Ein englischer Überlebenskünstler: Michael Mancienne kam vom FC Chelsea und durchstand Formkrisen, Trainerwechsel und ein Survival Camp. Jetzt ist der 24-Jährige gefragt als Hamburgs neuer Abwehrboss. Mancienne über anfängliche Schüchternheit und Nationalelf-Ambitionen.
SPOX: Sie hatten bereits letztes Jahr die Vorbereitung in der Bundesliga mit dem Drill in der Armee verglichen. Kommt es Ihnen in diesem Sommer ähnlich hart vor?
Michael Mancienne: Nicht nur ähnlich hart, es ist viel, viel tougher. Einen wie Fitness-Trainer Nikola Vidovic kannte ich vorher nicht. Aber genau so einen brauchen wir, um in Form zu kommen. Wir wissen nach dem letzten Jahr, wie wichtig es ist, richtig in eine Saison zu starten. Es geht darum, schon vorher Opferbereitschaft zu zeigen. Von daher sehe ich nicht einmal etwas ansatzweise Negatives an der Vorbereitung - obwohl ich todmüde bin. (lacht)
SPOX: Wie fanden Sie das Survival-Training in Schweden?
Mancienne: Ich hatte so etwas noch nie gemacht. Es war eine tolle Erfahrung.
SPOX: Ganz ehrlich? Sie sollen nicht unbedingt ein Naturbursche sein.
spoxMancienne: Okay, nicht alles war toll. Ich bin in London aufgewachsen und habe noch nie längere Zeit in der Wildnis verbracht. Daher wusste ich nicht, wie es ist, nicht immer Essen zu haben und nicht in die Dusche oder auf die Toilette gehen zu können, wann immer man will. Stattdessen musste man im wahrsten Sinne des Wortes in die Natur, um sich zu erleichtern. Es war trotzdem wirklich okay und bringt uns vor allem als Mannschaft zusammen. Das ist mir sehr wichtig.
SPOX: Sie sprechen wie ein Leader. Genau die Rolle, für die Thorsten Fink Sie vorgesehen hat. Wie sehr freuen Sie sich über die positiven Aussagen des Trainers?
Mancienne: Es gab positive Aussagen? Das wusste ich gar nicht. Ich bin noch dabei, Deutsch zu lernen, und verstehe daher keine deutschen Berichte. Ich sollte wohl noch schneller lernen, um die Artikel lesen zu können. (lacht) Ich weiß natürlich, dass mich der Trainer schätzt und mir eine wichtige Rolle zutraut. Das gibt mir sehr viel Selbstvertrauen. Ich werde mich für den Coach zerreißen!
SPOX: Ihre Wandlung hin zum Anführer ist erstaunlich: Sie hatten sich vor einem Jahr zu einem für einen Engländer ungewöhnlichen Wechsel nach Deutschland entschlossen - und landeten auf der Bank und wurden als Mitschuldiger für die Krise ausgemacht. Wie ist die Wandlung zu erklären?
Mancienne: Vielleicht hängt es damit zusammen, dass ich mich mittlerweile hier heimisch fühle. Ich verhalte mich auch entspannter in der Kabine, am Anfang war ich etwas zurückhaltend. Jetzt kenne ich die Spieler, ich kenne die Mitarbeiter. Es sind alles gute Menschen. Das weiß ich jetzt und kann mich besser öffnen.
SPOX: So einfach?
Mancienne: Einfach war es überhaupt nicht. Ich musste mental stark sein, um die Zeit zu überstehen. Mir hat in der Phase meine Lebenseinstellung geholfen: kämpfen, kämpfen, kämpfen! Jeder Gegner will dir den Sieg wegnehmen und jeder Profi will dir den Vertrag und den Stammplatz wegnehmen. Ich bin es gewohnt, mit Widerständen klarzukommen.
SPOX: Sie formulierten vor einem Jahr folgendes Ziel: "Ich will zu einem der besten Abwehrspieler Deutschlands werden." Wen nehmen Sie sich als Vorbild?
Mancienne: Jerome Boateng gefällt mir sehr gut. Richtig überragend finde ich Mats Hummels. Ich bewundere ihn und habe ihn bei der EM sehr genau beobachtet.
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SPOX: In der Vorsaison mussten Sie gelegentlich im Mittelfeld aushelfen, Fink hingegen plant nun mit Ihnen auf der bevorzugten Position in der Innenverteidigung. Zeigt das die veränderte Bedeutung von Ihnen?
Mancienne: Definitiv. Ich spüre Vertrauen in meine Fähigkeiten. Das war nicht immer so.
SPOX: Sie sollen die Mannschaft mit anführen. Welche Lehren ziehen Sie aus dem Prügel-Skandal um Ihren langjährigen Mitspieler Slobodan Rajkovic?
Mancienne: Ganz ehrlich: Wir haben nicht geahnt, wie viel Frust offenbar in ihm steckt. Wenn ich gewusst hätte, was in ihm brodelt, hätte ich vielleicht intervenieren können. Weil wir es nicht wussten, konnten wir es nicht verhindern. Es ist ein schwieriges Thema, weil ich ihn seit langem kenne.
SPOX: Fink bemängelt, dass sich die Medien zu sehr auf die Negativmeldungen beim HSV fokussieren würden. Wie schneidet die deutsche Journaille zur englischen ab?
Mancienne: Soweit ich es einschätzen kann, erkenne ich keine großen Unterschiede. Die Medien sind grundsätzlich sehr tough, aber das ist auch ihr Job, um Storys zu produzieren. Ich komme damit klar.
SPOX: Ist die Bundesliga in England medial ein Thema?
Mancienne: Die Bundesliga ist ein "big thing" in England. Es hilft, dass die Bayern ins Finale der Champions League eingezogen sind oder dass die deutsche Nationalmannschaft so gut spielt und so viele Talente entwickelt. Das fällt in England jedem auf.
SPOX: Das heißt: Wenn Sie in Hamburg überzeugen, würde das beim englischen Verband nicht unbeachtet bleiben?
Mancienne: Ich glaube an die Nationalmannschaft. Entscheidend ist, dass ich mich voll auf Hamburg konzentriere. Wenn ich konstant und gut in der Bundesliga spiele, wird sich automatisch etwas ergeben.
SPOX: John Terry und Rio Ferdinand hinterlassen eine Vakanz.
Mancienne: Ich weiß. Es werden sich Möglichkeiten ergeben.
SPOX: Mit einem Wechsel zurück nach England würden sich Ihre Chancen womöglich erhöhen. Zweitligist Wolverhampton, trainiert von Stale Solbakken und mit Ambitionen auf die Premier League, soll fünf Millionen Euro für Sie geboten haben. War das verlockend?
Mancienne: Ich liebe den HSV, die Fans, die gesamte Stadt. Jeder ist gut zu mir. Daher fühle ich mich Hamburg moralisch verpflichtet. Ich wäre sogar in die Zweite Liga mitgegangen, wenn wir letztes Jahr abgestiegen wären. Warum sollte ich also wechseln?
Michael Mancienne im Steckbrief