SPOX: Herr Himsl, der VfB Stuttgart ist nach acht Spieltagen mit vier Punkten Tabellenletzter. Sie haben die Spiele des VfB für uns analysiert, ist der VfB wirklich so schlecht?
Mario Himsl: Nein, der VfB ist sicher nicht die schlechteste Mannschaft der Bundesliga. Aus analytischer Sicht hat der VfB in seinen ersten Spielen sehr viel richtig gemacht. Der VfB hat laut Opta mit 152 nach Bayern mit 154 die meisten Schüsse abgegeben. Außerdem haben sich die Stuttgarter auch nach Bayern und Dortmund die meisten Großchancen erarbeitet. Dazu hatte der VfB viele Möglichkeiten, die gar nicht in die Statistik einfließen, weil er nicht zum Abschluss kam. Dass Stuttgart nach Spielen wie gegen Schalke, Hamburg oder Köln mit null Punkten da steht, ist aus analytischer Sicht Wahnsinn.
SPOX: Fakt ist aber auch, dass sie die Tore nicht machen. Steht die Effektivität also im Zentrum der Stuttgarter Probleme?
Himsl: Klar. Allerdings gilt normalerweise die Annahme: Wer sich viele Chancen erspielt, schießt auch viele Tore und erhöht die Wahrscheinlichkeit auf einen Sieg. Das ist beim VfB aktuell nicht so. Dafür zeigen die Gegner enorme Effektivität und nutzen die Fehler der Stuttgarter eiskalt aus.
SPOX: Woran liegt dieser Unterschied? Von Glück und Pech allein kann man bei diesem eklatanten Unterschied sicher nicht sprechen.
Himsl: Die unterschiedliche Effektivität hat mit der Abschlussqualität zu tun. Und damit meine ich gar nicht die Grundqualität der Spieler, die ist beim VfB in der Offensive sehr hoch, sondern die mentale Qualität im Moment des Abschlusses. Hier fällt auf, dass starke Offensivkräfte wie Harnik, Didavi oder Ginczek Chancen bisweilen kläglich und oft überhastet vergeben.
SPOX: Das war in der Schlussphase der letzten Saison unter Huub Stevens noch ganz anders. Hat das System des neuen Trainers Alexander Zorniger mit dieser neuen Unruhe im Abschluss zu tun?
Himsl: Wir sollten an dieser Stelle zwischen System und Spielidee unterscheiden. Alexander Zorniger ist mit einer Idee beim VfB Stuttgart angetreten, die er für richtig hält und bisher klar durchzieht. Von einem System kann man dann sprechen, wenn die Idee funktioniert und alle Räder ineinander greifen.
SPOX: Wie schaut die Idee Zornigers genau aus?
Himsl: Der von Zorniger gewählte Ausdruck Hochgeschwindigkeitsfußball sagt schon viel aus. Der VfB agiert aus einer 4-4-2-Grundordnung und läuft die gegnerischen Verteidiger sehr hoch und intensiv an. Es ist ein ständiges Nachvorneverteidigen mit sehr hoher Laufbereitschaft, sofortigem Nachrücken der Viererkette. Das Spiel soll weit in die gegnerische Hälfte verlagert und kompakt gehalten werden.
SPOX: Die oft beschriebene wilde Balljagd.
Himsl: Mit wild hat das nichts zu tun, die Balljagd folgt einem klaren Plan, ist koordiniert und strukturiert. Die Stürmer üben durch ihr aggressives Anlaufverhalten - meist von innen nach außen - hohen Druck auf die Innenverteidiger aus. Kann der Stürmer diese Aufgabe gerade nicht erfüllen, kommt der äußere Mittelfeldspieler nach innen, um den Außenverteidiger abzuklemmen und Druck auf diesen aufzubauen. Grundsätzlich versuchen die Stuttgarter, den Abstand zu den aufbauenden Spielern so schnell wie möglich zu verkürzen, ins Pressing zu kommen, Stress aufzusetzen und den Gegner zu langen Bällen oder unkontrollierten Aktionen zu zwingen. Das Spielfeld soll in Breite und Tiefe kompakt gehalten werden. Das gelingt meistens auch sehr gut und bei Ballgewinn in der Angriffs- oder Mittelfeldreihe kommt dann die Hochgeschwindigkeit ins Spiel.
SPOX: Wie sieht das Spiel dann aus?
Himsl: Da kommt dann "eine Dampfwalze" auf die Abwehr zu. Zwei bis vier Spieler gehen sofort tief und versuchen, hinter die gegnerische Abwehr zu kommen. Der Raum vom Ort des Ballgewinns bis in die gefährliche Zone wird durch Passspiel oder ein beherztes Dribbling schnell überbrückt.
SPOX: Ist das von Zorniger praktizierte 4-4-2 die beste Grundordnung für diese Idee?
Himsl: Wichtiger als die Grundordnung ist die Idee an sich. Die ließe sich auch aus einer anderen Grundordnung umsetzen. Im 4-4-2 liegt der Vorteil darin, dass das Zentrum sehr stark ist und man in der roten Zone, also ab 25 Meter vor dem gegnerischen Tor, mit zwei Spitzen sofort präsent ist.
SPOX: Welche Vorteile hat diese Idee noch?
Himsl: Das Spiel lässt sich in vier Hauptphasen trennen: Pressing, Ballverlust, Ballgewinn und Ballbesitz. Der VfB will durch ständiges Pressing den Gegner zu Ballverlusten zwingen und die daraus resultierende Unordnung nutzen, um nach Ballgewinn sofort nach vorne zu spielen und Torchancen zu kreieren. Das gelingt auch sehr gut, aber die Idee geht bisher nur bis in den Strafraum auf.
SPOX: Hier fehlen die angesprochenen Punkte: Ruhe und Effektivität.
Himsl: Der VfB verbreitet durch seine Spielweise Stress und Hektik beim Gegner. Aber man hat das Gefühl, dass sich diese Attribute auch auf den VfB selbst und dann auch auf den Torabschluss übertragen. Die Spieler wollen die Energie und die Wucht ihrer Balljagd in den Abschluss mitnehmen und agieren ungenau und überhastet. Die Stuttgarter Spiele sind durch das ständige hin und her attraktiv, haben aber keine oder nur kurze Phasen der Ballkontrolle. Die Partien wirken oft wie ein engagiertes Jugendspiel. Die Spieler haben keine Zeit, mental und körperlich kurz runterzufahren, sie stehen ständig unter Hochspannung. Aber in der roten Zone braucht man Ruhe und die Wahrnehmung für den Mitspieler, um den Ball zielgenau zum Mitspieler zu bringen oder präzise abzuschließen. Das ist ähnlich wie beim Biathlon. Das Herz pumpt vom Hetzen auf der Runde, aber für den Schuss braucht man einen kühlen Kopf.
SPOX: Welche Möglichkeiten hat ein Trainer um Ruhe, Übersicht und einen kühlen Kopf im Abschluss zu trainieren?
Himsl: Wichtig ist, dass die Spieler möglichst häufig zum Abschluss kommen. Das geht zum einen durch standardisierte Übungsformen, in denen der Stürmer beispielsweise eine Serie von 50 Flanken bekommt. Zum anderen gibt es nicht-taktische, kleine Spielformen, bei denen man sich durch die Enge des Raumes oder durch die Anzahl der Spieler immer in der Nähe des Sechzehners befindet. Das kann ein Vier-gegen-Vier oder auch eine Vier-gegen-Drei-Überzahl sein. Denn der VfB hatte in seinen Spielen neben den vielen Chancen noch viele Möglichkeiten, bei denen der letzte oder vorletzte Pass nicht gepasst hat oder der richtige Raum nicht belaufen wurde. Da helfen taktische Spielformen, in denen Räume aufgezeigt und Laufwege einstudiert werden. Hier fällt zum Beispiel auf, dass die Stuttgarter den ersten Pfosten bei Hereingaben nicht konsequent belaufen, beziehungsweise der Rückraum oder der zweite Pfosten nicht immer besetzt sind - und wenn, dann ist das Anspiel ungenau.
Seite 1: Himsl über die Idee Zorniger, die Vorteile und Parallelen zum Biathlon
Seite 2: Himsl über die Nachteile, einen fehlenden Baustein und Kostic