse Routinen und Überzeugungen bei mir aufzubrechen.
SPOX: Was meinen Sie?
Kirchhoff: Ich fühle mich oft ertappt von ihm. Er beobachtet mich ganz genau und spricht Defizite immer direkt an, wenn er ein Fehlverhalten bei mir erkennt. Beispielsweise, wenn ich wie in Wolfsburg nicht den nötigen Kampfeswillen ausstrahle. Das fällt mir selbst nicht auf, dafür aber Thomas Tuchel.
SPOX: Die Unterredungen zeugen davon, welches Potenzial Tuchel in Ihnen sieht. Sie seien trotz der Größe von 1,95 Meter ein begnadeter Techniker und daher wie gemacht für das defensive Mittelfeld. Sie selbst sehen sich als Innenverteidiger. Warum?
Kirchhoff: Ich fühle mich in der Innenverteidigung einfach wohler. Es stimmt, dass ich für einen Defensivspieler über ein sauberes Passspiel und eine gute Ballannahme verfüge. Es gibt dennoch unzählige Zehner und Sechser, die eine viel bessere Technik mitbringen als ich.
SPOX: Mit Ihrer Vielseitigkeit entsprechen Sie dem Ideal eines modernen Abwehrspielers. Beobachten Sie bewusst, wie Dortmunds Mats Hummels als Innenverteidiger sich ins Mittelfeld vorschiebt oder Barcelona zwischen einem 4-3-3- und 3-4-3 switcht, um sich selbst zu verbessern?
Kirchhoff: Ich vergleiche mich schon mit Spielern auf meiner Position wie eben Hummels. Bei ihm ist es auffälliger als bei allen anderen, wie sich das Innenverteidiger-Spiel verändert hat. Barcelona hingegen habe ich noch nicht so unter die Lupe genommen, doch der Trend zu einer Dreier-Abwehrkette ist auch in der Bundesliga zu erkennen. Viele Teams spielen mit Außenverteidigern, die sehr hoch stehen und bei Ballbesitz fast zu Flügelstürmern werden. Dann rückt ein Sechser häufig in die Abwehr, so dass eine Dreier-Abwehrkette entsteht. Dieses Wechselspiel zwischen der Sechs und der Innenverteidigung entspricht meiner Art des Fußballs.
SPOX: Sie gehören heute zu den hoffnungsvollsten Abwehr-Talenten Deutschlands, dabei mussten sie vor zwei Jahren wegen einer Achillessehnenverletzung eine komplette Saison aussetzen. Selbst über ein Karriereende wurde spekuliert. Haben Sie den jetzigen Erfolg je für möglich gehalten?
Kirchhoff: Die Pause tat mir insofern gut, weil ich die Zeit nutzen konnte, um meine Freundschaften zu pflegen und mein Abitur zu machen. So hatte ich eine Sicherheit, wenn es mit der Profikarriere nicht geklappt hätte. Es war trotz allem eine sehr schwere Zeit. In einigen Phasen habe ich mich gefragt: Warum quäle ich mich durch, wenn nichts mehr Spaß macht? Doch am Ende hat sich immer der Optimist in mir durchgesetzt.
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SPOX: Sie müssen in der Tat ein von Grund auf optimistischer Mensch sein angesichts der unzähligen Rückschläge in Ihrem Leben. Es fing bereits in der C-Jugend an, als Sie bei Ihrem Stammverein Eintracht Frankfurt mehr oder weniger aussortiert wurden.
Kirchhoff: Ich war in der Eintracht immer einer der Besseren, dann kam in der C-Jugend der Bruch, als ich verletzungsbedingt ein dreiviertel Jahr pausieren musste. Danach habe ich den Anschluss komplett verloren und war von da an bis zum Weggang nach Mainz nur noch Ersatzspieler. Mir wurde immer gesagt, dass ich fußballerisch eine super Qualität mitbringe würde, dafür die körperlichen Defizite zu groß seien.
SPOX: War es denn so?
Kirchhoff: Ja, mir fehlte es an allem: Kraft, Kondition, Schnelligkeit, es hat von vorne bis hinten nicht gereicht. Ich habe versucht, daran zu arbeiten, aber mit Extra-Einheiten konnte ich den Rückstand nicht aufholen. Es war deprimierend zu erkennen, dass ich an meine Grenzen ging - und immer noch allen anderen hoffnungslos unterlegen war. Diese Eindrücke haben sich in mein Gehirn eingebrannt.
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SPOX: Bereits unzählige Talente vor und nach Ihnen wurden von Frankfurt nicht angemessen gefördert. Sind Sie nachtragend?
Kirchhoff: Es tat sehr weh, dass einen der Heimatverein einfach so abgibt. Dennoch will ich den Verein nicht verdammen. So was passiert im Fußball häufig genug, auch Lewis Holtby wurde in der Jugend von Mönchengladbach weggeschickt und ist jetzt Nationalspieler. Daher sehe ich es selbst nicht als Schande an, aussortiert worden zu sein. Ich freue mich eher über den glücklichen Zufall, dass ich zur A-Jugend nach Mainz wechseln konnte.
SPOX: Dort gewannen Sie gemeinsam mit Tuchel gleich die deutsche A-Jugend-Meisterschaft - mit einem Finalerfolg über Dortmund, das Mario Götze in den Reihen hatte.
Kirchhoff: Unsere Stärken waren der riesige Zusammenhalt und die einzigartige Stimmung in der Mannschaft. Andre Schürrle gehörte zu den Stützen, auf der Sechs übernahm Konstantin Fring eine herausragende Rolle. Andere Jungs hatten wiederum unglaubliche Hochphasen wie Velibor Velemir oder Christoph Sauter, der später zu Nürnberg ging und jetzt in Aalen spielt.
SPOX: Nach dem Triumph fielen Sie jedoch in ein Loch. Erst die einjährige Pause, dann enttäuschten Sie bei Ihrem Comeback in der zweiten Mannschaft des FSV.
Kirchhoff: Es stimmt, ich habe wirklich schlecht gespielt. Ich bin immer ins Spiel mit dem Gedanken gegangen: "Ich muss etwas Besonderes machen, ich muss der Beste sein, ich muss herausstechen!" Das war eine Form des überhöhten Selbstanspruchs, die gleichzeitig dazu führte, elementare Tugenden des Fußballs zu vernachlässigen. Ich vergaß, dass man auch in der Regionalliga mit Einsatz und Intensität vorangehen muss, stattdessen habe ich alles zu locker genommen. Dafür habe ich die Quittung kassiert.
SPOX: Haben Sie eine Erklärung für Ihr Verhalten?
Kirchhoff: Ich war aus der Jugend gewohnt, mich aufgrund meiner fußballerischen Anlagen durchsetzen zu können. Deswegen musste ich lernen, dass im Profibereich, auch bei der zweiten Mannschaft, Verbissenheit und die Bereitschaft zur hundertprozentigen Arbeit die wichtigsten Eigenschaften sind. Mittlerweile versuche ich in jedem Spiel Aggressivität vorzuleben: Der Gegner soll auch durch meine Präsenz Respekt bekommen. Es ist ein Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist.
SPOX: Sie hatten in der Jugend eine eher brave Frisur, jetzt setzen Sie auf einen markanten Haarschnitt und Dreitagebart. Zufall - oder wollen Sie auch optisch Kanten zeigen?
Kirchhoff: Es war keine bewusste Entscheidung, es ist mehr ein Zeichen meiner grundsätzlichen Entwicklung als Mensch. Drei Jahre klingen für ältere Menschen nicht lang, mir hingegen kommen diese drei Jahre, seit ich die neue Frisur habe, vor wie ein halbes Leben. Mit 18 war ich noch ein halbes Kind, mit 21 bin ich auf dem Weg zu einem Erwachsenen.
SPOX: Wie zogen Sie sich aus dem Tief im Vorjahr?
Kirchhoff: Es ging eher schleichend vonstatten. Familie, Freunde, mein Berater Roger Wittmann: Ich habe mich fast jede Woche einmal mit engen Vertrauten zusammengesetzt und mir den festen Vorsatz formuliert, dass ich in jede Trainingseinheit mit vollem Einsatz gehen muss. Ich konnte es nicht sofort umsetzen und ich war nicht unbedingt leicht im Umgang, aber nach drei, vier Monaten wurde es immer besser.
SPOX: Wie wichtig war Tuchel bei Ihrer Entwicklung?
Kirchhoff: Mir war es vor allem wichtig, dass er mir häufig ins Gesicht gesagt hat, woran es noch hapert. Dass meine Leistungen in der U 23, egal ob im Training oder im Spiel, nicht gut genug waren. Er hat mir den Spiegel vorgehalten.
SPOX: Hat sich Tuchel seit der A-Jugend-Meisterschaft 2009 verändert?
Kirchhoff: Die Öffentlichkeit will es nicht wahrhaben, doch er ist sogar ruhiger geworden. Vielleicht kommt der gegenteilige Eindruck auf, weil er wegen der hohen Lautstärke in den Stadien so rumbrüllen muss, um uns Anweisungen zu geben. In der A-Jugend waren so wenige Zuschauer, dass man ohnehin jeden Ruf gehört hat, in der Bundesliga kommt hingegen nur ein Drittel an.
SPOX: Es droht nicht die Gefahr, dass sich Tuchel wie viele junge Trainer vor ihm abnutzt?
Kirchhoff: Ganz im Gegenteil: Es gibt Trainertypen, die vor allem nur über die Motivationsschiene kommen und sich tatsächlich abnutzen. Thomas Tuchel kann ebenfalls emotionalisieren, bei ihm steckt aber mehr dahinter. Er bringt eine solche Kompetenz und inhaltliche Tiefe mit, dass er immer faszinierend bleibt und neue Impulse setzt. Er ist einfach ein toller Trainer.
Jan Kirchhoff im Steckbrief