Bremen in der Krise: In Zeiten wie diesen

Stefan Rommel
08. März 201320:21
Thomas Schaafs Vertrag bei Werder Bremen läuft noch bis Juni 2014getty
Werbung
Werbung

Werder Bremen ist auf der Suche nach Identität, Trainer Thomas Schaaf gerät dabei immer mehr in den Fokus der Kritik. Der neue Hoffnungsträger könnte Thomas Eichin werden - dessen Vorgehensweise ist aber noch undurchsichtig. Am Samstag steht für die Hanseaten bei Borussia Mönchengladbach die nächste Bewährungsprobe an (18.15 Uhr im LIVE-TICKER).

Thomas Eichin ist ein gewiefter Krisenmanager. Bei den Kölner Haien musste der 46-Jährige nicht nur einmal um die Existenz des Traditionsklubs kämpfen. In Bremen kämpft man noch nicht um die nackte Existenz, auch wenn einige hartgesottene Pessimisten schon düstere Szenarien zeichnen.

Dass die Lage aber durchaus prekär ist und in den kommenden Wochen noch mehr Fahrt aufnehmen könnte, sollte spätestens nach den blamablen Auftritten in den letzten Partien nun jedem klar sein.

Emotionen contra Fakten

SPOXAm Dienstag also ließ sich Eichin, der seit drei Wochen im Amt ist, zum ersten Mal auf dem Trainingsplatz blicken. Dort führte er längere Diskussionen mit einzelnen Spielern, war danach auch gut 20 Minuten mit Thomas Schaaf im Zwiegespräch.

Aus seiner Zeit in Köln kennt er die Problematik nur zu gut, auf zwei Ebenen gleichzieitig funktionieren zu müssen. Der Kölner liebt seine Stadt und seine Klubs, den FC vielleicht noch ein bisschen mehr als die Haie. Die Demarkationslinien zwischen Leidenschaft und Emotionen auf der einen und harten, nüchternen Fakten auf der anderen Seite verschwimmen aber schnell.

Abstieg in die Mittelklasse

In Bremen ist das in etwa ähnlich. Nur dass sich die emotionalen Debatten um das Wohl und Wehe des Vereins irgendwann immer auf diese eine Person hin zuspitzen: Thomas Schaaf.

Die Bremer haben ihr Handwerk schon immer ein wenig anders verstanden, als es der Rest für gewöhnlich vollbringt. Auch bei Werder ist das seit fast anderthalb Jahrzehnten nur gute Sitte.

Jede Menge Respekt und Anerkennung hat sich Werder damit erarbeitet, bis auf den SC Freiburg mit Volker Finke war kein anderer Profiklub in Deutschland in seinen Personalentscheidungen auf höchster Ebene so stringent.

Nun haben sich die Dinge aber geändert. Der Erfolg früherer Tage ist passe, Werder Bremen droht der Abstieg in die Kategorie Mittelklasse. Wobei die durchaus gefährliche Tabellenkonstellation derzeit sogar noch Schlimmeres vermuten lässt.

Gleichgültigkeit macht sich breit?

Deshalb ist es allmählich auch vorbei mit der genügsamen Stimmung. Die Debatten unter den Anhängern sind in vollem Gange, es formiert sich der (noch stille) Widerstand. Teile der Fans sind mit den derzeitigen Leistungen und dem Stillstand oder sogar Rückschritt der letzten Jahre so gar nicht mehr einverstanden. Als Hauptverantwortlicher rückt deshalb selbst in einem Umfeld wie dem in Bremen nun der Trainer immer mehr in den Blickpunkt.

Dem gegenüber hält sich die Gruppe der Schaaf-Befürworter hartnäckig. Hier ist der Punkt, wo Realität und Träumerei am weitesten voneinander entfernt liegen. Während und nach dem Augsburg-Spiel am vergangenen Wochenende gab es Pfiffe im Weserstadion. Gegen den Trainer. Wenn überhaupt, traf es zuletzt vereinzelte Spieler wie etwa Aaron Hunt vor gut zwei Jahren.

Die große Masse aber blieb stumm - was selbst in Bremen als eher negatives Zeichen aufzufassen ist. Auch in anderen Klubs zeigt sich dieses Phänomen häufiger, etwa beim VfB Stuttgart. Da schlägt Leidenschaft in Gleichgültigkeit um, die Leistungen der Mannschaft werden mit einem Achselzucken hingenommen: Bier noch schnell austrinken und tschüss.

Tabelle lügt nicht

Wie viel davon ist noch hanseatische Gelassenheit, wie viel schon erste Anzeichen eines Burnout der Fans ihrem Klub gegenüber? Hier bleibt genügend Interpretationsspielraum. Die Tabelle aber lügt auch im 50. Jahr der Bundesliga nicht.

Der Verweis auf die Meriten vergangener Tage hält auch in Bremen der Realität nicht mehr stand. Die Mannschaft droht zum dritten Mal in Folge das internationale Geschäft zu verpassen.

Schaaf ist mit dem Weggang von Klaus Allofs der letzte Hinterbliebene der goldenen Ära. Im Hintergrund hat der Klub schon einige clevere Züge getätigt und ehemalige verdiente Spieler installiert. Dazu kommt eine personelle Neuausrichtung bei der Jugendausbildung. Es hat sich einiges getan in den letzten Monaten. Nur einer hält sich standhaft.

Schaaf: Status erarbeitet

Thomas Schaaf hat sich seinen Status in diesem Klub erarbeitet und er hat ihn sich verdient. Selbst seine Kritiker würden das wohl kaum ernsthaft bestreiten wollen.

Trotzdem findet man derzeit eine Mannschaft ohne erkennbare Struktur vor. Begriffe wie Umbruch, Talent oder Potenzial müssten längst auf dem Index stehen, weil sie die Realität verkennen oder schönfärben. Es gibt in der Liga auch Mannschaften mit weniger Talent und geringerem Personalkostenaufwand, die in der Tabelle deutlich vor Werder stehen und mindestens genauso wichtig: schöneren Fußball spielen.

Es hält sich hartnäckig die Mär, dass die Bremer zwar schlecht verteidigen, aber immer noch sehr hübsch und rentabel nach vorne spielen könnten. Diese Hochzeiten sind allerdings auch schon ein paar Jahre her. Zwischen 2004 und 2008 erzielte Werder viermal die meisten Treffer der Liga. Nur 2005 waren die Bayern gefährlicher. Auch das ist mittlerweile schon ein Weilchen her.

Die letzten Spielzeiten waren immer stärker geprägt vom individuellen Können Einzelner, denn vom planvollen Zusammenspiel des Kollektivs. Als Claudio Pizarro in der Hinrunde der letzten Saison noch verlässlich traf, durfte Bremen von der Champions League träumen. Als der Peruaner dann verletzt oder außer Form war oder mit den Gedanken schon in München, war es schnell vorbei mit der Offensivherrlichkeit und Werder spielte die schlechteste Rückrunde aller Zeiten.

Seite 2: Hoffnungsträger Thomas Eichin

Andere Spieler wie Diego, Per Mertesacker, Torsten Frings oder Frank Baumann hielten den Laden auch in den heiklen Phasen noch irgendwie zusammen und waren in den wichtigen Spielen zur Stelle. All das fehlt heute. Dazu kommt das viel zitierte und diskutierte Fehlverhalten in der Defensive, das für Bremen auch schon in früheren Tagen charakteristisch war, vom glanzvollen Offensivspiel aber fast immer überlagert wurde.

Wenn die Verantwortlichen heute den Umbruch ausrufen, müssten sie genau genommen zweieinhalb Jahre zurückgehen. Als Mesut Özil den Klub verließ, bedeutete sein Weggang einen Einschnitt, dem Schaaf in seiner konzeptionellen Ausrichtung bis heute hinterherzuhecheln scheint.

Stillstand der Talente

Probiert hat er seitdem schon nahezu alles, die Spielsystem durcheinandergewürfelt, neues Personal gekauft, getüftelt, verworfen, wieder neu ausgerichtet. Als einzige Konstante hielten sich die eher bescheidenen Ergebnisse.

SPOXWohl kaum zufällig war Özil auch der Letzte, den Schaaf vom hoffnungsvollen Talent zum Star formte. Seitdem scheint er sein Händchen dafür verloren zu haben.

Enorm veranlagte Spieler wie Marko Arnautovic, fußballerisch hinter Franck Ribery und Mario Götze mit der beste Spieler der Bundesliga, Eljero Elia oder Mehmet Ekici stagnieren in ihren Leistungen. Sebastian Prödl ist seit Jahren im Klub und kommt über seinen On-Off-Zustand nicht hinaus, Clemens Fritz hat seine besten Tage hinter sich, Kevin de Bruyne wirkt mehr und mehr launisch, als dass er seine fantastischen Qualitäten im Sinne der Mannschaft einbringt.

"Thomas Schaaf hat viele Spieler geformt, im Moment fällt ihm das vielleicht ein bisschen schwerer", sagt Jürgen L. Born diese Woche. Die Gründe dafür liegen für ihn auch auf der Hand - und sie sind nicht vollumfänglich beim Trainer zu suchen. "Es gibt Spieler, die gut sind, uns aber nicht gehören, und es gibt Spieler, die weg wollen - das sind Tatbestände, die mich sehr nachdenklich stimmen."

Viele Mosaiksteinchen

Dazu gesellt sich eine eher unterdurchschnittliche Transferbilanz, gute Griffe wie Sokratis waren früher an der Tagesordnung. Heute bestätigen sie als Ausnahme die Regel.

Bundesliga Spielplaner - Der Tabellenrechner von SPOX.comUnd die fehlende Durchlässigkeit von Spielern aus dem Nachwuchsbereich - die es dann auch dauerhaft in der Bundesliga packen.

Die vielen kleinen Mosaiksteinchen ergeben das Gesamtbild und Tabellenplatz 14.

Und sie bewegen die Kritiker dazu, den Grat zwischen Loyalität dem verdienten Trainer gegenüber und der vermeintlichen Unvernunft als so schmal wie noch nie zu bezeichnen. Es stellt sich auch die Frage nach dem Sinn: Wofür steht Werder Bremen in diesen Tagen?

Was macht Eichin?

Mitten drin in diesem Durcheinander muss nun Thomas Eichin seine Rolle finden. Er ist schon nach wenigen Tagen zu einem kleinen Hoffnungsträger geworden. Eichin spricht im Gegensatz zum bisweilen sehr verkopft wirkenden Schaaf eine klare Sprache.

Das dürfte allerdings auch in gewissem Maße Kalkül sein. Eichin muss sich erst in Ruhe ein Bild machen - so gut das eben noch geht angesichts des durchaus denkbaren Abstiegskampfs in den kommenden Wochen. Dass er jetzt schon vorprescht, war kaum zu erwarten. Und dass er, kaum drei Wochen im Amt, jetzt den Königsmörder spielt und Schaaf nach 14 Jahren als Cheftrainer von seinen Aufgaben entbindet, dürfte noch nicht einmal der schärfste Kritiker verlangen. Der allgemeine Sprachgebrauch lautet: Thomas Schaaf kann sich in Bremen nur selbst entlassen.

Dass der Sportdirektor Eichin im Dezember zum Vorstellungsgespräch in Schaafs Urlaubsdomizil nach Salzburg reisen musste, um sich von seinem Angestellten das Go für das Engagement in Bremen einzuholen, ist eine pikante Episode am Rande. Mehr aber auch nicht.

Lemke fährt die alte Linie

Die Wagenburg steht so oder so. Es gibt keine Trainerdiskussion in Bremen. "Selbst wenn ich die Verdienste von Thomas ausblenden würde und nur die letzten drei Wochen betrachten würde, bin ich sicher, dass wir aus dieser Situation mit Thomas sicherlich besser rauskommen als ohne ihn", sagt Eichin.

"Wir stimmen mit der Geschäftsführung vollends darin überein: Jetzt wäre es das Falscheste, den Trainer infrage zu stellen, sagte Aufsichtsratschef Willi Lemke, neben Schaaf die zweite Zielscheibe für die Kritiker. "Ganz im Gegenteil: Wir stärken unsere sportliche Leitung!"

Lemke fährt dabei die Linie aus den guten alten Zeiten, wirkt in seiner Haltung beratungsresistent. Eichin dagegen kommt als Neuling deutlich objektiver daher. "Ich habe festgestellt, dass man ein bisschen Angst vor der Situation hat im ganzen Umfeld. Da müssen wir raus, müssen positiv agieren." Er weiß aber auch: "Wir haben im Moment eine Situation, die nicht ungefährlich ist."

Es drohen fatale Folgen

Er bringt schon jetzt ein bisschen neuen Wind rein. Die Frage wird sein, ob er auch in Bremen die in Köln praktizierte harte Hand in schweren Zeiten durchziehen wird. Und die erscheinen derzeit sehr real. Sollte die Mannschaft den internationalen Wettbewerb verpassen, ist der Verbleib von Spielern wie Sokratis, Arnautovic oder De Bruyne eher ungewiss.

SPOXBisher ist Werder von großem Verletzungspech weitgehend verschont geblieben. Diese Woche aber meldeten sich Joseph Akpala (Innenbandriss) und Raphael Wolf (Kreuzbandriss) für längere Zeit ab. Zwar sind beide nicht erste Wahl, eine Fortsetzung ähnlicher Missgeschicke wäre eine neue Baustelle, die Werder nicht gebrauchen kann.

Also bleibt die Hoffnung, dass die Mannschaft ihrem Trend eine Kehrtwende verleihen kann, am besten gleich am Samstag in Mönchengladbach (18.15 Uhr im LIVE-TICKER). "In einer jungen Mannschaft hast du oftmals nicht diese erfahrenen Spieler, die in bestimmten Situationen wissen, was zu tun ist. Jetzt muss sich herauskristallisieren, wer das Heft in die Hand nimmt", sagt Eichin.

Dass sich dafür in 24 Spielen niemand so recht zuständig gefühlt hat, übersieht er dabei offenbar geflissentlich. Seine Erwartungshaltung ist jedenfalls relativ optimistisch: "In diesen Phasen werden solche Jungs geboren, aus denen vielleicht mal ein Effenberg oder ein van Bommel wird."

Werder Bremen in der Übersicht