Vor Beginn der 52. Bundesligasaison gibt es einige taktische Überraschungen: der FC Bayern spielt mit Dreierkette, Borussia Dortmund mit Raute. Taktik-Experte Frank Wormuth hat die WM 2014 analysiert und dabei einige bemerkenswerte Aspekte entdeckt. Im Interview erklärt er seine Erkenntnisse, die möglichen Auswirkungen auf die Ligen sowie die Gründe für Deutschlands WM-Sieg. Außerdem spricht er über die Überspitzung des spanischen Tiki-Taka, neue Variabilität in den Systemen und eine mögliche Fehleinschätzung der Rolle des Außenverteidigers.
SPOX: Herr Wormuth, Sie haben Ende Juli auf dem Internationalen Trainer-Kongress Ihre Erkenntnisse der WM 2014 vorgestellt. Welche Hauptaspekte hat Ihre Analyse ergeben?
Frank Wormuth: Nach unserer Analyse habe ich in einigen Zeitungen gelesen, dass die WM 2014 nichts Besonderes im technisch-taktischen Bereich hervorgebracht hat. Da musste ich in mich hinein schmunzeln. Die Journalisten haben die WM ja auch gesehen und standen unter dem Einfluss Ihres Wissens. Interessant sind aber die von der DFB-Beobachter-Gruppe genannten Aspekte unter dem Gesichtspunkt der Zeit zu betrachten. Wir analysieren seit der EM 2004 die großen Events und in dieser Zeitschiene ist es spannend zu sehen, wie sich der Fußball entwickelt hat.
SPOX: Geben Sie uns bitte einen Einblick.
Wormuth: Jeden einzelnen Punkt aufzuführen, würde den Rahmen sprengen. Deshalb eine kurze Zusammenfassung: Der Fußball ist offensiver geworden, weil die Spieler die taktischen Verhaltensweisen in der Defensive immer besser in den Griff bekommen haben. Dies allein spiegelt sich in den Worten "hoch angreifen" wider. "Angreifen" als Abwehrthema zeigt die Bedeutung der Veränderung des Defensivverhaltens. Auf der Seite des Angriffsverhaltens ist die hohe Qualität der Angreifer im technischen Bereich zu erwähnen. Das Ballbesitzspiel ist viel sicherer geworden, die Ballstafetten mit hoher Passqualität zeigen dies sehr deutlich. Ich spreche hier vom Spitzenfußball. Dass das Umschaltspiel ständig mit der Formel "6-10 Sekunden" verbunden wird, zeigt, die Spieler haben begriffen, dass ein Umschaltspiel in beide Richtungen nur in hohem Tempo betrieben werden kann. Die Innenverteidiger halten die Mitte und schieben nicht mehr nach außen, die Sturmreihen sind deutlich flexibler in den Positionen geworden und so weiter und so weiter. Über die Doppelsechs redet heute keiner mehr als Neuheit, aber diese ist auch erst seit der WM 2006 in den Mittelpunkt gerückt, weil nicht mehr der Zehner, sondern der Sechser der Spielgestalter ist.
SPOX: Die "dpa" hat folgende Punkte Ihrer Analyse aufgeschrieben: Kompaktheit, taktische Variationsbreite, zielorientierter Kombinationsfußball mit Einzelaktionen, ein WM-Kader von großer Qualität, ein hoch professioneller Funktionsstab - sowie Teamgeist und Siegermentalität. Gab es noch andere Aspekte?
Wormuth: Wir müssen zukünftig langsamer reden, da waren noch interessantere Aspekte dabei (lacht). Lassen Sie mich diese zusammenfassend aufzeigen: Große Bandbreite der Spielsysteme: Bis auf die Raute haben wir fast alle Formationen gesehen. Variabilität der Spielsysteme: Die meisten Teams spielten von Spiel zu Spiel unterschiedliche Formationen und wechselten auch innerhalb einer Partie. Die Dreierkette ist wieder da: Vier Achtelfinalteilnehmer spielten in der Offensive mit drei und in der Defensive mit mindestens fünf Verteidigern auf einer Höhe. Kompaktheit in der Defensive: Alle Teams brachten mindestens sieben bis acht Spieler innerhalb von sechs bis zehn Sekunden hinter den Ball. Das spanische Tiki-Taka spielten aufgrund der Spielidee nur noch die Deutschen, aber zielorientierter.
SPOX: Das müssen Sie uns später noch genauer erklären, aber machen Sie erstmal weiter.
Wormuth: Keine große Variabilität der Positionen: Viele Teams hielten ihre Spieler bis zum Schluss in ihren Anfangspositionen. Die "falsche Neun" schaffte den Durchbruch nicht. Das offensive Umschalten ist weiterhin ein Erfolgsgarant: Die 6-10 Sekunden-Regel hat weiterhin Bestand. Überdurchschnittlich viele Jokertore: Dies könnte zum einen den klimatischen Verhältnissen geschuldet sein, aber auch der Ausgeglichenheit der Kader. Die Standards sind weiterhin für Spielveränderungen wichtig. Solisten sind in einem Team von Vorteil, aber können auch zum Nachteil werden: Keine neue Weisheit und das Motto "die Mannschaft ist der Star" hat zwar zum Titel geführt, aber unter den letzten vier Teams standen drei, in denen Robben, Messi und Neymar die Erfolgsfaktoren waren. Du brauchst in einem Team einfach einen, der Tore garantiert. Wenn ein Team mehrere solcher Spieler besitzt, ist die Wahrscheinlichkeit eines Sieges sehr hoch. Unser A-Team hatte diese Voraussetzungen in Brasilien.
SPOX: Und was ist mit Teamgeist und Siegermentalität: sind das nicht Grundvoraussetzungen?
Wormuth: Wir mussten in unserer Präsentation die Folien voll bekommen... Nein, Spaß. Natürlich sind das Grundvoraussetzungen, um Erfolg zu haben, aber wir wollten mit dieser Aussage auf Campo Bahia hinweisen. Man muss sich heutzutage auf diesem hohen, aber auch gleichem Niveau schon Gedanken darüber machen, wo man wohnt und wie die Begegnung zwischen den Spielern in dieser langen Zeit des Zusammenseins vor und während eines Turniers sein muss. Das Spiel entscheidet sich nicht allein durch Beschwören von Teamgeist und Siegermentalität, sondern durch entsprechende Handlungen, denen man Voraussetzungen geben muss. Und wenn es die optimale Begegnungsstätte ist.
SPOX: In den letzten Jahren galt Spanien als das Maß der Dinge. Kann man nach der WM 2014 sagen, dass Deutschland Spanien in den von Ihnen genannten Bereichen überholt hat?
Wormuth: Der spanische Fußball hat einer Erfolgsära den Stempel aufgedrückt. Aber die anderen Teams haben nicht geschlafen und Gegenmittel gesucht. Jogi Löw ist ein Freund des spanischen Fußballs, entsprechend hat diese Spielidee auch in der deutschen Mannschaft ihren Platz gefunden. Aber, und das hat sich in Brasilien gezeigt, das deutsche "Tiki-Taka" ist zielorientierter. Der Pass im Ballbesitzspiel war immer Mittel zum Zweck, nicht Selbstzweck. Von daher kann man nicht von überholt, sondern eher von optimiert sprechen.
Die Opta-Statistiken von Spanien und Deutschland bei der WM 2014
SPOX: Was heißt das für den spanischen Ansatz?
Wormuth: Ganz einfach: Das Passspiel darf nicht zum Selbstzweck werden, sondern benötigt einen sicheren, zügigen Abschluss. Das heißt nicht, dass die Spanier kein Ziel hatten, im Gegenteil, aber - um es überspitzt zu sagen - sie wollten mit Garantie den Ball ins Tor bringen. Der finale Pass wurde so lange vorbereitet, bis die Wahrscheinlichkeit des Tores den Höhepunkt erreicht hat. Da sah man eben auch Ballpassagen, die für das Auge ermüdend waren. Dennoch hatten sie damit Erfolg und werden ihn weiterhin haben. Aber der Otto-Normal-Verbraucher hatte irgendwann keine Lust mehr darauf, weil eben ständige Ballverluste den Spannungspegel erhöhen. Das gilt nicht für einen Trainer, der mag lieber Ballgewinne.
SPOX: Trotz des Ausscheidens in der Vorrunde hat Spanien den Vertrag mit Trainer Vicente del Bosque verlängert. Kann Spanien zu alter Dominanz und Stärke zurückfinden oder muss die Seleccion ihr Spiel umstellen?
Wormuth: Ich könnte es mir einfach machen und auf die vielen Torchancen der Spanier gegen Chile und auf das "Was wäre wenn" verweisen. Aber es hat sich schon bei der EM 2012 angedeutet, dass Spanien nicht mehr das Spanien vergangener Tage war. Es klingt kurios, aber erst im Finale machten die Spanier ihr bestes Spiel. Dennoch muss mit Spanien aufgrund der vielen guten Spieler immer gerechnet werden. Ihr Spiel war in der Vergangenheit stark vom Spiel des FC Barcelona geprägt, der nun laut Aussage des neuen Trainers Luis Enrique etwas anders spielen will, vielleicht zielgerichteter. Fakt ist: Spanien hat super Talente, die ich immer wieder bei meinen Beobachtungen der Juniorenevents sehen kann. Diese Spieler werden das Niveau der A-Nationalmannschaft hoch halten. Egal, wie die Spielidee aussehen wird, ihre technischen Qualitäten sind enorm.
SPOX: Auch die einst in Spanien von Messi etablierte falsche Neun fand bei der WM kaum statt. Fast alle Teams spielten mit klassischen Stürmern. Ist das Konzept der falschen Neun schon wieder out?
Wormuth: Ich bin mal provokativ und behaupte, dass die falsche Neun zwar eine begriffliche Geburt des spanischen Nationaltrainers Del Bosque war, aber die Medien die Nahrung für das Großwerden geliefert haben. Überall las man von der falschen Neun. Natürlich hat unser Bundestrainer mangels Stoßstürmer seiner Vorstellung - um im Bild zu bleiben - Nahrungsergänzungsmittel hinzugefügt. Aber wer hat wirklich mit falscher Neun gespielt? Bei der WM auf jeden Fall war der sogenannte Stoßstürmer am Leben - und zwar quicklebendig. Das Spiel der Deutschen wurde durch Klose bereichert, aber lustig, dass die falsche Neun Götze das entscheidende Tor im Finale schoss. Der Fußball schreibt in der Tat Geschichten.
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SPOX: Deutschland spielte trotz der vielen Spieler des FC Bayern nicht den Bayern-Stil unter Pep Guardiola. Es wurde weniger auf Ballbesitz und Kontrolle wertgelegt, dafür nach Ballgewinn schneller der Abschluss gesucht. Sollten sich die Bayern am DFB-Team orientieren, um nicht in der Champions League wieder so überrollt zu werden wie gegen Real Madrid?
Wormuth: Wenn ich jetzt darauf antworte, dann habe ich morgen in irgendeiner anderen Website wieder Pep Guardiola kritisiert oder noch besser, ihm vorgeschlagen, wie er spielen soll. So wie beim letzten Mal, als ich die Bayern im Magazin "Focus" positiv analysiert habe und ein einziger Satz aus dem Zusammenhang herausgerissen worden ist, welcher am Ende zu "Wormuth kritisiert Pep" wurde. Selbst Ihre Leser hatten böse Kommentare für mich übrig, obwohl diese eigentlich wissen müssten, dass ich analysiere und nicht kritisiere. Immerhin habe ich in meinen bisherigen Interviews bei SPOX dieses Feedback erhalten. Wir sind leider in einem Zeitalter, in dem anonyme Beschimpfungen über das Internet Mode geworden sind. Herrschaften, einfach nur lesen, seine eigene Meinung reflektieren und auch dagegen halten. Aber argumentativ und völlig wertfrei. Wir reden über Fußball, der unsere Freizeit füllt und nicht über diesen Typ, der uns gerade die Zeit geklaut hat.
SPOX: Also reden wir weiter über Fußball und bleiben beim Ballbesitz. Der war nicht der Grundsatz vieler Mannschaften. Dafür gab es viele Spiele mit hohem Tempo, hoher Intensität und vielen Umschaltaktionen. Umgangssprachlich würde man wohl vom offenen Schlagabtausch sprechen. Ist diese Spielweise auch in der Bundesliga zu erwarten?
Wormuth: Die konditionellen Voraussetzungen hätten unsere Bundesligisten, aber ich denke, dass diese Art des Spiels kein Trainer gerne sieht. Ein offener Schlagabtausch entsteht fast immer, wenn Räume vorhanden sind, die nach Ballgewinn genutzt werden können. Also gab es bei Ballbesitz kein Nachrücken und Zuordnen des Gegners. Und gesellt sich im Ballbesitzspiel noch ein erhöhtes Passrisiko hinzu, dann geht es immer hin und her. Dem Zufall ist dann Tür und Tor geöffnet. Das kann nicht Ziel eines Trainers sein. Und da unsere Bundesligatrainer alle gut geschult sind, werden sie diesem Spiel abgeneigt sein. Gegen Ende, wenn es um hopp oder top geht, das Risiko aus Zeitgründen erhöht werden muss, dann nehmen Spieler und Trainer diese Spielweise eher in Kauf.
SPOX: Selbst die Holländer spielten unter Van Gaal nicht typisch holländisch, sondern vertrauten auf eine kompakte Defensive und die individuelle Klasse in der Offensive. Dafür hat Van Gaal in mehreren Spielen das System gewechselt und damit Erfolg gehabt. War er der mutigste und modernste Trainer des Turniers?
Wormuth: Solange die Spieler in den Trainingseinheiten damit konfrontiert werden, unabhängig ob in Theorie oder Praxis, und sie dieses Wechselspiel der Systeme auf den Platz übertragen können, sehe ich keinen Grund zu etwas Mutigem. Modern würde ich schon eher sagen, weil diese Form der Veränderungen erst in den letzten Jahren Teil des Gedankenguts der Trainer wurde. Wir in der Trainerausbildung müssen auch mal aus dem Kreis der Normalität heraus, um Gedanken anzuregen. Wir gehen sogar soweit zu fragen, ob es Sinn ergibt, bei Ballgewinn bzw. bei Ballverlust in unterschiedliche Systeme zu gehen. Ein Beispiel: Können wir von einem 5-4-1 in der Defensive zu einem 2-3-2-3 in der Offensive wechseln? Immerhin würde dann der Innenverteidiger zum Sechser, der Zehner zum Neuner werden. Spielen Sie es mal im Geiste durch.
SPOX: Die Entwicklung geht also weiterhin in die Richtung flexibel einsatzbarer Spieler?
Wormuth: Der Schlussgedanke ist in der Tat der, dass es Spieler auf dem Platz geben muss, die verschiedene Positionen in verschiedenen Systemen spielen sollten. Ein Innenverteidiger in der Defensive wird dann zum Sechser in der Offensive. Ein Zehner in der Defensive wird zum Neuner in der Offensive. Hollands Dirk Kuyt hat gegen Mexiko auf drei Positionen in drei unterschiedlichen Systemen mit unterschiedlichen Verhaltensweisen gespielt - am Ende erfolgreich.
Dirk Kuyts Heatmap im Spiel gegen Mexiko
SPOX: Joachim Löw hat im letzten Test vor dem Turnier erstmals auf 4-3-3 umgestellt und Philipp Lahm im Mittelfeld aufgeboten. War dies eine entscheidende Erweiterung des eigenen Repertoires?
Wormuth: Glauben Sie mir, es spielt keine Rolle, ob man 4-3-3 oder 4-2-3-1 spielt. Diese zwei Systeme vermischen sich im Spiel ständig. Wenn wir über Systeme diskutieren, dann unter anderem, ob die Positionen flexibel besetzt sind oder fix. Philipp Lahm wurde immer als Sechser bezeichnet, aber wir haben ihn sehr oft auch im Strafraum gesehen. Dann übernimmt eben ein anderer Spieler diese Position. Und bei genauer Betrachtung hatten wir manchmal zwei oder drei Spieler vor der Viererkette. Wenn alle Spieler bei Ballverlust nach hinten arbeiten, dann spielt die defensive Grundordnung nicht mehr die große Rolle, sondern die Kompaktheit. Und die war in unserem Spiel eine entscheidende Erweiterung der Spielidee. Kompaktheit in Offensive und Defensive - das war auch ein Erfolgsfaktor.
SPOX: Bei Deutschland wurden die Positionen im Mittelfeld und im Angriff recht variabel interpretiert. War diese Flexibilität auch ein großer Vorteil gegenüber vielen anderen Teams?
Wormuth: Auf dieser Ebene der Leistungsfähigkeit sind es die Kleinigkeiten, die über Sieg oder Niederlage entscheiden. Deshalb war es kein großer Vorteil, aber immerhin die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, den Gegner zu verunsichern, ihn in Schwierigkeiten zu bringen. Eine hohe Rotation der Spieler bewirkt auch Veränderungen in der Raumstruktur beim Gegner, was wiederum zur Folge hat, dass sich vermehrt Räume für Schnittstellenpässe öffnen und man somit den Ball hinter die Abwehrreihe bringen kann.
SPOX: Am erstaunlichsten im deutschen Spiel war die Viererkette mit vier Innenverteidigern. War das nur der speziellen Situation geschuldet oder ist das ein Modell, das auch in der Bundesliga Schule machen könnte?
Wormuth: Achtung, jetzt kommt eine berühmte Weisheit: Vorne werden die Spiele gewonnen und hinten das Turnier. Wenn die Null steht und man vorne auch noch eine hohe Wahrscheinlichkeit hat, Tore zu erzielen, dann ist man bis zum Schluss dabei. Vier Innenverteidiger in der Kette bedingen aber noch lange nicht, dass das Spiel defensiv gestaltet wird. Fakt ist, dass Auftaktgegner Portugal insbesondere über die Außen durch Ronaldo oder Nani sehr konterstark war. Also hat unser Bundestrainer starke defensive Spieler auf die Außen gestellt. Damit war die Spielidee der Portugiesen zerstört. Als Trainer möchte man dann ein siegreiches Team ungern auseinanderreißen, zumal auch Ghana gut im Konterspiel war. Taktisch der Situation geschuldet und dann als Erfolgsfaktor erkannt, das war der Ablauf. Vielleicht überlegt sich die Bundesliga nun, ob die Bedeutung der offensiven Außenverteidiger in den letzten Jahren überbewertet wurde und stellt um? Warten wir es ab.
SPOX: Als Folge der vier Innenverteidiger war die Stärke der deutschen Mannschaft bei Standardsituationen durch einen oder gar zwei zusätzliche Zielspieler offensichtlich. Auch die zusätzliche Zweikampfstärke wurde immer wieder betont. Wiegen diese Vorteile mehr als die etwaigen Nachteile im Offensivspiel?
Wormuth: Hatten wir bei den Standards mehr Zielspieler oder war es nicht eher die - nennen wir es einmal - Kreativität der Spieler bei der Ausführung der Standards? Müllers Hinfallen gegen Algerien sah lustig aus, hatte aber seinen Sinn. Wäre der Ball über die Mauer gekommen, hätte Müller unbedrängt sein Tor machen können. Die Zweikampfstärke lag auch darin, dass man - wie bereits erwähnt - sowohl in der Offensive als auch in der Defensive kompakt stand, also die Abstände zu den Mitspielern kurz waren. Dadurch erhöht sich die Möglichkeit der Balleroberung. Man fühlt sich als Zweikämpfer sicherer, weil man weiß, dass der Mitspieler dahinter steht und ein Ausspielen kompensiert werden kann. Mehr Sicherheit im Zweikampf bedeutet eben auch ein verbessertes Zweikampfverhalten. Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass dadurch weniger Flanken oder eine reduzierte Teilnahme am Passspiel folgte. Man müsste sich einmal die Statistiken anschauen. Ich glaube, dass unsere Nationalmannschaft in den meisten Bereichen sehr gut war.
SPOX: Laut Opta hat Höwedes während des gesamten Turniers nur zwei Flanken geschlagen und nur 36,5 Pässe pro 90 Minuten gespielt. Nicht viel für einen Außenverteidiger...
Die Opta-Statistiken von Benedikt Höwedes bei der WM 2014
Wormuth: Gegenfrage: Wie viele defensive Zweikämpfe hat er gewonnen? Wie viele Angriffe sind über seine Seite erfolgreich gewesen? Höwedes ist Innenverteidiger, der die linke Seite mit seinen Vorderleuten sehr gut zugemacht hat. Seine Aufgabe war, die Defensive im Griff zu haben und in der Offensive soweit wie möglich zu unterstützen. Und das hat er ausreichend gemacht, um Weltmeister zu werden. Respekt vor seiner Leistung auf einer ihm fremden Position. Aber ich verstehe Ihre Frage. Das Anforderungsprofil eines Außenverteidigers ist in den letzten Jahren anders, einfach
ausgedrückt, offensiver geworden. Man hat immer Philipp Lahm im Kopf: hinten gut verteidigen und vorne Aktionen bringen. Wenn ein Innenverteidiger als linker Außenverteidiger beim Weltmeister auflaufen muss, dann stellen sich zwei Fragen, die wir hier aber nicht beantworten müssen. Wo sind die deutschen Außenverteidiger Marke "Lahm" und hat die Außenverteidigerrolle eigentlich die Bedeutung, die wir bisher gesehen haben?
SPOX: Das können wir in einem anderen Interview gerne weiter vertiefen. Aber muss nicht auch die Bedeutung der Standards nach der WM grundsätzlich neu überdacht werden?
Wormuth: Nein. Es war schon immer so, dass Standards Spielverläufe beeinflusst haben und somit bedeutungsvoll waren. Das werden sie auch immer sein. Nicht umsonst haben sich alle Experten im Vorfeld der WM über die mangelnde Verwertung der Standards bei unserem Team beschwert und sich nachher darüber gefreut, dass endlich auch das Training der Standards bei Jogi Löw optimiert worden ist.
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SPOX: Sie haben es zu Beginn schon erwähnt: drei der vier Halbfinalisten waren von überragenden Individualisten in der Offensive geprägt, am Ende siegte das Team Deutschland. War das der Triumph der Mannschaft über die Individualität?
Wormuth: Die Quintessenz nicht nur dieser WM ist, dass sich die Wahrscheinlichkeit zu gewinnen erhöht, wenn ein Trainer Solisten so einbauen kann, dass sie für das Team arbeiten. Und wenn nicht, dann gewinnt immer noch nicht die Mannschaft, weil der Solist für die Gegner nicht berechenbar ist. Deutschland hat es geschafft, seine Solisten in ein Mannschaftsgefüge zu bringen, die anderen drei Teams vielleicht am Ende nicht so explizit. Aber ganz ehrlich: wenn du unter den letzten Vier bist, dann gehört auch ein Schuss Glück dazu, ein Spiel zu gewinnen.
SPOX: Begeben sich Teams mit so starken Individualisten zu sehr in eine Abhängigkeit von ihren Protagonisten? Im Halbfinale neutralisierten sich Holland und Argentinien, weil Robben und Messi gut verteidigt wurden. Brasilien war ohne Neymar ein Desaster, nach dem Rückstand nervlich am Ende und unfähig zu reagieren.
Wormuth: Abhängigkeit ist richtig formuliert, aber diese Spieler können auch Spiele alleine entscheiden. Immerhin waren drei Teams mit Solisten im Halbfinale. Die Geschichte mit Brasilien und dem verletzten Neymar ist völlig anders zu bewerten. Was beim Spiel Deutschland gegen Brasilien in der ersten Hälfte passiert ist, geht in die Geschichte ein. Die Brasilianer, unabhängig vom Fehlen Neymars, waren schockiert ob der Torfolge und vor allen Dingen der Art, wie die Tore erzielt wurden. Das wäre auch mit Neymar passiert, weil dieser begnadete Fußballer nur für die Offensive zuständig war. Im Nachhinein war es vorauszusehen, dass Brasilien gegen Deutschland verlieren wird. Nicht in der Art und der Höhe, aber aufgrund der Probleme in ihrem Defensivverhalten.
Die Opta-Statistiken von Messi und Robben im Vergleich
SPOX: Wie viel Individualität verträgt eine Mannschaft?
Wormuth: Lassen Sie es mich kurz mit folgendem weisen Satz sagen: "Erfolgsfaktor für eine Mannschaft ist die individuelle Klasse eines Spielers, die stets in perfekt funktionierenden Teams mit einer klaren Spielstrategie eingebettet werden muss." Ich zahle aber keine fünf Euro ins Phrasenschwein, denn für den Satz habe ich eine gewisse Zeit gebraucht (lacht). Das beantwortet zwar nicht direkt Ihre Frage, aber zeigt auf, dass der Trainer der Schlüssel ist, den Solisten, aber auch den Rest der Mannschaft von Vor- und Nachteilen eines Einzelkönners zu überzeugen.
SPOX: Sie haben zu Beginn des Gesprächs gesagt, dass fast jede Formation bei der WM gespielt wurde - außer der Raute. Erstaunlich, dass ausgerechnet Jürgen Klopp beim BVB gerade diese Formation wieder auspackt. Welche Vor- und Nachteile hat die Raute?
Wormuth: Nehmen wir als Beispiel das Spiel um den Supercup gegen den FC Bayern: Die Münchner suchen in der Mitte Überzahl durch einrückende Spieler. Da passt die Formation mit vier Mittelfeldspielern sehr gut dazu. Der Nebeneffekt bei Beibehaltung einer Viererkette in der Abwehr ist, dass man vorne mit zwei Spitzen arbeiten kann. Gut fürs schnelle Umschaltspiel, da zwei Anspielstationen in der Tiefe auf die Pässe warten. Durch die Raute kann man auch seine Außenverteidiger gut ins Spiel bringen, weil Raum für Vorstöße vorhanden ist. Ein Nachteil ist, dass die Wege für die seitlichen Mittelfeldspieler gegen eine Spielverlagerung weiter sind, also mehr Laufaufwand betrieben werden muss, was sich am Ende im konditionellen Bereich niederschlagen könnte.
SPOX: Bei einer läuferisch starken Mannschaft wie Dortmund schien das kein Problem zu sein.
Wormuth: Bei aller Diskussion über Vor- und Nachteile einer Formation muss man beachten, dass es am Ende darum geht, welche Spielerqualitäten man auf seiner Seite hat und vor allen Dingen, wie der Gegner spielt. Deswegen reden wir ja immer von der Systemdiskussion, weil Annahmen Voraussetzungen sind, um Vor- und Nachteile aufzuzeigen. Allgemein betrachtet kann man jedes System auseinandernehmen, aber in der Realität spielen noch ganz andere Gründe eine Rolle, ob das eigene Verhalten Vor- oder Nachteile birgt. Aber am Ende geht es immer um bespielbare Räume und Überzahlverhältnisse.
SPOX: Auch die Bayern suchen gerade nach einem neuen Zugang zu diesen Themen. Pep Guardiola lässt hinten mit einer Dreierkette spielen. Zeigt das, dass Guardiola vielleicht aus der Niederlage gegen Real doch mehr Schlüsse gezogen hat, als er zugeben will?
Wormuth: Um das nochmals klarzustellen: Das Spiel der Bayern ist klasse. Pep Guardiola hat eine klare Vorstellung von seinem Spiel und die Mannschaft überträgt das hervorragend. Und der Erfolg spricht gleichzeitig dafür. Analytisch und nicht kritisch betrachtet haben die Madrilenen in der letzten Saison gegen die Bayern ihr Spiel verändert - also einen Plan B gehabt. Die Bayern haben ihre Philosophie durchgezogen und am Plan A festgehalten. Am Ende hat Madrid gewonnen. Dass die Bayern ihr System verändern können, also einen Plan B haben, steht außer Zweifel, aber man muss als Trainer Entscheidungen treffen. Das ist rein analytisch und völlig wertfrei dargestellt. Dies nur nochmals für die vielen Kritiker, die sich hinter Pseudonymen im Internet verstecken und deren Gläser immer halbleer sind. Und dass die Bayern nun mit einer Dreierkette auflaufen, ist die logische Folge des Ballbesitzspiels, um einen Mann mehr im Mittelfeld zu positionieren und vorne in der Spitze einen zweiten Zielspieler aufzustellen. Man kann sogar sechs Spieler ins Mittelfeld bringen. Dies alles offensiv betrachtet.
SPOX: Im Pokalfinale gewann Bayern durch die Dreierkette aber vor allem defensiv an Stabilität und gewährte Dortmund nicht so viele Umschaltaktionen. Ist der Zugewinn an defensiver Stabilität der Hauptaspekt, warum wieder mehr Teams auf Dreierkette zurückgreifen?
Wormuth: Ja und Nein. Die Dreierkette hat Vor- und Nachteile. Wie oben schon einmal beschrieben hängt alles davon ab, wie die eigene Qualität der Spieler ist und wie der Gegner spielt. Ein Beispiel: Spielt der Gegner mit zwei Spitzen nebeneinander, dann hätte eine Dreierkette den Vorteil der Überzahl sowohl in der Defensive als auch in der Offensive, sprich der Spieleröffnung. Das letztere könnte man aber auch kompensieren durch die dynamische Dreierkette - wie wir in der Ausbildung zu sagen pflegen. Also das "Abkippen" des Sechsers zwischen die Innenverteidiger bei einer Viererkette gegen eben zwei Spitzen. Das bedeutet aber, dass die beiden Innenverteidiger auf die Höhe der zwei gegnerischen Spitzen gehen müssen, sonst bringt der abgekippte Sechser nicht viel. Oh je, jetzt bin ich aber in den Tiefen des Fußballspiels angekommen (lacht).
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