Patrick Ittrich ist ein Schiedsrichter, der gerne Klartext spricht. Im Interview mit SPOX und Goal erzählt der Bundesliga-Schiedsrichter von seinen Anfängen auf einem furchtbaren Acker in Hamburg-Hamm und seinem zwischenzeitlichen Abstieg. Außerdem erklärt der 40-Jährige, warum Schiedsrichter manchmal keinen Bock auf Entschuldigungen haben und verrät, was ihn am meisten stört.
Auch Teil des Gesprächs: Eine Diskussion über den VAR und die leidige Handspielregel.
Herr Ittrich, was ist Ihr Lieblingspodcast?
Patrick Ittrich: Da gibt es einige. Ich bin wirklich ein großer Podcast-Fan und höre querbeet sehr viele. Ich höre vor allem auch sehr gerne Podcasts, bei denen ich mich etwas berieseln lassen kann. 'Zärtliche Cousinen' von Atze Schröder zum Beispiel. Den finde ich weltklasse, weil er sehr lustig ist. Im Oktober kommt die neue Show von Atze, da bin ich auf jeden Fall am Start. 'Alles gesagt?' von Zeit online ist auch hervorragend, da entscheidet der Gast, wann Schluss ist. Bei Herbert Grönemeyer ging es sechseinhalb Stunden. Einfach großartig. Auch Collinas Erben oder MoSports, den Podcast von Moritz Fürste, höre ich gerne.
Hier wird es keine sechseinhalb Stunden dauern, zumindest nicht ganz. Obwohl Ihr Weg zum Bundesliga-Schiedsrichter und zur Polizei sehr viel hergibt. Sie wollten weder Schiri noch Polizist werden, richtig?
Ittrich: Richtig. Ich habe als Industriemechaniker gearbeitet und Fahrtreppen gebaut. Das war mir aber zu langweilig und hat mich nicht erfüllt. Eines Tages ist ein Feuerwehrauto an mir vorbeigefahren, darauf stand geschrieben: 'Wir stellen ein.' Daraufhin habe ich mich bei der Feuerwehr beworben. In die Schiri-Schiene war ich zu diesem Zeitpunkt schon hineingerutscht. Ich hatte selbst Fußball gespielt, auf der Zehner-Position. (lacht) Und irgendwann dachte ich mir, dass ich das noch besser kann als die Schiedsrichter, die ich als Spieler oder Fan beobachtet hatte. Mein damaliger Förderer Uwe Albert war es dann, der mir empfohlen hat, mich doch auch bei der Polizei zu bewerben. Einerseits, weil es vielleicht doch etwas besser zu meinem zukünftigen Werdegang als Schiedsrichter passte. Und andererseits war mir der Job bei der Polizei dann ehrlich gesagt auch lieber als der bei der Feuerwehr, da man dort oft auch an Unfallorte kommt und weniger schöne Dinge sieht.
gettyIttrich über die Anfänge in der Kreisklasse: Ein Acker in Hamburg-Hamm
Weniger schöne Dinge erlebt man aber auch, wenn man als Schiri ganz unten anfängt und seine ersten Spiele leitet.
Ittrich: Ich kann mich noch genau an mein erstes Spiel in der Kreisklasse erinnern. Das war bei Fatihspor auf irgendeinem furchtbaren Acker in Hamburg-Hamm. Als ich ankam, standen da schon zwei Streifenwagen, weil mit einigem gerechnet wurde. Da hoffst du einfach nur, heil aus der Nummer herauszukommen. Wenn du als Schiri unten anfängst, wirst du zum Teil auch wüst beschimpft. Viele hören dann auch schnell wieder auf. Wenn wir uns das Schiedsrichter-Wesen in Deutschland anschauen, stellen wir fest, dass wir natürlich auch Schwierigkeiten mit der Gewinnung neuer Schiedsrichter haben, aber nicht so sehr wie mit der Erhaltung bereits aktiver Schiedsrichter. Weil sich viele fragen, warum sie sich das antun sollen, und dann die Konsequenzen ziehen und kein Schiri mehr sein wollen. Wer lässt sich schon gerne jedes Wochenende beschimpfen?
Auf dem Weg in die Bundesliga sind Sie als Schiedsrichter sogar einmal abgestiegen. Das geht also auch bei Schiris. Wie einschneidend war der Abstieg für Sie?
Ittrich: Der Abstieg war im ersten Moment die ultimative Niederlage für mich. Auch da gibt es viele Schiedsrichter, die dann aufhören. Im ersten Moment denkst du ja nicht daran, dass dich diese Erfahrung einmal stärker machen wird. Wir hören solche Sprüche ja auch bei Spielern nach schweren Verletzungen und wahrscheinlich muss man das auch sagen, aber trotzdem sind es Floskeln. Antrainierte Floskeln. Aber so denkst du ja nicht. Du denkst: 'Was ist das denn für ein Mist. Darauf habe ich aber jetzt mal überhaupt keinen Bock.' Es tat sehr weh. Mein Glück war, dass ich als Assistent im Profifußball geblieben bin, das war mein Anker. Also habe ich mich zusammengerissen und bin danach eigentlich nur noch aufgestiegen.
Mit dem Höhepunkt, eines Tages in der Bundesliga zu pfeifen.
Ittrich: Als ich in der Bundesliga angekommen bin, war es für mich das Nonplusultra. 'Alter Schwede, du kleiner Wurm hast mal so angefangen und läufst jetzt in Dortmund vor 80.000 Fans ins Stadion ein.' Das hat mich echt übermannt damals. Da war ich zugegeben auch stolz auf mich und habe mir selbst auf die Schulter geklopft, dass ich das so durchgezogen habe. Mir haben viele Leute auf meinem Weg geholfen, vor allem meine Frau und meine gesamte Familie, aber in erster Linie hatte ich das mir selbst zu verdanken. Ich finde, da darf man sich dann auch mal kurz selbst loben. (lacht)
Ittrich: "Die ganze Welt sieht doch, dass du Mist gebaut hast"
Zumal die Momente, in denen gar nichts läuft, unweigerlich kommen werden. Wenn man ein Spiel erlebt wie in der abgelaufenen Saison zwischen Wolfsburg und Schalke, merken Sie dann schon während des Spiels, dass es ein rabenschwarzer Tag ist?
Ittrich: Absolut. Nach der zweiten Situation, in der ich meine Entscheidung nach einem On-Field-Review geändert hatte, war mir klar, dass das Spiel sehr schwierig für mich wird. Das Spiel verändert sich, die Charaktere gehen anders mit dir um, du wirst fahrig - das merkst und spürst du alles. Mir ist das Spiel nicht entglitten, das halte ich mir noch zugute, aber natürlich war es kein guter Tag. Andersherum gibt es auch die Spiele, bei denen du nach 20 Minuten merkst, dass heute gar nichts passieren kann und es läuft. Das gibt es zum Glück auch. Ich möchte in dem Zusammenhang aber gerne auf eine andere Sache hinweisen.
Bitte.
Ittrich: Wir dürfen uns als Schiedsrichter nicht mit den Spielern vergleichen. Beim Fußball geht es um die Spieler, nicht um uns Schiris. Wir haben auch keine Fangemeinde, die uns applaudiert, wenn wir richtige Entscheidungen treffen. Das ist unser Los und das ist auch okay. Aber ich würde mir wünschen, dass wir nicht als Roboter gesehen werden, die gefälligst jede Entscheidung richtig zu treffen haben. Wir Schiris dürfen und müssen sogar Fehler machen, um besser zu werden. Und ich verstehe nicht, dass ein Schiri danach zu Kreuze kriechen und sich noch tausendmal dafür entschuldigen soll.
Das wird aber erwartet.
Ittrich: Genau das ist das Problem. Aber die ganze Welt sieht doch, dass du Mist gebaut hast. Manchmal hast du aber einfach keine Lust. Du hast keine Lust, dich da vors Mikro zu stellen und dich zu entschuldigen. Du bist ja auch ausgelaugt und am Ende nach so einem Spiel. Es ist wichtig, dass wir uns nach einem Spiel erklären und zur Verfügung stehen, aber nicht immer. Da will ich gerne für etwas Verständnis werben, weil es uns auch öfter mal vorgeworfen wird, wenn wir uns da nicht nach drei Sekunden sofort entschuldigt haben. Ein Spieler kann dreimal das leere Tor nicht treffen und muss sich nicht in dem Maße erklären. Am Ende macht er noch das Siegtor und ist der Held. Wie gesagt, wir dürfen uns nicht mit den Spielern vergleichen, aber ich will gerne erklären, wie wir Schiris uns in solchen Situationen fühlen. Auch für uns beginnt nach dem Spiel direkt die Aufarbeitung, die wirklich intensiv ist. Wenn ein Spiel mal in die Hose gegangen ist, kann es auch sein, dass ich mir den Montag danach freinehme, weil ich die Zeit für mich und zum Beispiel auch für ganz viele Telefonate mit unseren Coaches oder Vertrauten brauche.
Zum Glück gibt es aber auch viele Spiele, die gut laufen. Kommt da auch mal die Faust in der Schiri-Kabine?
Ittrich: Absolut, nach einer sehr erfolgreichen Spielleitung wird in der Kabine auch mal eine Siegerfaust geballt. Ich sehe mich ja genauso als Sportler wie ein Spieler. Ich bin genauso emotional und ehrgeizig. Selbstverständlich feiern wir uns im Team für eine gute Leistung auch mal ab. Die schönsten Spiele sind die, bei denen ein Tag später keiner mehr weiß, ob sie überhaupt stattgefunden haben. Wenn aus Schiri-Sicht alles ganz geräuschlos verläuft. Es wäre ja Wahnsinn, wenn mir der Job als Schiedsrichter keinen Spaß bringen würde. Ich finde es überragend, auf dem Platz Entscheidungen treffen zu dürfen, mit den Spielern und Trainern zu sprechen. Jedes Kind träumt doch davon, eines Tages da unten auf dem Feld zu stehen. Und da stehe jetzt ich. Schon beim Warmmachen ist das ein überwältigendes Gefühl. Ich bin für jeden Tag dankbar, an dem ich dieses Gefühl erleben darf und will es am liebsten so schnell wie möglich wieder erleben.
Ist es auch überwältigend, wenn man als Vierter Offizieller bei einem EL-Quali-Spiel in Ufa eingeteilt ist.
Ittrich: (lacht) Wer kommt schon nach Ufa? Kein Mensch! Im Ernst: Für jemanden wie mich, der aufgrund des Alters keine Chance mehr hat, auf die internationale Liste zu kommen, sind solche Reisen zwar anstrengend, aber in der Tat auch schön. In Ufa stand Rangers-Coach Steven Gerrard neben mir, ein unglaublich netter Typ, das war cool. Ich bin auch mal als Vierter Offizieller beim EL-Playoff-Spiel zwischen Burnley und Aberdeen gewesen. Enges Stadion, ein bisschen wie das alte St. Pauli-Stadion, ausverkauft und zwei sehr emotionale englische Trainer an der Seitenlinie, die sich die ganze Zeit ein hitziges Wortgefecht geliefert und am Ende die Hand gegeben haben. Und ich stand dazwischen und habe sie machen lassen. (lacht) Ich mache diese Reisen wirklich gerne.
Ittrich: "Das Angehen des Schiris stört mich"
Das Verhalten der Spieler gegenüber den Schiedsrichtern ist teilweise unglaublich. Könnte man diese nicht erziehen, indem man einfach öfter die Rote Karte zückt, wenn die Spieler ständig den Schiri bedrängen und zutexten?
Ittrich: Das ist ein ganz schwieriges Thema. Ich denke schon, dass es theoretisch möglich wäre, ich weiß aber nicht, ob uns das guttun würde. Wenn wir es so handhaben würden, müsste es eine generelle Marschrichtung geben und alle müssten es so machen und umsetzen. Aber ergibt es Sinn? Wir haben viele verschiedene Schiedsrichter mit ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten. Mit einer ganz unterschiedlichen Interpretation der Spielleitung. Es gab immer schon Schiris, die einen härteren Stiefel gefahren sind und mehr Karten gezeigt haben. Andere machen es nicht in dem Maße, weil es ihnen und ihrer Spielleitung nicht so zu Gesicht steht. Und beide Wege können richtig sein. Das ist der entscheidende Punkt. Wenn wir jetzt eine allgemeine Richtung vorgeben würden, könnte das die Spielleitung stören. Im Fußball gibt es leider eine gewisse Akzeptanz für Verhaltensweisen, die eigentlich nicht in Ordnung sind. Die Frage ist, wie der beste Umgang damit aussieht. Wenn ich mit meiner Tochter, die gerade in der Pubertät steckt, etwas ausfechte, was mache ich dann? Komme ich mit Sanktionierungen oder nehme ich sie in den Arm und versuche eine andere Schiene zu fahren? Genauso gibt es im Fußball Situationen, da sage ich Spielern: "Hey, was ist mit dir denn los? Entspann dich mal.' Oft war es so, dass der Spieler dann runtergefahren ist und das ganze Spiel Ruhe herrschte. Situationsabhängig kann ein solcher Umgang für alle viel angenehmer sein, als mit den Karten zu wedeln. Nichtsdestotrotz gibt es Grenzen und eine Sache, die mich stört.
Nämlich?
Ittrich: Das Angehen des Schiedsrichters, die FIFA sagt dazu 'Mobbing of the Referee'. Wenn nach völlig klaren Entscheidungen fünf, sechs Mann ankommen und dir etwas erzählen wollen. Das stört mich. Ich habe kein Problem damit, mit dem Kapitän oder einem anderen Mannschaftsteil zu sprechen und zu diskutieren, aber es kann nicht sein, dass einen ständig fünf, sechs Mann bedrängen. Ich kann mich auch wehren, aber da müssen wir uns eine Linie überlegen, wie wir damit umgehen. Auch das Verhalten an der Seitenlinie muss teilweise überdacht werden. Bei der Thematik könnte uns helfen, dass wir ab der neuen Saison auch Trainern und allen Offiziellen Karten zeigen können. Dadurch wird das Verhalten der Trainer mehr in den Fokus rücken.
Wie würden Sie die vergangene Saison hinsichtlich des VAR einordnen? Am Ende war man ja nur noch genervt von dem Thema.
Ittrich: Es ist schwer, die Saison als Ganzes zusammenzufassen, weil es ganz unterschiedliche Phasen gab. Es gab teilweise verbesserungswürdige Phasen, dann lief es aber auch über weite Strecken richtig gut. Der Verlauf ähnelte einer Sinuskurve, aber insgesamt würde ich die Saison schon als gut bezeichnen. Wir dürfen nicht vergessen, wie sehr die Diskussion um den Video-Assistenten am Ende von der Handspielproblematik überlagert wurde. Andere Vergehen haben keinen interessiert - Hauptsache irgendwo gab es wieder eine Handspiel-Thematik. Die VAR-Diskussion ist im Grunde zu einer Art Handspiel-Diskussion geworden. Generell müssen wir alle begreifen, in welchem Stadium wir uns befinden. Wir sind immer noch in einer Phase, in der es nicht perfekt laufen kann. Wann wurde das Smartphone eingeführt?
gettyIttrich über "Hand ist Hand": "Das will doch niemand"
So richtig kam das im Jahr 2007.
Ittrich: Als das Smartphone eingeführt wurde, hat nichts funktioniert. Das war ganz schlimm. Es hat diverse neue Modelle gebraucht, bis die Technik wirklich top war. Wenn heute irgendwelche Updates kommen, klicken wir drauf und fertig. Wir meckern da null. Nur bei der größten Revolution in der Fußball-Geschichte wird erwartet, dass von Anfang an alles perfekt läuft. Das geht aber nicht. Das ist unmöglich. Es braucht Zeit. Und wir brauchen eine Akzeptanz für das Ermessen des Schiedsrichters auf dem Platz. Es wird immer ein Ermessensspielraum bleiben.
Es sei denn, man sagt beim Handspiel Hand ist Hand.
Ittrich: Aber das will doch niemand. Ich habe mein Leben lang Fußball gespielt. Bei uns im Hinterhof war es immer so, dass es Handspiel war, wenn einer den Ball absichtlich weggefaustet hat. Sonst nie. Alles andere war ein normaler Bewegungsablauf. Aber das ist meine persönliche Meinung.
Die Handspielregel wird modifiziert. Was ändert sich dadurch?
Ittrich: Die neue Regelung schafft insofern Klarheit, dass ab sofort in der Regel alles oberhalb der Schulter ein Handspiel ist, egal ob Absicht vorliegt oder nicht. Außerdem haben wir Klarheit, dass bei der unmittelbaren Torerzielung keine Hand involviert sein darf, auch hier wieder unabhängig von der Absicht. Im neuen Regelwerk wurden außerdem weitere Kriterien geschaffen, welche die Handspielauslegung enger eingrenzen. Bei einigen anderen Situationen liegt es im Ermessen des Schiris, insofern werden wir sicherlich weiter Diskussionen haben, daran wird sich nichts ändern. Ich finde es müßig, darüber zu diskutieren. Die Regeln werden gemacht, wie sie gemacht werden. Im Endeffekt ist es mir ehrlich gesagt auch relativ egal. Ich muss als Schiedsrichter das umsetzen, was im Regelbuch steht. Ich muss als Polizist auch auf Demos gehen und Teilnehmer schützen, denen ich vielleicht gar nicht so wohlgesonnen bin. Es ist aber meine Aufgabe. Wir müssen die Regeln allesamt so akzeptieren, wie sie sind und können nicht ständig sagen, dass wir es aber gerne anders hätten. Da muss ein Stück Ruhe einkehren und wir Schiedsrichter müssen daran arbeiten, dass wir eine noch stärkere Einheitlichkeit gewährleistet bekommen. Daran arbeiten wir im Moment.
Wie sehr nervt es Sie, wenn den Schiedsrichtern bei den Diskussionen Ahnungslosigkeit vorgeworfen wird?
Ittrich: Wenn ich höre, dass wir keine Ahnung hätten und die Regeln nicht kennen würden, kann ich mir nur an den Kopf fassen. Es stimmt nun mal nicht. Und trotzdem erzählen mir andere, wie ich meinen Job richtig zu machen habe. Man stelle sich einmal vor, ich würde nach einem Spiel zu einem Trainer gehen und ihm erzählen, dass er anders aufstellen und ein anderes System hätte spielen sollen. Was da los wäre... Es darf nicht sein, dass menschliche Fehler passieren und das System komplett explodiert. Das Rekik-Handspiel beispielsweise wurde einfach übersehen. Aber, dass der Kollege davor 500 überragende Spiele gemacht hat, interessiert dann plötzlich niemanden mehr. Das ist nicht in Ordnung.
Beim Rekik-Fall hätte wohl selbst eine Challenge nichts gebracht, weil es niemand gesehen hat. Dennoch wäre die Challenge doch ein logischer nächster Schritt.
Ittrich: Bei einer Challenge würde die Verantwortung in gewisser Weise weitergereicht werden. Ich gebe aber zu bedenken, dass eine Challenge nicht verhindert, dass 50:50-Entscheidungen getroffen werden und so oder so interpretiert werden können.
Dennoch ist es besser, wenn ein Verein nicht machtlos dasteht, sondern wenigstens eine Überprüfung anfordern kann, deren Ergebnis dann auch klar an alle im Stadion kommuniziert werden muss.
Ittrich: Okay, aber wir haben im Fußball nicht so viele Unterbrechungen wie im Football. Wie schnell kann so etwas ablaufen? Was machen wir, wenn direkt danach ein Foulspiel passiert und wir schon wieder eine neue Spielsituation haben? So einfach ist das regeltechnisch nicht. Das IFAB gibt die Regeln vor.
Ittrich: "Es geht nicht nur um die Bilder und die Beurteilung"
Das ist richtig, dennoch ein weiterer Punkt: In der NFL entscheidet am Ende New York und nicht der Ref auf dem Platz. Niemand würde von einer Enteierung sprechen, aber im Fußball will dann doch jeder, dass der Schiri auf dem Feld letztlich entscheidet. Warum?
Ittrich: Der Schiedsrichter auf dem Feld ist derjenige, der die Dynamik des Spiels erlebt und am besten entscheiden kann. Der Video-Assistent ist genauso kompetent wie der Schiedsrichter auf dem Feld und genauso konzentriert bei der Sache, aber er steht nicht auf dem Platz. Deswegen ist es besser, dass der Schiedsrichter auf dem Platz entscheidet und es auch so von allen wahrgenommen wird.
Der Videoassistent muss nicht die Dynamik des Spiels erleben, er soll sich die Bilder anschauen und entscheiden.
Ittrich: Aber es geht nicht nur um die Bilder und die Beurteilung. Es gibt Strafstoß-Situationen, bei denen meine erste Wahrnehmung auf dem Feld ist, dass es nicht für einen Elfer reicht. Dann schaue ich mir die Bilder an, sehe einen Kontakt und es reicht mir immer noch nicht. Viele sagen dann, dass man an den Bildern nicht mehr vorbeikommt, das stimmt natürlich auch irgendwo, dennoch sehe ich mich als Schiri auf dem Feld am besten in der Lage, unter Einbeziehung aller Faktoren die endgültige Entscheidung zu treffen.
Sie haben eingangs erwähnt, dass ein Schiedsrichter sich auch Fehler zugestehen muss. Babak Rafati, dem Sie damals gemeinsam mit Frank Willenborg und Holger Henschel das Leben retteten, nannte den zu großen Drang nach Perfektionismus als einen Grund, der zu seinem Selbstmordversuch führte. Wie schwer ist es, sich Fehler zu erlauben?
Ittrich: Sich Fehler zu erlauben, darf keine Rechtfertigung werden, welche zu machen. Druck gibt es in allen Branchen und jeder Mensch kann entweder besser oder schlechter damit umgehen. Die Frage ist dann, wie man besser oder schlechter damit umgeht. Wie man für sich den richtigen Weg findet. Ich bin ehrgeizig und möchte keine Fehler machen, aber wenn ich akzeptiere, dass Fehler passieren können und werden, befreit mich das und führt im besten Falle zu besseren Leistungen. Generell haben wir im Schiedsrichterwesen ein neues Beobachtungssystem bekommen. Dieses ist nicht mehr ganz so notengetrieben, das ist eine hilfreiche Weiterentwicklung.