Dieser Artikel erschien erstmals am 28. September 2012.
Berlin, 18. Juni 1922, 17 Uhr. 27 Grad, die Luft über dem Berliner Grunewaldstadion drückt, nachdem es erst kurz zuvor aufgehört hat zu regnen. 30.000 Zuschauer haben zum Endspiel um die Deutsche Fußballmeisterschaft den Weg ins Stadion gefunden, als der spätere DFB-Präsident und frühere Stürmer des Kölner FC, Peco Bauwens, das bis heute längste Endspiel der Fußball-Geschichte zwischen dem 1. FC Nürnberg und dem Hamburger SV anpfeift.
Die Rothosen sind an diesem Abend krasser Außenseiter, obwohl sie in der im Halbfinale den FC Wacker München mit 4:0 nach Hause schickten. "Als wäre eine Welt untergegangen, so schockierte dieses Ergebnis den Süden", schrieb der Journalist Peter Korf 1956 im Sport-Magazin.
Trotz dieses Ergebnisse hat in Nürnberg keiner Angst vor dem Finale. Probleme gibt es beim Club eigentlich nicht an sportlicher, sondern an finanzieller Stelle. Der Stadionausbau hat viel Geld gekostet. Vor dem Halbfinale absolviert Nürnberg noch ein Testspiel bei Eintracht Frankfurt, zu dem aber nur 7000 Zuschauer kommen.
Schienbeinbruch vor dem Endspiel
Die ärgerliche Konsequenz: Nationalspieler Hans Kalb bricht sich das Schienbein, auch der begnadete Mittelläufer Hans Sutor verletzt sich. Letzterer wird rechtzeitig wieder fit und komplettiert die Elf um Luitpold Popp, Heiner Träg und den legendären Torhüter Heiner Stuhlfauth, der sich bei seinen Abwehrspielern schon mal beschwerte, wenn ihm während des Spiel zu langweilig wurde. "Lasst sie doch mal durch!" hört man von heutigen Weltklassetorhütern jedenfalls eher selten.
Zu wenig hatte der Nürnberger Torwart im Endspiel keinesfalls zu tun. Schon in der 19. Minute schießt der Teenager Hans Rave die erst drei Jahre zuvor aus drei Hamburger Vereinen zusammengewürfelte Mannschaft in Führung.
Ein Affront gegen die überlegenen Nürnberger. Träg schnappt sich direkt nach dem Anstoß das Leder, marschiert allein durch die gesamte HSV-Hintermannschaft und egalisiert den Spielstand postwendend aus drei Metern.
Torwart über die Linie gerannt - kein Tor
Nachdem Popp in der 30. Minute schließlich aus zwanzig Metern zur Führung einnetzt, fordern die Nürnberger wenige Minuten später sogar das 3:1. Doch Schiedsrichter Bauwens entscheidet auf Foulspiel, weil Träg den HSV-Keeper Hans-Joachim Martens mit Ball einfach über die Linie rennt.
Bauwens fällt in der Folge eine entscheidende Rolle zu. Das Spiel wird nach der Halbzeit immer härter. "Immer verbitterter, härter, unschöner und verworrener wird das Spiel", schreibt das Sport Magazin.
So unterbricht der Referee die Partie nach der zehnten Verletzungsunterbrechung und fordert die Spieler auf, sich des Fair-Play-Gedankens zu besinnen.
Hamburgs einziger Nationalspieler Otto "Tull" Harder, der nach dem Zweiten Weltkrieg wegen seiner Zeit als KZ-Aufseher zu 15 Jahren Haft verurteilt wird, versteht den Appell offensichtlich nicht ganz und rammt seinem Gegenspieler Anton Kugler die Faust "unabsichtlich, aber fürchterlich" mitten ins Gesicht.
Vier bis fünf Zähne bleiben in Berlin
Vier Zähne, manche Quellen sprechen von fünf, verliert der Nürnberger, was einen anonymen Zeitzeugen Jahre später immer noch nicht kalt lässt: "Im Geiste sehe ich den Kugler Toni, wie er einen Zahn um den andern auf die geweihte, blutgetränkte brandenburgische Erde spotzt."
Die kompakt stehenden Hamburger versuchen mit ihrem Husarenstil derweil immer wieder überfallartig die Nürnberger zu überraschen, bis Hans Flohr vier Minuten vor Schluss zum Ausgleich für den HSV trifft. Der Endstand.
Zweimal gibt es anschließend Verlängerung, bis Bauwens nach 140 gespielten Minuten abpfeift. 19 Mal mussten Sanitäter bisher verletzte oder entkräftete Spieler vom Platz tragen. Immer noch ist kein Tor gefallen und das Elfmeterschießen wurde noch nicht erfunden.
Es fällt kein Tor, sondern Schiedsrichter Bauwens
Erbarmen gibt es nicht: Bauwens pfeift wieder an. Lange bevor Oliver Bierhoff im Wembley-Stadion das Golden-Goal gegen Tschechien erzielte, soll nun das nächste Tor über die Deutsche Meisterschaft entscheiden. Allein: Das Tor fällt nicht, sondern der Schiedsrichter.
Nach 165 Minuten bricht Bauwens von Wadenkrämpfen geplagt mitten auf dem Platz zusammen. Der Unparteiische stemmt sich wieder hoch und pfeift das Spiel nach kurzer Pause wieder an. Kein Erbarmen.
Kurze Zeit später aber ist das Spiel dann doch vorbei. Ohne Sieger. Nachdem die Zuschauer schon minutenlang "Aufhören!" skandieren, hat Bauwens schließlich doch ein Einsehen und bricht nach 189 gespielten Minuten ab. Der Grund: Es ist fast dunkel und Fluchtlicht gibt es nicht.
Als der junge Sportjournalist vom kampfbetonten Spiel euphorisiert auf Stuhlfauth zu rennt und ihn fragt, ob es morgen weitergehe, blafft der Nürnberger Torwart ihn vor versammelter Mannschaft an: "Sie sänn gwieß närrisch, Herr Schödel!" Die Entscheidung muss also an einem anderen Tag fallen