Roman Neustädter ist in seinem zweiten Jahr auf Schalke die unumstrittene Nummer eins auf der Doppel-Sechs. Vor dem großen Derby gegen Borussia Dortmund (Sa., 15.30 Uhr im LIVE-TICKER) spricht der 25-Jährige über seinen Reifeprozess, taktischen Anschauungsunterricht bei Busquets oder Carrick, das Phänomen Draxler und den netten Boateng.
SPOX: Nach zwei Wochen Länderspiel-Pause geht es sofort rund mit drei Spielen in sieben Tagen: Dem mühsamen 3:2 in Braunschweig und der Niederlage gegen Chelsea folgt nun das Derby gegen Dortmund. Letztes Jahr erlebten Sie nach einem starken Start auf Schalke zum ähnlichen Zeitpunkt einen Leistungsknick. Welche Lehren zogen Sie daraus?
Roman Neustädter: In der Vorsaison war vieles Neuland für mich, vor allem die Dreifachbelastung mit Bundesliga, Pokal und Champions League. Für mich gibt es bis heute noch nichts Besseres, als immer zu spielen, allerdings habe ich meine Meinung etwas relativiert. Pausen sind wichtig und es gibt einen Grund, warum alle großen Mannschaften häufig rotieren. Direkt nach dem Wechsel zu Schalke hatte ich im Grunde durchgespielt, wurde nur in der zweiten Pokal-Runde gegen Sandhausen nicht aufgestellt...
SPOX: ... woran Sie sich noch so gut erinnern?
Neustädter: Ja, weil es das Schönste überhaupt ist, auf dem Platz stehen zu dürfen. Dennoch: Wenn ich ehrlich bin, hätte ich mir schon damals eingestehen müssen, dass mir die Pause sehr gut tat. Dieses Jahr setzen wir das entsprechend häufiger um, dass ich zum Durchschnaufen komme. Ich merke, dass ich deswegen fitter bin, vor allem im Kopf.
SPOX: Fitter im Kopf?
Neustädter: Die Leute sehen nur das, was auf dem Platz passiert. Doch häufig wird unterschätzt, wie es mental an die Substanz geht. Nach einer Partie ist es so bei mir: Ich kann nie gut schlafen, weil ich voller Adrenalin bin und im Kopf immer wieder ein Spielfilm der gesamten 90 Minuten abläuft. Ich gehe alle Situationen noch einmal durch, die guten und die schlechten Aktionen. Den Tag darauf benötigt man komplett zur Regeneration - und am zweiten Tag steht in englischen Wochen schon die Abreise zu einem Auswärtsspiel an. Körperlich ist das zu verkraften, die Trainingslager sind ja so konzipiert, dass man die Belastung wegsteckt. Doch für den Kopf ist es schwierig. Das soll jedoch nicht wehleidig erscheinen: Wir verdienen alle gutes Geld und werden dafür bezahlt, diesem Druck standzuhalten.
SPOX: Wie finden Sie in der Freizeit die Mitte? Schalten Sie komplett vom Fußball ab?
Neustädter: An einem Sonntagabend, nach dem Training und einem Bundesliga-Spiel am Tag zuvor, schaue ich mir nicht unbedingt schon wieder Fußball an, da muss ich abschalten. Oder ich schlafe beim Fernsehen einfach auf der Couch ein. (lacht) Ansonsten schaue ich so oft es geht Fußball, nicht zum bloßen Zeitvertreib, sondern um mir etwas abzuschauen Das ist fundamental. Wie bewegt sich ein Sechser? Wie verhält sich ein Sechser in einer vergleichbaren Situation, bei der mir ein Fehler unterlaufen war? Wann attackiert ein Sechser den ballführenden Gegenspieler direkt oder wann lässt er sich fallen? In jedem Spiel kann ich etwas lernen.
SPOX: Von wem lernen sie am meisten? Ihre Spielweise erinnert an Barcelonas Sergio Busquets. Wegen Ihrer Eleganz wurden Sie sogar mit Franz Beckenbauer verglichen, wegen des Laufstils mit Michael Ballack.
Neustädter: Die Vergleiche sind eine große Ehre, wenngleich ich sie nicht ernstnehmen kann. Ich versuche einfach, mein eigener Spielertyp zu sein - auch wenn es natürlich Ähnlichkeiten gibt. Wenn ich sehe, mit welcher Ruhe Busquets agiert, wenn ihn zwei Spieler angreifen und ihm im Bruchteil einer Sekunde eine Lösungsidee einfällt, ist es der beste Anschauungsunterricht, den man bekommen kann. Mir gefällt genauso Michael Carrick von Manchester United. Über ihn reden nicht so viele Leute, trotzdem ist er ein fantastischer Sechser. Ich analysiere ihn häufig am Fernseher und zähle seine Ballkontakte. Er braucht fast immer nur ein oder zwei Kontakte, um den Ball zu kontrollieren und sofort weiterzuleiten. Extrem spannend ist es zu beobachten, wie sich Carrick mit dem Körper zum Spielgeschehen orientiert oder wie er zum Ball steht.
SPOX: Für den Laien klingt es wenig spektakulär.
Neustädter: Ich freue mich wie jeder Fan, wenn ich ein Spektakel sehe mit hohem Tempo und guten Kombinationen. Genauso wichtig ist es jedoch aufzupassen in Spielen, wo es langsam zugeht und womöglich nicht so viele atemberaubende Aktionen passieren. In solchen Spielen ist in der Regel das taktische Verhalten wichtiger - und daraus kann man vor allem Lehren für die Champions League ziehen, in der weniger Tore fallen und mehr Wert auf eine Grundordnung gelegt wird als in der Bundesliga.
Roman Neustädters Statistiken in dieser Bundesliga-Saison
SPOX: Nur: Mit 19 Gegentoren stellt Schalke die mit Abstand schlechteste Abwehr in der oberen Bundesliga-Tabellenhälfte.
Neustädter: Wir hatten einige Ausreißer nach unten wie gegen Hamburg, in Wolfsburg, gegen die Bayern oder das unnötige 3:3 in Hoffenheim. Dennoch finde ich, dass wir immer besser eine taktische Balance finden. Was wir nicht vergessen dürfen: im Vergleich zum Vorjahr ist die Mannschaft deutlich jünger. Mittlerweile haben wir uns mehr und mehr gefangen und vor allem in der Champions League merkt man trotz des 0:3 gegen Chelsea deutlich unseren Entwicklungsschritt. Man merkt vom Kopf und vom Körper, dass wir uns besser an die englischen Wochen gewöhnen.
SPOX: Die vielen Gegentore in der Bundesliga müssen Sie als defensiven Mittelfeldspieler besonders schmerzen.
Neustädter: Chelsea ist ein sehr gutes Vorbild. Sie holten 2012 mit einer überragenden Defensivleistung sogar die Champions League, obwohl andere Mannschaften besser besetzt waren. Es war zugegeben eine Portion Glück dabei, gleichzeitig stand der Triumph für eine bestimmte Art der Qualität. Chelsea wollte so lange wie möglich die Null halten, dafür nahmen selbst die Stürmer den defensiven Mittelfeldspielern und Abwehrspielern enorm viel Arbeit ab, damit so wenige Bälle wie möglich durchkamen. Und vorne hatte Chelsea Spieler, die mit einer Aktion alles entscheiden konnten. Deshalb muss uns immer bewusst sein: Die Defensive ist der Motor der gesamten Mannschaft.
SPOX: Das Derby gegen Dortmund wird auch dadurch entschieden, wer das Mittelfeld regiert.
Neustädter: Jermaine Jones, der jetzt leider verletzte Marco Höger, Leon Goretzka mit seinem großen Potenzial, selbst Kevin-Prince Boateng kann da spielen: Wir wissen, dass es vor allem im defensiven Mittelfeld unverzichtbar ist, durchtauschen zu können, weil ein Sechser pro Spiel 12, 13 Kilometer laufen muss.
Seite 2: Neustädter über Emanzipation, Draxler und Boateng
SPOX: Sie sind mittlerweile die uneingeschränkte Nummer eins auf der Doppel-Sechs. Wie sehen Sie selbst Ihre Leistungen?
Neustädter: Ich bin stabiler geworben und habe kein unterirdisches Spiel gezeigt - wobei ich selbstkritisch sein muss. Speziell gegen Hamburg und gegen die Bayern war meine Leistung nicht wirklich grandios. Insgesamt aber bin ich zufrieden mit mir, speziell mit den Auftritten bei den Siegen gegen Leverkusen, in Mainz und den ersten beiden Champions-League-Spielen.
SPOX: Wo sehen Sie noch den meisten Bedarf für Verbesserungen?
Neustädter: In erster Linie beim Tore schießen. Braunschweig war schon mal ein guter Anfang. (lacht) Außderdem versuche ich, das Spiel noch intensiver zu lesen, um auch ohne Ball mehr Einfluss darauf zu nehmen. Indem man klüger läuft und so Räume für den ballführenden Mitspieler schafft oder indem ich die Räume so zustelle, dass der Gegner seinen Angriff auf die andere Spielfeldseite lenkt, wo wir den Ball leichter erobern können. Das sind alles Dinge, die unwichtig erscheinen und kaum auffallen - und am Ende genauso essentiell sind wie ein erfolgreiches Dribbling.
SPOX: Wie oft reden Sie noch mit Ihrem Vater? Peter Neustädter war selbst lange Jahre Profi und gilt als Ihr größter Kritiker.
Neustädter: Ab und zu reden wir noch über die Spiele und er kritisiert einzelne Situation, mittlerweile hat er allerdings ein Normalmaß gefunden. (lacht) Es pusht mich mehr, als es mich aufregt. Grundsätzlich reden wir nicht mehr so viel über den Fußball an sich. So langsam musste ich mich emanzipieren, ich bin dieses Jahr immerhin 25 Jahre alt geworden.
Neustädter und Jones im Bundesliga-Vergleich:
SPOX: Wie geht es Ihrem 19-jährigen Bruder Daniel? Er wurde immer als großes Verteidiger-Talent bezeichnet und wechselte im Sommer von Twente Enschede zum Regionalligsten Koblenz, wo Ihr Vater ihn trainierte. Doch nach dessen Entlassung wurde sechs Wochen später ebenfalls der Vertrag mit Ihrem Bruder aufgelöst.
Neustädter: Es ist alles ein bisschen dumm gelaufen. Mein Bruder hat ein großes Kämpferherz und darf sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Er sucht einen Verein, um sich bis Winter fit zu halten und dann muss man sehen, wie es weiter geht. Ihm muss bewusst sein, dass es nicht bei jedem karrieretechnisch gleich von 0 auf 100 gehen kann. Ich habe mit 18, 19 Jahren auch noch nicht Bundesliga gespielt, sondern erst einmal Erfahrungen sammeln und mich auf der Karriereleiter Stufe für Stufe hocharbeiten müssen. Bei ihm könnte es ähnlich laufen. Das Problem: Es ist für ihn schwieriger, geduldig zu sein, weil er sieht, wo ich jetzt bin. Er setzt sich dabei vielleicht zu sehr unter Druck. Gleichzeitig kann ich mich gut in ihn hineinversetzen. Ich weiß, wie es bei mir war, als ich mit 21 Jahren von Mainz nach Mönchengladbach ging und erstmals von zuhause ausgezogen bin. Da will man seinen eigenen Kopf durchsetzen.
SPOX: Ist es umso erstaunlicher, wie ein Julian Draxler auftritt?
Neustädter: Julian ist ein Phänomen. Ein Wahnsinn, dass er erst vor kurzem seinen 20. Geburtstag gefeiert hat. Doch das darf man nicht als Regel ansehen. Er ist für sein Alter unglaublich klar im Kopf und weiß genau, was er will. Unter anderem ein Verdienst der Eltern, die ihn immer auf dem Boden halten. Man mag es nicht glauben, wer ihn spielen sieht: Aber Julian ist vom Typ her ein Arbeiter.
SPOX: Schalkes Mannschaft hat sich deutlich verjüngt. Mit Max Meyer und Leon Goretzka gehören zwei 18-Jährige zum erweiterten Stamm. Wie veränderte das Ihre Rolle im Team?
Neustädter: Es hört sich in meinem Alter vielleicht merkwürdig an, aber mir kommt manchmal der Gedanke, wie schnell die Zeit vergeht. Zwar bin ich erst 25, aber damit 7 Jahre älter als Max oder Leon. Deswegen versuche ich ab und an, sie zur Seite zu nehmen und mit ihnen zu sprechen. Ich weiß noch, wie ich früher in eine Mannschaft kam und immer froh war, wenn sich einer der Älteren mit einem unterhielt. In diese Rolle wachse ich gerade hinein. Die Jungs machen es einem aber leicht. Es ist faszinierend, wie reif die Nachwuchsspieler mittlerweile sind. Nicht nur mental, sondern fußballerisch, taktisch und körperlich. Die jungen Spieler von heute sind viel weiter als wir damals. Bei uns wurde selbst in der A-Jugend noch auf einem Ascheplatz trainiert.
SPOX: Einer der neuen Anführer der jungen Schalker ist Kevin-Prince Boateng. Wie tritt er auf?
Neustädter: Ich kenne ihn schon länger, seit drei, vier Jahren. Wir haben uns damals über gemeinsame Freunde kennengelernt und standen seitdem regelmäßig in Kontakt und trafen uns ab und zu im Urlaub. Daher wusste ich, dass er ein sehr netter Mensch ist. Ich glaube, er hat aus der Zeit bei Milan sehr viel mitgenommen, als er in einer Mannschaft spielte mit Spielern wie Gattuso oder Pirlo, die alles gewonnen haben. Dort hat er viel gelernt und reifte zu einer echten Führungspersönlichkeit. Er ist für uns auch außerhalb des Platzes sehr wichtig.
SPOX: Als es um Schalkes defensives Mittelfeld ging, listeten Sie Boateng mit auf. Sehen wir bald eine Doppel-Sechs Neustädter/Boateng?
Neustädter: Er hätte es drauf, ich glaube nur, er ist mit seinen Qualitäten in der Offensive fast wertvoller. Er könnte ja sogar Stürmer spielen, der sich fallen lässt und so unberechenbar für den Gegner ist. Aber man weiß ja nie, wie es im Fußball läuft und vielleicht räumen wir zusammen im Mittelfeld ordentlich auf. Ich fände es spannend und würde mich freuen.
Roman Neustädter im Steckbrief