Zu Jahresbeginn war Ilkay Gündogan plötzlich einsam. Durch den Weggang von Ivan Perisic hat der Nationalspieler nach Shinji Kagawa den nächsten Nachbarn verloren. Die Wohnungen der drei befanden sich im selben Haus, ständig hing man miteinander ab. Ob Robert Lewandowski auch in diesem Gebäude wohne, wurde Gündogan kürzlich gefragt. Nein, den vergraule er nicht, sagte Gündogan mit einem Schmunzeln.
Nun ist also nur noch Gündogan übrig. Es ist spekulativ, doch wäre die aktuelle Wohnsituation bereits Ende 2011 eingetreten, vielleicht hätte sie Gündogan in seiner damaligen Lage noch ein Stückchen weiter verunsichert. Damals, zwischen dem 11. und 14. Spieltag der vergangenen Saison, durchlebte der heute 22-Jährige "die bislang schwerste Zeit" seiner Karriere. "Als ich zwei Mal auf der Tribüne saß, habe ich mir schon meine Gedanken gemacht", sagt Gündogan über die Phase, in der die Fußstapfen von Vorgänger Nuri Sahin noch deutlich zu groß für ihn waren.
Gündogans grandioses Jahr 2012
Es ist mittlerweile beinahe schon eine Art Tradition, dass sich Neuzugänge in ihrem ersten Jahr beim BVB schwer tun. Die Umstellungen vor allem auf die defensivtaktischen Anforderungen, die Trainer Jürgen Klopp an seine Belegschaft stellt, um die nötige Balance im Dortmunder Gebilde nicht zu gefährden, haben auch schon anderen für eine gewisse Zeit Kopfzerbrechen bereitet.
Auch Gündogan grübelte. Ihm fiel es sichtlich schwer, die vakante Rolle des Taktgebers im Spiel der Borussia zu erfüllen. Die mit seinem Ballgeschiebe einhergehende Verschleppung des Tempos war Gift für Dortmunds Suche nach Struktur. Mats Hummels übernahm die spielerische Komponente in der Folge, Gündogan fand sich plötzlich nicht einmal mehr im 18er-Kader wieder.
Etwas mehr als ein Jahr ist seitdem vergangen. Sahin ist wieder zurück in Dortmund. Doch während sich die Öffentlichkeit an dessen Rückkehr oder dem kongenialen Duo Marco Reus und Mario Götze labt, ist die Explosion von Gündogans Form die eigentliche Sensation beim BVB. 2012 schoss er durch die Decke: Stammspieler und Doublesieger in Dortmund, EM-Teilnehmer für die deutsche Nationalmannschaft.
"Red' doch mal mehr mit uns!"
Diese Rasanz kam natürlich auch für ihn überraschend. Doch Gündogan war schon immer klar genug im Kopf, um positive wie negative Ausschläge in seiner sportlichen Laufbahn sachlich einzuordnen. Was beeindruckt: Er braucht dazu keine aufmunternde Entourage aus Freunden oder Schulterklopfern, Gündogans höchstes Gericht ist er selbst.
"Ich mache das mit mir selbst aus. Ich mag es nicht, über solche Gefühle und Gedanken zu reden, auch über die positiven nicht. Ich bin da eher introvertiert und muss das nicht loswerden, auch nicht in der Familie. Meine Familie sagt immer: Red' doch mal mehr mit uns! Ruf' uns doch mal an! Ich fresse das lieber in mich hinein", gibt er zu.
Bei der Arbeit geht das nur bedingt, Gündogan und der Coach standen in ständigem Austausch. So sehr, dass ihn Gündogan bereits als "Vaterfigur" bezeichnete. "Jürgen Klopp hat mir damit geholfen, als er mich aus dem Kader genommen hat und ich auf der Tribüne saß, das habe ich nicht als negativ empfunden. Es war gut, dass der Druck mal weg war. Deswegen waren mir die Gespräche mit dem Trainer wichtig. Ich kann mich erinnern, dass wir auch das eine oder andere Gespräch geführt haben, wo ich zielgerichtet auf den Trainer zugegangen bin. Deshalb habe ich mein Spiel im vergangenen Jahr enorm entwickelt."
Gündogan, der Systemfresser
Der Begriff "enorm" ist dabei fast noch untertrieben. Gündogan hat nun "unser System gefressen", wie Klopp sagt. Er meint damit in erster Linie den Dreiklang aus Balleroberung in der Defensive, zügiges Umschaltverhalten auf Offensive und der nötigen Präsenz, der es auf dieser Position bedarf.
Gündogan hat die Umstellung auf Dortmunds Philosophie gepackt und zehrt im Bewusstsein dessen seitdem von einer ordentlichen Menge Selbstvertrauen und Sicherheit in seinen Aktionen. Tempovariationen, Spielverlagerungen, Schnittstellenpässe - Gündogan ist mittlerweile Dortmunds wichtigster Spieler.Das geht auch aus der Statistik hervor: Bei vier von neun Bundesligapartien, die die Borussia in dieser Saison nicht gewann, fehlte Gündogan (2:3 gegen Hamburg, 1:1 gegen Hannover, 1:2 gegen Schalke, 1:1 gegen Düsseldorf). Und damit fehlte einer, der das Spiel ordnen und beruhigen kann.
Offensiver dank Sahin-Rückkehr?
Bereits im Vorjahr war der Aufschrei groß, als Gündogan beim Stande von 2:0 gegen den VfB Stuttgart das Feld verließ, zwölf Minuten später hatte sich der bis dato souverän agierende BVB drei Gegentore gefangen.
"Wir wussten, dass wir einen Rohdiamanten bekommen. Er hat einen Riesenschritt gemacht, seitdem er bei uns ist. Er ist ein ganz wichtiger Spieler, unsere Schaltzentrale. Seine Balleroberung ist richtig gut, sein Passspiel toll. Illy kann unterschiedlichste Positionen spielen. Ich könnte noch eine halbe Stunde über ihn weiter reden", freut sich Klopp.
Interessant ist in der aktuellen Phase besonders Klopps Aussage hinsichtlich Gündogans Variabilität. Das Dortmunder Trainerteam beschäftigt sich derzeit mit den positionsbezogenen Möglichkeiten, die der Sahin-Transfer für die anderen Sechser eröffnet. Gerade Moritz Leitner und Gündogan, die von ihrem Spielernaturell her eher den Weg in die gegnerische Hälfte suchen, können dank Sahin bei Bedarf nun für offensivere Positionen freigemacht werden.
Fester Bestandteil des DFB-Teams
Bei einigen Auswechslungen schob Klopp Gündogan bereits für ein paar Minuten auf die Zehnerposition vor, auch im Winter-Trainingslager testete er den 22-Jährigen auf diesem Gebiet und scheint nicht abgeneigt, diese Karte öfter zu spielen - auch, um Sahins Integration weiter voranzutreiben, ohne dafür großartig umbauen oder das System auf ein 4-3-3 abändern zu müssen.
Es müsste jedoch einiges passieren, dass Klopp in naher Zukunft freiwillig auf Gündogan als Mann vor der Abwehr verzichtet. Gündogans Anwesenheit ist für die Borussia so wichtig geworden, dass Klopp gar nicht auf ihn verzichten kann. Er hat Sven Bender den Titel des Unverzichtbaren streitig gemacht, den dieser in den Vorjahren von Klopp übergestülpt bekam. Für Sahin werden andere weichen müssen.
Gündogans Entwicklung hat nicht nur Bundestrainer Joachim Löw Rechnung getragen, indem er ihn seit der EM zu jedem Länderspiel eingeladen hat. Auch mit Vereinen aus England und Italien wurde er bereits in Verbindung gebracht, die drei großen Istanbuler Klubs sollen ebenfalls schon einmal angerufen haben.
Vertrag bis 2015
Dortmund kann aber vorerst beruhigt bleiben, denn auch wenn Gündogan laut eigener Aussage davon träumt, einmal in Spanien oder England zu kicken, läuft sein Vertrag noch bis 2015. Angesprochen auf die zahlreichen Vertragsverlängerungen der Kollegen sagt er: "Wir haben nicht so die Eile, aber es gibt nichts, was dagegen spricht."
Und in dieser langen Zeit bestünde dann ja auch die Möglichkeit, dass sich wieder der eine oder andere Nachbar aus dem Mannschaftskreis dazu gesellt.
Ilkay Gündogan im Steckbrief