"Haltet lieber die Klappe und hört zu"

Haruka Gruber
18. Juli 201220:36
Jones mit SPOX-Chefreporter Haruka Gruber und S04-Pressesprecherin Katrin Herbstreit (M.)spox
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Er bezeichnet sich selbst als "Arschloch" und teilt gerne aus - mit Tacklings und Sprüchen. Dabei steckt in Schalke-Star Jermaine Jones mehr als ein Rabauke. Der 30-Jährige über den Massage-Ärger mit Torsten Kracht und das Leben als Mentor.

SPOX: Eines Ihrer bekanntesten Zitate lautet: "Als Mannschaft brauchst du ein Arschloch auf dem Platz." Ist das die zentrale Lehre für die deutsche Nationalmannschaft nach dem EM-Aus gegen Italien?

Jermaine Jones: Ich möchte nicht zu sehr auf den deutschen Spielern herumhacken. Sie haben bei der EM gute Leistungen gezeigt. Insgesamt hat sich die Nationalmannschaft in den letzten Jahren weiterentwickelt und spielt einen guten Ball. Aber leider hat sie im entscheidenden Moment gegen Italien geschwächelt. Vielleicht fehlt wirklich ein "Schweinehund". Man kann es als Trainer immer von zwei Seiten sehen. Auf Schalke sagt Huub Stevens, dass er einen solchen Spieler braucht. Die Bayern hingegen verfolgen offenbar einen anderen Weg.

SPOX: Wie meinen Sie das?

Jones: Früher hatten die Bayern immer einen oder mehrere "harte Hunde" auf dem Platz. Damals sagten wir uns in der Kabine, wenn es gegen die Bayern geht: "Oh nein, jetzt warten Kahn, Jeremies und Effenberg auf uns. Hoffentlich schaffen wir ein 0:0." Selbst ein 0:2 stellte uns noch zufrieden. Mittlerweile ist es komplett anders. Die Bayern kommen und die Gegner sagen sich: "Ja okay, warum nicht die Bayern? Wir können gewinnen!" Die Angst ist einfach nicht mehr da. Das trifft vor allem zu, wenn Ribery und Robben nicht spielen können. Den Bayern fehlen die Persönlichkeiten.

SPOX: Spricht so der zukünftige Kapitän von Schalke?

Jones: Ich finde es lustig: Früher war ich der Buhmann der Nation, heute werde ich ins Kapitänsamt reingeschrieben. Ich hatte die Binde schon in Frankfurt und auf Schalke unter Fred Rutten, daher weiß ich, dass das Amt keine Belastung für mich bedeutet. Wenn der Trainer mir das Vertrauen schenkt, würde ich dem Wunsch natürlich nachkommen. Ich möchte gleichzeitig betonen, dass ich keinerlei Druck ausüben will. Ich warte entspannt ab, was passiert.

SPOX: Sie sind ohnehin einer der Anführer des Teams. Lewis Holtby betont, wie wichtig Sie ihm als Mentor sind.

Jones: Es geht nicht nur um Lewis. Julian, Joel und Papa sind ebenfalls riesige Talente, die zukünftig extrem große Erfolge feiern werden, wenn sie auf dem Boden bleiben und sich ihre Fehler eingestehen. Ich sagte zu Lewis: "In Mainz hast du eine super Saison gespielt, auf Schalke geht es dennoch bei null los." Mir erging es ähnlich, als ich damals von Frankfurt nach Leverkusen gewechselt war. Nur, dass ich damals den falschen Weg gegangen bin und auf wichtige Ratschläge nicht gehört habe. Das soll Lewis nicht passieren. Daher sage ich den Jungs: "Haltet lieber einmal mehr die Klappe und hört zu." Mich freut es sehr, dass sie meine Tipps annehmen.

SPOX: Bei Julian Draxler hinterließen Sie gleich nachhaltigen Eindruck. Bei seinem ersten Profitraining überhaupt gingen Sie gegen ihn hart in den Zweikampf, "nur um gleich mal die Unterschiede zwischen Senioren- und Juniorenbereich zu verdeutlichen", wie Sie sagten. Erging es Ihnen als jungen Spieler ähnlich?

Jones: Natürlich. Ich wurde in Frankfurt von Felix Magath zu den Profis hochgezogen. In eine Mannschaft mit Leuten wie Torsten Kracht und Alex Kutschera. Da kam es nicht unbedingt gut an, als ich mit der Einstellung ums Eck kam: "Ich bin ein Frankfurter Junge mit Profi-Vertrag, dem die Welt zu Füßen liegt." Ich musste genau wie alle anderen Nachwuchsspieler das Tor tragen und die Bälle einsammeln. Selbst wenn du zwei-, dreimal gelaufen warst, half dir kein älterer Spieler. Im Vergleich zu damals geht es jetzt komplett anders zu. Es ist viel lockerer.

SPOX: Woran machen Sie es fest?

Jones: Ich erzähle mal eine Geschichte: Eines Tages, ich war noch in Frankfurt, ging ich mittags zur Massage. Der Physio meinte nur, dass eigentlich Torsten Kracht dran wäre. Ich antwortete: "Er ist gar nicht da, kann ich nicht vorgeschoben werden?" Der Physio: "In Ordnung, mach schnell." Ich ziehe mich also aus und liege vielleicht 15 Minuten auf der Massagebank, als Torsten reinkommt, mich nur abschätzig anschaut und dem Physio irgendetwas zuflüstert. Der Physio zu mir: "Jermaine, du musst verschwinden!" Also verzog ich mich, obwohl ich nur meine Unterhose anhatte, und wartete 45 Minuten, bis Torsten endlich fertig war und ich zurückkehren durfte. So waren die Zeiten.

SPOX: Sind Sie der Torsten Kracht der Gegenwart?

Jones: Nein, nein. Allerdings mache ich mir manchmal einen Spaß. Wenn ich in den Massageraum gehe und Julian schon behandelt wird, schreie ich: "Geh' runter!" Oder im Mannschaftsbus: "Jule, ich will einen Kaffee, besorg' mir einen!"

SPOX: Und Draxler macht das?

Jones: Er lacht zwar, trotzdem guckt er ein bisschen unsicher, weil er nicht genau weiß, ob ich das vielleicht ernst meine. Leider kann ich die ernste Miene nicht so lange durchziehen und muss schon lachen, bevor er mir wirklich einen Kaffee holen würde.

SPOX: Was auffällt: Sie spielten in Frankfurt mit zahlreichen Supertalenten. Baldo Di Gregorio, Daniyel Cimen, Christopher Reinhard, Christoph Preuß, Albert Streit: Sie alle galten im Juniorenbereich als zukünftige Nationalspieler. Doch Sie sind der einzige "Überlebende" im Profifußball. Warum?

Jones: Das ist mir noch nie aufgefallen. Wenn ich so darüber nachdenke: Vielleicht kam mir mein Kampfwille zugute. Ich habe mich nie unterkriegen lassen oder mich aufgegeben. Auch als wegen der schweren Verletzungen zweimal das Karriereaus drohte und kaum jemand mehr an mich glaubte, wusste ich, dass ich es schaffe. Wobei mir klar ist, dass Glück eine Rolle spielt. Von damals habe ich mit Christoph Preuß noch einen sehr guten Freund. Zuletzt hatten wir uns gemailt - und da kam ich angesichts der Invalidität von Christoph schon ins Grübeln. Wahnsinn, wie schnell alles im Fußball vorbei sein kann.

Hier geht's zu Teil II: Jones über seine kuriose Gelb-Wette und den Clash mit Neymar

SPOX: Ihre Karriere wird geprägt von Verletzungen - und der Diskussion, ob man Sie wegen der harten Spielweise verabscheuen soll. Werden Sie sich jemals ändern?

Jones: Als Spieler werde ich mich nicht ändern. Dennoch möchte ich versuchen, weniger Gelbe Karten zu sehen. Wegen des Themas habe ich zuletzt mit Sportvorstand Horst Heldt gesprochen und ihm gesagt, dass ich in der nächsten Saison nicht mehr als fünf Gelbe Karten bekommen will. Daraufhin hat er mir die Wette vorgeschlagen. Wir haben zwar keinen Einsatz ausgemacht, am Ende wird aber der Verlierer der Wette für den guten Zweck etwas spenden. Ich bin sicher, dass ich nicht der Verlierer sein werde. (lacht)

SPOX: Sie sahen alleine im Vorjahr in 20 Spielen 14 Gelbe Karten. Wie soll das gelingen?

Jones: Ich muss cleverer sein. Es ist nun mal so, dass ich häufig für die gleichen Fouls Gelb sehe, die bei anderen nicht geahndet werden. Ich will die Schiedsrichter nicht attackieren, sie machen nur ihren Job. Womöglich möchten sie mich nur ruhigstellen. Ich muss lernen, damit umzugehen. Außerdem werde ich mich anders verhalten: Ich bin auf der Sechser-Position in vielen Szenen der letzte Mann vor der Viererkette, vor allem wenn die Offensivspieler nicht nach hinten mitarbeiten und Konter unterbinden. Dadurch komme ich gelegentlich in die Zwangslage, ein taktisches Foul zu begehen, wofür ich Gelb bekomme. Vielleicht muss ich hier cleverer sein und das Laufduell suchen, statt sofort zur Grätsche runterzugehen. In der Bundesliga gibt es nur wenige Spieler, die so schnell sind, dass sie mir weglaufen können.

SPOX: Die Gelben Karten sind das eine, Ihre Frustfouls wie das gegen Marco Reus im Dezember das andere. Ihr Ruf litt derart unter der Tätlichkeit, dass selbst Ihre Kinder angefeindet wurden. Wie bewerten Sie die Vorfälle im Rückblick?

Jones: Was mich unglaublich gestört hat: Ich habe mich sofort entschuldigt und zugegeben, dass die Aktion von mir überhaupt nicht in Ordnung war . Ich fand es nur eine Frechheit, wie eine Zeitung das Thema extrem gepusht und für mich die Höchststrafe gefordert hat. Die Journalisten hätten mich zurecht als Fußballer kritisieren können. Es ging jedoch nicht an, dass man mich als Menschen beleidigt. Ich wurde als falsch und link dargestellt. Das haben meine Kinder gelesen und mich gefragt, warum so etwas über mich geschrieben wird und ob das stimmt. Welcher Vater will so etwas hören? Wie schon gesagt, das Foul war alles andere als gut, aber es sollte auch berücksichtigt werden, dass ich in meiner Karriere noch nie mit einer glatten Roten Karte vom Platz geflogen bin. Ist das die Bilanz eines schlechten Menschen?

SPOX: Sie wurden ebenfalls in Ihrer zweiten Heimat USA kritisch beäugt. Wie ist die Wahrnehmung jetzt?

Jones: Die Geschichte mit Marco Reus schwappte natürlich rüber nach Amerika. Und als mich wenige Wochen später Jürgen Klinsmann zum Kapitän der Nationalmannschaft ernannte, gab es viel Empörung, wie man einem wie mir die Binde geben könnte. Dabei wurde vergessen, dass ich zu dem Zeitpunkt der einzige Europa-Legionäre war und wir beide Spiele mit mir als Kapitän gewonnen haben. Mittlerweile wird gesehen, dass ich fußballerisch wertvoll bin und von der Mannschaft respektiert werde. Deshalb sind meine Sympathiewerte in den USA wohl deutlich gestiegen.

SPOX: Nach dem Testspiel gegen Brasilien Ende Mai, das 1:4 verloren wurde, sagte Klinsmann: "Vielleicht sind wir zu naiv, vielleicht wollen wir den Gegner nicht wehtun. Dabei ist es genau das, was wir machen müssen: Dem Gegner auf die Zehen treten und sie frustrieren." Braucht Amerika mehr Spieler wie Jermaine Jones?

Jones: Das war eine Botschaft an die gesamte Mannschaft. Eine Art Weckruf. Die US-Mannschaft ist wirklich talentiert mit vielen Spielern, die überall in Europa unter Vertrag stehen. Uns muss bei aller Qualität klar sein, dass wir trotzdem nicht mit den Brasilianern Tiki-Taka spielen können. Vielmehr geht es darum, dass wir den Schweinehund herauskehren. Wir wollen den Gegner nicht verletzten, aber mal den Fuß draufhalten, um zu zeigen: "Das ist unser Stadion! Das ist unser Zuhause! Und wir lassen uns nicht zum Affen machen!"

SPOX: Sie gingen mit dieser Attitüde voran und fegten Brasiliens Superstar Neymar an der Mittellinie weg.

Jones: Obwohl es der Schiedsrichter als Foul bewertet hat - es war keins. Die Aktion war hart und sauber, ich traf vorher den Ball und dann erst Neymar. So hat er es auch gesehen. Neymar kann nicht gut Englisch, dennoch sprachen wir kurz und er meinte nur: "No foul, no foul."

SPOX: Für Klinsmann zählen Sie zu den Stützen des US-Teams. Wie amerikanisch fühlen Sie mittlerweile? Was kaum jemand weiß: Sie lebten als Kind in Chicago und im dörflichen Greenwood, Mississippi.

Jones: Ich weiß gar nicht, wo das mit Chicago herkommt, das ist falsch. Mein Vater war in Deutschland als Soldat stationiert und heiratete meine deutsche Mutter. Kurz nach meiner Geburt zog die Familie erst für eine kurze Zeit nach New York zur Tante, daraufhin ging es gleich weiter nach Mississippi, wo die meisten Verwandten meines Vaters leben. Da blieben wir sechs, sieben Jahre, bis sich meine Eltern trennten und ich mit meiner Mutter nach Deutschland zurückkehrte. Damals konnte ich nur Englisch und kein Deutsch. Ich fühlte mich schon als Kind eher amerikanisch als deutsch.

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SPOX: Es ist allerdings richtig, dass Sie sich erst zum US-Team bekennen, seit Sie keine Perspektive beim DFB sehen?

Jones: Nein, das ist falsch. Ich wollte schon als junger Spieler für die USA spielen, nur damals war es juristisch nicht möglich, weil ich Pflichtspiel-Einsätze für die deutsche U 21 hatte. Daher konzentrierte ich mich darauf, es in die deutsche A-Nationalmannschaft zu schaffen, was mir gelang. Als sich jedoch die FIFA-Regelung änderte und ich plötzlich zu den USA wechseln durfte, gab ich sofort meine Zusage.

SPOX: Ihr erstes Länderspiel-Tor gegen Jamaika im Sommer 2011 bejubelten Sie mit einem militärischen Salut. Was steckte dahinter?

Jones: Ich wollte damit meinen Vater grüßen, der lange bei der US-Army war. Ich hatte nach der Scheidung der Eltern lange keinen Kontakt zu ihm, aber seit einiger Zeit hat sich das geändert und er kam damals mit der gesamten Familie zum Spiel nach Washington. Ich sagte ihm vor dem Anpfiff, dass ich salutieren würde, sollte ich ausnahmsweise ein Tor schießen. Er lachte nur und freute mich umso mehr, als es tatsächlich so kam.

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