"Passspiel nicht als Selbstzweck"

Frank Wormuth leitet die Trainerausbildung beim DFB und coacht die deutsche U 20
© getty

Vor Beginn der 52. Bundesligasaison gibt es einige taktische Überraschungen: der FC Bayern spielt mit Dreierkette, Borussia Dortmund mit Raute. Taktik-Experte Frank Wormuth hat die WM 2014 analysiert und dabei einige bemerkenswerte Aspekte entdeckt. Im Interview erklärt er seine Erkenntnisse, die möglichen Auswirkungen auf die Ligen sowie die Gründe für Deutschlands WM-Sieg. Außerdem spricht er über die Überspitzung des spanischen Tiki-Taka, neue Variabilität in den Systemen und eine mögliche Fehleinschätzung der Rolle des Außenverteidigers.

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SPOX: Herr Wormuth, Sie haben Ende Juli auf dem Internationalen Trainer-Kongress Ihre Erkenntnisse der WM 2014 vorgestellt. Welche Hauptaspekte hat Ihre Analyse ergeben?

Frank Wormuth: Nach unserer Analyse habe ich in einigen Zeitungen gelesen, dass die WM 2014 nichts Besonderes im technisch-taktischen Bereich hervorgebracht hat. Da musste ich in mich hinein schmunzeln. Die Journalisten haben die WM ja auch gesehen und standen unter dem Einfluss Ihres Wissens. Interessant sind aber die von der DFB-Beobachter-Gruppe genannten Aspekte unter dem Gesichtspunkt der Zeit zu betrachten. Wir analysieren seit der EM 2004 die großen Events und in dieser Zeitschiene ist es spannend zu sehen, wie sich der Fußball entwickelt hat.

SPOX: Geben Sie uns bitte einen Einblick.

Wormuth: Jeden einzelnen Punkt aufzuführen, würde den Rahmen sprengen. Deshalb eine kurze Zusammenfassung: Der Fußball ist offensiver geworden, weil die Spieler die taktischen Verhaltensweisen in der Defensive immer besser in den Griff bekommen haben. Dies allein spiegelt sich in den Worten "hoch angreifen" wider. "Angreifen" als Abwehrthema zeigt die Bedeutung der Veränderung des Defensivverhaltens. Auf der Seite des Angriffsverhaltens ist die hohe Qualität der Angreifer im technischen Bereich zu erwähnen. Das Ballbesitzspiel ist viel sicherer geworden, die Ballstafetten mit hoher Passqualität zeigen dies sehr deutlich. Ich spreche hier vom Spitzenfußball. Dass das Umschaltspiel ständig mit der Formel "6-10 Sekunden" verbunden wird, zeigt, die Spieler haben begriffen, dass ein Umschaltspiel in beide Richtungen nur in hohem Tempo betrieben werden kann. Die Innenverteidiger halten die Mitte und schieben nicht mehr nach außen, die Sturmreihen sind deutlich flexibler in den Positionen geworden und so weiter und so weiter. Über die Doppelsechs redet heute keiner mehr als Neuheit, aber diese ist auch erst seit der WM 2006 in den Mittelpunkt gerückt, weil nicht mehr der Zehner, sondern der Sechser der Spielgestalter ist.

SPOX: Die "dpa" hat folgende Punkte Ihrer Analyse aufgeschrieben: Kompaktheit, taktische Variationsbreite, zielorientierter Kombinationsfußball mit Einzelaktionen, ein WM-Kader von großer Qualität, ein hoch professioneller Funktionsstab - sowie Teamgeist und Siegermentalität. Gab es noch andere Aspekte?

Wormuth: Wir müssen zukünftig langsamer reden, da waren noch interessantere Aspekte dabei (lacht). Lassen Sie mich diese zusammenfassend aufzeigen: Große Bandbreite der Spielsysteme: Bis auf die Raute haben wir fast alle Formationen gesehen. Variabilität der Spielsysteme: Die meisten Teams spielten von Spiel zu Spiel unterschiedliche Formationen und wechselten auch innerhalb einer Partie. Die Dreierkette ist wieder da: Vier Achtelfinalteilnehmer spielten in der Offensive mit drei und in der Defensive mit mindestens fünf Verteidigern auf einer Höhe. Kompaktheit in der Defensive: Alle Teams brachten mindestens sieben bis acht Spieler innerhalb von sechs bis zehn Sekunden hinter den Ball. Das spanische Tiki-Taka spielten aufgrund der Spielidee nur noch die Deutschen, aber zielorientierter.

SPOX: Das müssen Sie uns später noch genauer erklären, aber machen Sie erstmal weiter.

Wormuth: Keine große Variabilität der Positionen: Viele Teams hielten ihre Spieler bis zum Schluss in ihren Anfangspositionen. Die "falsche Neun" schaffte den Durchbruch nicht. Das offensive Umschalten ist weiterhin ein Erfolgsgarant: Die 6-10 Sekunden-Regel hat weiterhin Bestand. Überdurchschnittlich viele Jokertore: Dies könnte zum einen den klimatischen Verhältnissen geschuldet sein, aber auch der Ausgeglichenheit der Kader. Die Standards sind weiterhin für Spielveränderungen wichtig. Solisten sind in einem Team von Vorteil, aber können auch zum Nachteil werden: Keine neue Weisheit und das Motto "die Mannschaft ist der Star" hat zwar zum Titel geführt, aber unter den letzten vier Teams standen drei, in denen Robben, Messi und Neymar die Erfolgsfaktoren waren. Du brauchst in einem Team einfach einen, der Tore garantiert. Wenn ein Team mehrere solcher Spieler besitzt, ist die Wahrscheinlichkeit eines Sieges sehr hoch. Unser A-Team hatte diese Voraussetzungen in Brasilien.

SPOX: Und was ist mit Teamgeist und Siegermentalität: sind das nicht Grundvoraussetzungen?

Wormuth: Wir mussten in unserer Präsentation die Folien voll bekommen... Nein, Spaß. Natürlich sind das Grundvoraussetzungen, um Erfolg zu haben, aber wir wollten mit dieser Aussage auf Campo Bahia hinweisen. Man muss sich heutzutage auf diesem hohen, aber auch gleichem Niveau schon Gedanken darüber machen, wo man wohnt und wie die Begegnung zwischen den Spielern in dieser langen Zeit des Zusammenseins vor und während eines Turniers sein muss. Das Spiel entscheidet sich nicht allein durch Beschwören von Teamgeist und Siegermentalität, sondern durch entsprechende Handlungen, denen man Voraussetzungen geben muss. Und wenn es die optimale Begegnungsstätte ist.

SPOX: In den letzten Jahren galt Spanien als das Maß der Dinge. Kann man nach der WM 2014 sagen, dass Deutschland Spanien in den von Ihnen genannten Bereichen überholt hat?

Wormuth: Der spanische Fußball hat einer Erfolgsära den Stempel aufgedrückt. Aber die anderen Teams haben nicht geschlafen und Gegenmittel gesucht. Jogi Löw ist ein Freund des spanischen Fußballs, entsprechend hat diese Spielidee auch in der deutschen Mannschaft ihren Platz gefunden. Aber, und das hat sich in Brasilien gezeigt, das deutsche "Tiki-Taka" ist zielorientierter. Der Pass im Ballbesitzspiel war immer Mittel zum Zweck, nicht Selbstzweck. Von daher kann man nicht von überholt, sondern eher von optimiert sprechen.

Die Opta-Statistiken von Spanien und Deutschland bei der WM 2014

SPOX: Was heißt das für den spanischen Ansatz?

Wormuth: Ganz einfach: Das Passspiel darf nicht zum Selbstzweck werden, sondern benötigt einen sicheren, zügigen Abschluss. Das heißt nicht, dass die Spanier kein Ziel hatten, im Gegenteil, aber - um es überspitzt zu sagen - sie wollten mit Garantie den Ball ins Tor bringen. Der finale Pass wurde so lange vorbereitet, bis die Wahrscheinlichkeit des Tores den Höhepunkt erreicht hat. Da sah man eben auch Ballpassagen, die für das Auge ermüdend waren. Dennoch hatten sie damit Erfolg und werden ihn weiterhin haben. Aber der Otto-Normal-Verbraucher hatte irgendwann keine Lust mehr darauf, weil eben ständige Ballverluste den Spannungspegel erhöhen. Das gilt nicht für einen Trainer, der mag lieber Ballgewinne.

SPOX: Trotz des Ausscheidens in der Vorrunde hat Spanien den Vertrag mit Trainer Vicente del Bosque verlängert. Kann Spanien zu alter Dominanz und Stärke zurückfinden oder muss die Seleccion ihr Spiel umstellen?

Wormuth: Ich könnte es mir einfach machen und auf die vielen Torchancen der Spanier gegen Chile und auf das "Was wäre wenn" verweisen. Aber es hat sich schon bei der EM 2012 angedeutet, dass Spanien nicht mehr das Spanien vergangener Tage war. Es klingt kurios, aber erst im Finale machten die Spanier ihr bestes Spiel. Dennoch muss mit Spanien aufgrund der vielen guten Spieler immer gerechnet werden. Ihr Spiel war in der Vergangenheit stark vom Spiel des FC Barcelona geprägt, der nun laut Aussage des neuen Trainers Luis Enrique etwas anders spielen will, vielleicht zielgerichteter. Fakt ist: Spanien hat super Talente, die ich immer wieder bei meinen Beobachtungen der Juniorenevents sehen kann. Diese Spieler werden das Niveau der A-Nationalmannschaft hoch halten. Egal, wie die Spielidee aussehen wird, ihre technischen Qualitäten sind enorm.

SPOX: Auch die einst in Spanien von Messi etablierte falsche Neun fand bei der WM kaum statt. Fast alle Teams spielten mit klassischen Stürmern. Ist das Konzept der falschen Neun schon wieder out?

Wormuth: Ich bin mal provokativ und behaupte, dass die falsche Neun zwar eine begriffliche Geburt des spanischen Nationaltrainers Del Bosque war, aber die Medien die Nahrung für das Großwerden geliefert haben. Überall las man von der falschen Neun. Natürlich hat unser Bundestrainer mangels Stoßstürmer seiner Vorstellung - um im Bild zu bleiben - Nahrungsergänzungsmittel hinzugefügt. Aber wer hat wirklich mit falscher Neun gespielt? Bei der WM auf jeden Fall war der sogenannte Stoßstürmer am Leben - und zwar quicklebendig. Das Spiel der Deutschen wurde durch Klose bereichert, aber lustig, dass die falsche Neun Götze das entscheidende Tor im Finale schoss. Der Fußball schreibt in der Tat Geschichten.

Seite 1: Wormuth über die Erkenntnisse der WM und Deutschlands Tiki-Taka

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