Das Jahr danach

Von Thomas Jahn
Hannover 96 war bislang zwei Mal Deutscher meister und gewann 1992 überraschend den DFB-Pokal
© Getty

Wenige Tage vor dem Start der Bundesliga stellt SPOX alle 18 Klubs in der großen Vorschau-Serie vor - mit allen Transfers, Hintergründen und der Saison-Prognose. Diesmal: Hannover 96.

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Wackelabwehr, zwei Trainerwechsel und Abstiegskampf bis zur letzten Sekunde - Sportliches verkam in Hannovers letzter Saison beinahe zur Randnotiz. Überschattet wurde alles von der Tragödie um Robert Enke, die eine ganze Stadt in tiefe Trauer stürzte.

In der kommenden Spielzeit soll und muss bei 96 wieder Fußball im Mittelpunkt stehen. Der beherzte Schlussspurt im Abstiegskampf soll dabei als Blaupause für eine Saison ohne Sorgen dienen. "So eine Saison will bei Hannover keiner ein zweites Mal erleben", sagt 96-Verteidiger Christian Schulz nach der Last-Minute-Rettung.

Immerhin scheinen die traditionell überschwänglichen Erwartungen im Umfeld nach der Seuchensaison gedämpft. Das alljährliche Fabelziel Europa League ist selbst bei den größten Optimisten im Fan-Block vorerst passe.

Angesichts finanzieller Nöte und sechs Millionen Euro Verlust im Vorjahr erweist sich ein ambitionierter Neuanfang als schwieriges Unterfangen. Der mittlerweile ohnehin eher spärliche Kredit bei Fans und Medien kann im unruhigen Hannover zudem schnell aufgebraucht sein. Einen ersten Vorgeschmack auf den Frust einiger Anhänger gab's nach dem bitteren Aus in der 1. Runde des DFB-Pokals, als ein Teil der Mitgereisten den Mannschaftsbus blockierte. Zuvor hatten bereits knapp 100 angebliche Fans im Stadion randaliert.

Entsprechend rechnet Mirko Slomka mit einer äußerst schwierigen Saison:"Für uns ist das ein ganz bitterer Start in die Saison. Das war zu wenig und wird auch für die Bundesliga zu wenig sein. Es geht für uns darum, die Klasse zu halten."

Das ist neu

Neu ist so einiges, weinrote Trikots inbegriffen. Ausgerechnet der Retro-Look soll paradoxerweise den Neuanfang symbolisieren. Tatsächlich hat Hannover auch seinen Kader radikal verändert. Mutig, aber wohl notwendig: Im Zuge des neuen Sparkurses verließen insgesamt 13 Spieler den Klub.

Darunter langjährige Konstanten wie Jiri Stajner, Hanno Balitsch, Jan Rosenthal und Kapitän Arnold Bruggink. Die vakante Kapitänsbinde ist bereits zu Steven Cherundolo weitergewandert.

Verstärkt wurde die Slomka-Truppe ausschließlich mit ablösefreien Spielern und Talenten aus dem eigenen Nachwuchs - insgesamt neun an der Zahl. Emanuel Pogatetz, in England auch liebevoll Mad Dog genannt, kam vom FC Middlesbrough, um der 96-Innenverteidigung mit seiner Präsenz und Aggressivität an Stabilität zu verleihen. Seine angedachte Leader-Rolle füllt er zumindest im Training schon engagiert aus. Und das ist auch bitter nötig: Zwei Mal in Folge kassierte 96 ligaweit die meisten Gegentore.

In der Torwart-Frage soll Markus Miller Druck auf Florian Fromlowitz ausüben, der als Nummer 1 in die Saison geht. Für Belebung im Offensivspiel soll Flügelflitzer Carlitos sorgen, der vom FC Basel kam. Schon nach wenigen Trainingseinheiten in Hannover gilt der Portugiese als neuer Hoffnungsträger.

Jan Schlaudraff und Mikael Forssell, die nach langer Leidenszeit wieder voll im Saft stehen, sind gefühlte Neuzugänge. Besonders Schlaufdraff mauserte sich durch überzeugende Testspiel-Auftritte zu einem der Gewinner der Vorbereitung. Nichtsdestotrotz drängt Slomka immer wieder auf Verstärkungen für den Angriff - muss sich dabei aber genauso regelmäßig mit Hannovers Realität abfinden: Die Kassen sind leer.

Begabte Perspektivspieler wie Lars Stindl und Moritz Stoppelkamp stehen indes für den neuen Jugendstil und die inzwischen nachhaltig angelegte Personalpolitik der Hannoveraner. Auch Christopher Avevor und Willi Evseev aus dem eigenen U-19-Team haben den Sprung geschafft und deuteten in der Vorbereitung bereits Potential für Überraschungen an.

Die Taktik

Geprägt vom langjährigen Assistenzjob an der Seite von Ralf Rangnick ist Slomka eigentlich bekennender Fan des 4-3-3-Systems. Im Endspurt des Abstiegskampfes der letzten Saison erwies sich jedoch das trendige 4-2-3-1 als Erfolgsrezept und wird wohl auch zum Saisonauftakt gegen Frankfurt erste Wahl sein.

"Unser Nationalteam hat die Richtung vorgegeben. Aus einer sicheren und flexiblen Defensive schnell und erfolgreich kontern. Unsere junge deutsche Mannschaft hat das bei der WM gegen England und Argentinien perfekt gezeigt. Das ist auch mein Ansatz", erklärte Mirko Slomka gegenüber "bundesliga.de".

Sergio Pinto und der keck aufspielende Manuel Schmiedebach sollen als Doppelsechs verhindern, dass Hannover in der Rückwärtsbewegung überrumpelt wird - wie im letzten Jahr so oft geschehen. Die Langzeitverletzten Leon Andreasen und Altin Lala werden erst im Laufe der Saison eingreifen können.

Auf den Außenpositionen sollen die pfeilschnellen Carlitos und Didier Ya Konan für Druck sorgen. Dazwischen könnten sowohl der flexibel einsetzbare Jan Schlaudraff als auch Moritz Stoppelkamp die hängende Spitze geben - falls kein neuer Spielmacher mehr geholt wird.

Das Sturmzentrum wird wohl zunächst von Mike Hanke besetzt, der in Sachen Spielpraxis und Fitness noch Vorsprung vor dem Finnen Forssell hat.

Der Spieler im Fokus

"Er hat einen Antritt wie eine Gazelle, das ist schon enorm", sagt Thorsten Fink, Coach des FC Basel über Carlitos. Zwei Jahre arbeitete er dort mit  Hannovers portugiesischer Neuverpflichtung zusammen. Dem oft extravagant auftretenden Flügelspieler wurden in der Schweizer Medienlandschaft oft Schönspielerei und mangelnde Professionalität nachgesagt - völlig zu Unrecht, wie Fink meint. "Er ist kein Schotte, der alles nieder rennt, hat aber trotzdem immer gut nach hinten gearbeitet", versichert der 43-Jährige Ex-Profi.

"Viele Tore, gute Pässe", erwartet sich indessen Mirko Slomka von Carlitos. Die Spielanlage des 27-Jährigen vergleichen seine Mitspieler bereits nach wenigen Einheiten mit der von Szabolcs Huszti. Carlitos soll über die linke Außenbahn kommen und dort die Lücke schließen, die der Ungar nach seinem Wechsel zu Zenit St. Petersburg hinterlassen hat. In der abgelaufenen Saison gelangen Carlitos in 32 Spielen insgesamt zwei Treffer und sechs Assists für den FC Basel.

Das Interview

SPOX: Bringt Neuzugang Carlitos die Qualität mit, um 96 in der Bundesliga nach vorne zu bringen?

Thorsten Fink: Auf jeden Fall - wenn er mal verletzungsfrei bleibt. Er ist clever und technisch sehr stark. In Sachen Torabschluss und Flanken hat er jedoch noch Luft nach oben.

Das ganze Porträt von Carlitos in Kürze bei SPOX

Die Prognose

Die Zeiten, in denen Dieter Hecking die Europa Leauge als Saisonziel ausrief, sind in Hannover offiziell beendet - nicht nur, weil Hecking inzwischen den 1. FC Nürnberg trainiert. Klubchef Martin Kind peilt eine Platzierung zwischen Rang 10 und 13 an. Doch selbst diese bescheidene Prognose erscheint beim Gedanken an die letzte Saison und die wenig überzeugende Vorbereitung gewagt.

Zu viele Fragen stellen sich im Hinblick auf die unberechenbare 96-Truppe. Können Neuzugänge wie Carlitos und Pogatetz schnell Fuß fassen in der Bundesliga? Wie reagiert Florian Fromlowitz auf die Rolle des Gejagten? Hält das allgegenwärtige Verletzungspech der Hannoveraner auch im nächsten Jahr an?

Viel wird zudem davon abhängen, ob die Entschlossenheit im Abstiegskampf der letzten Saison konserviert werden kann, um für Leben in der AWD-Arena zu sorgen. Wenn im unruhigen Hannover Frust aufkommt, wird die mentale Stärke der verjüngten Mannschaft auf eine harte Probe gestellt.

Gerade dann könnte sich der Verlust erfahrener Kräfte wie Balitsch, Bruggink und Stajner rächen. Bei einem verkorksten Start droht das Trauma der Vorsaison wieder aufzuleben und das fragile Gebilde ins Wanken zu bringen. In diesem Fall zählt 96 zu den ersten Kandidaten für den Abstiegskampf.

Sollte es 96 jedoch gelingen einen guten Start hinzulegen, Selbstvertrauen zu tanken und in Ruhe zu arbeiten, ist die von Martin Kind angepeilte Platzierung durchaus drin. Genug Potenzial für das sichere Niemandsland der Tabelle ist theoretisch vorhanden. Dafür aber braucht 96 einigen Rückenwind.

Hannover 96 - Der Kader im Überblick