VfB-Urgestein Gerhard Wörn im Interview: "Und ihr Ochsen da vorne lasst euch anschießen"

Florian Regelmann
26. April 201911:39
Gerhard Wörn (l.) feierte 1992 die Meisterschaft des VfB nach einem legendären 2:1-Sieg in Leverkusen.imago
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Gerhard Wörn hat beim VfB Stuttgart alles erlebt. Meisterschaften, Pokalsieg, Abstieg - das VfB-Urgestein befindet sich aktuell in seiner sage und schreibe 29. Saison als Physiotherapeut. SPOX und Goal haben sich in Stuttgart mit dem 62-Jährigen getroffen und über seinen VfB gesprochen.

Herausgekommen ist ein offenes Gespräch über Wörns eigene Fußballerkarriere, großartige Momente und die dramatische Entwicklung in den vergangenen Jahren. Außerdem erklärt Wörn, wie Jogi Löw und Dieter Hoeneß für ihn zu Vorbildern wurden.

Herr Wörn, Sie sind seit fast 30 Jahren Physiotherapeut beim VfB, aber Sie haben auch eine Vergangenheit als Spieler. Erzählen Sie.

Gerhard Wörn: Ich bin in der Jugend schon zum VfB gekommen und habe später in der 2. Bundesliga Süd knapp 30 Spiele gemacht. Und auch zwei Tore geschossen. Wenn man nur zwei Tore schießt, ist der Vorteil, dass man sich noch gut an sie erinnern kann. Vor allem eines war wichtig, da lagen wir in Villingen-Schwenningen 0:1 hinten und ich habe den Ausgleich erzielt. Mit einer 25-Meter-Granate. (lacht) Es war eine schöne Zeit. Damals haben auf der Geschäftsstelle gerade mal drei Leute gearbeitet, so lange ist das her.

Warum hat es später nicht für Einsätze in der Bundesliga gereicht?

Wörn: Ich bin damals mit der Jugend Deutscher Meister geworden, Hansi Müller und ich haben es danach nach dem Abstieg der ersten Mannschaft zu den Profis geschafft und ich durfte relativ viele Spiele machen in der 2. Liga. Danach ging es nicht mehr weiter. Ich hatte zum einen ziemlich große Konkurrenz, kein Geringerer als Hermann Ohlicher hat auf meiner Position gespielt. Zum anderen habe ich Probleme mit dem Gleitwirbel bekommen. So wurde mein späterer Berufsweg überhaupt eingeleitet. Ich hatte zwar andere Angebote, Jupp Derwall kannte mich aus der Amateur-Nationalmannschaft und wollte mich zu Alemannia Aachen holen, aber dann habe ich in Stuttgart einen Ausbildungsplatz als Physiotherapeut angeboten bekommen und mich dafür entschieden. Damals hatten sich 200 Leute beworben und nur 30 bekamen einen Platz. Das war mir dann wichtiger. Ich bin sehr zufrieden damit, wie es alles gelaufen ist. Ich habe dann auch noch für die Amateure weitergespielt.

Gerhard Wörn gewann an der Seite von Joachim Löw mit dem VfB 1997 den DFB-Pokal. imago

Wörn: "Willi Entenmann war ein überragender Trainer"

1980 gewannen Sie mit dem VfB durch ein 2:1 gegen Augsburg dann sogar die deutsche Amateur-Meisterschaft.

Wörn: Wir hatten eine einmalige Truppe zusammen. Ich habe selten eine Mannschaft erlebt, die qualitativ so gut war, bei der es aber auch gleichzeitig menschlich so gepasst hat. Wir waren ein verschworener Haufen. Wir haben eigentlich alle weggeputzt. (lacht)

Und Sie hatten einen Top-Trainer namens Willi Entenmann, der später unter Arie Haan auch Assistent bei den Profis werden sollte. Was hat ihn ausgezeichnet?

Wörn: Willi Entenmann war ein überragender Trainer. Auch ein unterschätzter Trainer, der nicht so in aller Munde war. Aber sie können jeden fragen, der unter ihm gespielt hat. Alle werden sagen, dass sie noch nie so fit waren wie unter Willi Entenmann. Willi war Sportlehrer und hatte sehr gute pädagogische Fähigkeiten. Und er hatte vor allem ein sehr gutes Gespür, wie er mit jedem Spieler umgehen muss. Die wichtigste Qualität eines Trainers ist es, auf eine bestimmte Art und Weise Dinge vermitteln zu können. Ein Trainer darf seine Mannschaft weder über- noch unterfordern. Das konnte Willi, er war großartig.

1990 sind Sie dann in Vollzeit Physiotherapeut beim VfB geworden. Nur zwei Jahre später waren Sie zum ersten Mal Deutscher Meister.

Wörn: Guido Buchwald. 88. Minute. Der Kopfball in Leverkusen. Ich sehe mich noch in der Kabine bei den Feierlichkeiten, was ein Wahnsinn. Wir hatten damals eine Mannschaft, die sich ja nicht von Anfang an meisterlich präsentierte. Wir haben erst in der Rückrunde einen Lauf bekommen und waren dann nicht mehr aufzuhalten. Aber im Nachhinein muss ich sagen, dass dieses Team natürlich auch echt hochwertig besetzt war. Eike Immel im Tor, Guido, Günther Schäfer, Michael Frontzeck, Maurizio Gaudino, Wiggerl Kögl links, Andy Buck rechts, Matthias Sammer war zu uns gekommen. Und hatte vor Guidos Tor in Leverkusen ja Rot gesehen. Fritz Walter vorne. Das war schon eine richtig gute Truppe.

Wörn: "Und dann kam Dieter Hoeneß"

Eine richtig gute Truppe hatte der VfB auch einige Jahre später 1997 beim DFB-Pokalsieg mit dem magischen Dreieck unter Jogi Löw. War Berlin auch für Sie magisch?

Wörn: Sehr magisch. Ich konnte es vorher auch nicht ganz glauben, aber für mich gibt es nichts Größeres als das Pokalfinale in Berlin. Es ist das Ereignis schlechthin. Die Atmosphäre und Energie, die schon Tage vorher herrscht und sich immer weiter aufbaut, ist unbeschreiblich. Ich versuche auch immer den jungen Spielern zu erklären, dass das Pokalfinale das Nonplusultra ist.

Hätten Sie damals erahnt, welche Karriere Jogi Löw einmal machen würde?

Wörn: Nein, das hätte wahrscheinlich niemand erahnt. Jogi hat als Co-Trainer unter Rolf Fringer angefangen und in der Folge eine Entwicklung aus dem Bilderbuch hingelegt. Als Trainer. Aber auch als Mensch und Persönlichkeit. Jogi ist in all den Jahren für mich das beste Beispiel dafür, wie überragend sich jemand menschlich weiterentwickeln kann. Bei ihm sieht man wirklich gut, was möglich ist. Jogi auf der menschlichen Seite und Dieter Hoeneß auf der fußballerischen.

Warum gerade Dieter Hoeneß?

Wörn: Ich habe Dieter erlebt, als ich 1975 nach der deutschen Jugendmeisterschaft zu den Profis gekommen bin. Dieter hatte vorher in Aalen gekickt und war zum VfB gewechselt. Der VfB war immer bekannt für technisch gute Mannschaften mit vielen feinen Fußballern. Und dann kam Dieter Hoeneß. (lacht) Dieter musste im ersten Jahr ganz schön viel einstecken. Beinschuss vorne, Beinschuss hinten - im Fünf-gegen-zwei hat er kein Land gesehen. Wenn damals jemand prophezeit hätte, welche Karriere Dieter machen würde im Verein und in der Nationalmannschaft, hätten ihn alle für verrückt erklärt. Dieter Hoeneß? Niemals, das war unvorstellbar. Deshalb ist er für mich im Fußballerischen das beste Beispiel, dass nichts ausgeschlossen ist.

Marcelo Bordon gehört zu den Spielern, die Gerhard Wörn am meisten in Erinnerung geblieben sind. imago

Gerhard Wörn im Steckbrief

geboren27. Januar 1957 in Weil im Schönbuch
PositionMittelfeld
Spielerkarriere beim VfB27 Spiele/2 Tore in der 2. Liga (1975-77)
Erfolge als SpielerMeister 2. Bundesliga Süd 1976/77, Deutscher Amateurmeister 1980, 2 Einsätze in der Nationalmannschaft der Amateure
Physiotherapeut beim VfBseit 1990

Wörn über Marcelo Bordon und Felix Magath

Wir waren bei den großen Erfolgen des VfB hängengeblieben. Nach dem Pokalsieg 1997 dauerte es zehn Jahre, ehe 2007 die bis heute letzte Meisterschaft gewonnen wurde. Und wieder kam sie überraschend, oder?

Wörn: Auf jeden Fall. Der Titel war genauso überraschend wie 1992. Es gibt überhaupt viele Parallelen, wenn wir die Meisterschaften vergleichen. 2007 hätte zu Beginn der Saison auch niemand gedacht, dass die Mannschaft das Potenzial hat, ganz oben mitzuspielen. Aber wie 92 erkennt man mit Abstand, was für eine qualitativ hochwertige Truppe es war. Wir hatten genau die richtige Mischung aus Erfahrung und jungen ehrgeizigen Spielern, die etwas erreichen wollten und vollgepumpt waren mit Erfolgshunger. Und wieder kamen wir in einen Lauf, in dem du dich plötzlich unverwundbar fühlst. Da kann es 0:3 stehen, aber du sitzt ganz ruhig auf der Bank und denkst: "Na dann gewinnen wir eben 4:3." In der Rückrunde in der letzten Saison unter Tayfun Korkut war es genauso. Da ist so eine Dynamik entstanden, dass schon Real Madrid hätte kommen müssen, um uns zu schlagen. (lacht) Und selbst die hätten es schwer gehabt. Aber so schön dieser Lauf im Positiven ist, so schlimm ist er im Negativen. Das erleben wir leider in der aktuellen Saison wieder.

Neben den Titeln, welche Menschen haben Sie in all den Jahren beim VfB am meisten beeindruckt?

Wörn: Wir hatten über die vielen Jahre natürlich sehr viele tolle Trainer und Spieler, von denen man nicht mehr in der Form spricht, weil sie nicht mit Titel verbunden werden. Was schade ist. Dennoch waren es inhaltlich außergewöhnliche Spieler. Ich denke spontan an jemanden wie Marcelo Bordon.

UI-Cup-Sieger mit dem VfB.

Wörn: (lacht) Genau. Das war sein maximaler Erfolg bei uns. Dennoch war Marcelo Bordon ein überragender Spieler beim VfB und noch wichtiger: ein überragender Mensch. Er ist bis zum heutigen Tag ein guter Freund von mir. Auf der Trainer-Seite fällt mir Felix Magath ein. Felix' Ruf ist vielleicht ab und zu negativ belegt, weil er mit seinem Stil nicht jedem gutgetan hat, der ihn erlebt hat, aber er war auf jeden Fall ein außergewöhnlicher Trainer mit vielen positiven Eigenschaften. Sonst hätte er in der Bundesliga auch nicht so viel Erfolg gehabt.

Jetzt ist der letzte Titel beim VfB zwölf Jahre her, seitdem macht der Verein schwierige bis grausame Zeiten wie aktuell durch. Wie blicken Sie auf den Klub, dem Sie so verbunden sind?

Wörn: Im Laufe der Jahre verändert sich der Blickwinkel auf einen Verein extrem. Als Spieler bist du Egoist. Ein Egoist, der den Verein oft einfach als Mittel zum Zweck sieht. Die Denkweise, dass es dein Verein ist, besteht in der Form als Spieler nicht. Als Spieler geht es darum, sich durchzusetzen in der Mannschaft. Für mich ist die Situation natürlich jetzt eine ganz andere. Ich komme aus der Region. Der VfB bedeutet Heimat für mich. Ich kenne so viele Leute, die dem VfB eng verbunden sind und weiß, mit wie viel Herzblut sie den Verein verfolgen und mitfiebern. Diesen Leuten müssen wir als Verein etwas zurückgeben. Aber wenn wir uns die letzten Jahre anschauen, in denen es häufig gegen den Abstieg geht und es so viele negativen Meldungen über den VfB gibt, hat man einfach ein ungutes Gefühl. Ich wünsche mir einfach, dass wir es mit dem VfB schaffen, dauerhaft für gewisse Werte zu stehen, mit denen sich unsere Fans identifizieren können. Da geht es weit über den Erfolg hinaus.

Als Physiotherapeut bauen Sie enge Beziehungen zu den Spielern auf. In welche Rollen schlüpfen Sie?

Wörn: Pädagoge, väterlicher Freund, Beichtvater - es beinhaltet viele verschiedene Rollen. Ich werde immer älter, die Spieler werden immer jünger, da ist es normal, dass ich auch mal einen väterlichen Rat geben kann. Generell baut man nicht zu allen, aber zu vielen Jungs über die Zeit tiefere Beziehungen auf. Ich versuche, bei den Behandlungen auch den Spielern zu vermitteln, dass der VfB etwas Besonderes und nicht nur ein normaler Arbeitgeber ist. Da wird eigentlich offen gesprochen. Die Jungs haben ja auch ihre Probleme. Keinem macht es Spaß, sich vor 60.000 Zuschauern vorführen zu lassen und zu verlieren. Dennoch gibt es Phasen, in denen genau das passiert.

Christoph Daum führte den VfB 1992 zur Meisterschaft - Gerhard Wörn (l.) war dabei!imago

Wörn: "Und ihr Ochsen da vorne lasst euch anschießen"

Wie finden Sie Zugang zu einem 19-Jährigen wie Ozan Kabak, der im Winter neu zur Mannschaft gestoßen ist?

Wörn: Grundsätzlich verbindet uns im Fußball eine gemeinsame Sprache. Ob in der Türkei oder in Deutschland, gewisse Dinge sind überall gleich. Deshalb gibt es keine Hemmschwelle, die am Anfang zu überwinden ist. Ozan ist für sein Alter extrem weit, er hat aber trotzdem auch eine jugendliche Unbekümmertheit und Neugierde, die mir sehr gefällt. Wichtig ist, dass wir es als Verein schaffen, den Jungs zu zeigen, dass sie uns wichtig sind. Egal, ob das im Fußball oder in irgendeiner Firma ist, jeder Mensch hat ein feines Gespür dafür, ob sich um einen gekümmert wird. Das menschliche Fundament muss da sein.

Wie hat sich denn die Bedeutung der Medizin und Physiotherapie im Fußball verändert in den letzten Jahrzehnten?

Wörn: Die Entwicklung ist enorm. Man kann sie schon mit der Entwicklung im Fußball vergleichen. Wenn ich mich da an die Ansprachen des Trainers von früher erinnere...

Nicht so taktisch geprägt?

Wörn: (lacht) Weniger. Da hieß es eher: "Du bist Libero, du schaust, dass du den Laden zusammenhältst. Du bist der Zehner und machst das Spiel. Und ihr Ochsen da vorne lasst euch anschießen." Wenn wir dann gewonnen haben, erklärte der Trainer, dass man seine Vorgaben gut umgesetzt habe. Und wenn wir verloren haben, hieß es, wir Pfeifen haben nicht das gemacht, was er wollte. Wir dachten nur immer: "Was genau wollte er denn?" (lacht) Wenn ich heute zum Beispiel bei einer Behandlung mit Mario Gomez über seine Zeit in München mit Pep Guardiola spreche und darüber, was dessen Vorstellungen sind, ist das schon ein großer Unterschied. Und in der Sportmedizin hat sich der therapeutische Blickwinkel völlig verändert. Wenn früher ein Spieler mit Rückenbeschwerden kam, hast du eben den Rücken behandelt. Heute haben wir einen ganzheitlichen Ansatz. Bei einem Muskelfaserriss an der Oberschenkelrückseite ist das Behandlungsgebiet nicht ausschließlich dort. Es geht auch um die Vorderseite, auch ums Becken. Der ganzheitliche Ansatz ist der größte Unterschied zu früher.

SPOX-Chefreporter Florian Regelmann traf Gerhard Wörn in Stuttgart. SPOX

Wörn: "Wir haben häufig wieder bei null angefangen"

Wie wichtig ist die Zusammenarbeit mit dem Trainerteam geworden?

Wörn: Sehr wichtig. Ich habe am Anfang über die Qualitäten von Willi Entenmann gesprochen. Ein Trainer muss sehr sensibel und feinfühlig sein. Er muss wissen, wie er mit seinem Team umgehen muss, wie er es belasten kann. Habe ich eine kampfbetonte Mannschaft? Oder eher eine technisch versierte, die mehr Regeneration und Erholung braucht? Das sind alles entscheidende Fragen. Im Zusammenspiel zwischen Trainerteam, Ärzten und Physiotherapeuten die richtige Balance für die Mannschaft zu finden, macht die Aufgabe gerade so spannend und auch so schön. Da können wir uns richtig austoben. Wenn die Arbeit dann Früchte trägt, ist es ein tolles Gefühl. Wichtig ist auch, dass ein Verein Rückgrat zeigen kann. Wenn du verlierst und dann trainingsfrei gibst, weiß jeder, was die Reaktion ist. "Da trainieren wir ja in Deizisau mehr. Die machen ja nix beim VfB." Dennoch kann es für die Mannschaft richtig und wichtig sein, dann muss man es auch durchziehen und dem Körper die Pausen geben, die er braucht. Wenn du ihn immer nur ausbeutest, wird es sich irgendwann rächen.

Wenn Sie nach insgesamt weit über 30 Jahren VfB einen Wunsch frei hätten, was würden Sie sich wünschen?

Wörn: Viele würden jetzt vielleicht erwarten, dass ich sage: nochmal einen Titel gewinnen. Klar, das wäre ein Traum. Aber für mich ist es noch viel wichtiger, dass ich eine Entwicklung spüre. Wenn ich das Gefühl habe, dass sich hier etwas entwickelt und alle an einem Strang ziehen, kann ich daraus auch meine Zufriedenheit ziehen. Mich stört, dass wir beim VfB immer wieder einen Weg begonnen haben und ihn dann nach einer gewissen Zeit wieder abbrechen mussten. Wir haben häufig wieder bei null angefangen, das finde ich schade. Mein Wunsch wäre, dass wir das in Zukunft besser hinkriegen.