"Sie konnten treiben, was sie wollten"

Haruka Gruber
03. Oktober 201217:54
Machen momentan unruhige Zeiten durch: Die Spieler von Zenit St. Petersburg um Star Hulk (l.) Getty
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Russland im Ausnahmezustand und mittendrin ein seltsamer Strippenzieher aus Deutschland: Die Fußball-Welt rätselt über St. Petersburgs Transferwut und den neuen Sportdirektor Dietmar Beiersdorfer. Warum kam es im Klub zu einem Eklat? Und warum muss Schalke um seine Stars zittern? Das Interview mit Experte Maxim Lyapin.

SPOX: In Russland herrscht große Aufregung: Zenit-Kapitän Igor Denissow wurde suspendiert, weil dieser sich nach den Verpflichtungen von Hulk für 55 Millionen Euro und Axel Witsel für 40 Millionen Euro unterbezahlt fühlt. Was ist los?

Maxim Lyapin: Derzeit gibt es kein anderes Thema als Denissow, nicht nur unter den Fußball-Fans. Mittlerweile hat die Diskussion eine gesellschaftliche Relevanz. Selbst in den normalen Nachrichten oder in den politischen TV-Sendungen geht es um Denissow und wie Zenit mit ihm umgeht.

Maxim Lyapin ist Sport-Redakteur bei der führenden russischen Sport-Tageszeitung

SPOX: Was hat den Eklat ausgelöst?

Lyapin: Ein Interview von Denissow, in dem er sich bitterlich beschwert hat. Es sei nicht fair, dass Hulk und Witsel mit Geld zugeschüttet werden, obwohl er und die anderen russischen Führungsspieler Zenit erst erfolgreich gemacht hätten. Er sagt, dass es ihm nicht ums Geld an sich gehe, sondern dass ihm nur die Atmosphäre in der Kabine wichtig sei und er deswegen um mehr Fairness kämpfen wolle.

SPOX: Glauben Sie ihm?

Lyapin: Niemand in Russland glaubt ihm, deswegen macht sich gerade das ganze Land über ihn lustig. Denissow wollte die Menschen wirklich glauben machen, dass er in der Nacht nicht gut schlafen könnte, weil er sich so um die Stimmung in der Mannschaft sorgen würde. Dabei weiß jeder, dass er nur mehr Geld will, obwohl er bis 2015 pro Jahr drei Millionen Euro verdient. Drei Millionen! Zumal ich nicht glaube, dass Hulk und vor allem Witsel so viel mehr verdienen als er. Die beiden kamen aus Portugal, und meines Wissens beträgt dort das höchste Nettogehalt 1,5 Millionen Euro. Entsprechend wird ein Witsel vollkommen zufrieden sein, wenn er von Zenit zwei bis drei Millionen Euro bekommt. Deswegen kursieren überall Witze auf Denissows Kosten. Oder es wird hochgerechnet, dass ein russischer Lehrer 240 Jahre und ein russischer U-Bahn-Fahrer 170 Jahre arbeiten müssten, um so viel zu verdienen wie Denissow in einem Jahr.

Igor Denissow im SPOX-Porträt: Eine Karriere voller Skandale

SPOX: Man könnte die Episode als die Exzentrik eines überheblichen Fußballs-Stars abtun. Aber verdeutlicht diese einen grundsätzlichen Konflikt im Verein?

Lyapin: Deswegen ist die Zenit-Führung derzeit auch sehr, sehr angespannt. Zum Beispiel wurden beim letzten Ligaspiel gegen Lokomotive Moskau offenbar die Fans nach Bannern und Fahnen durchsucht, um Bekundungen für und vor allem gegen Denissow zu vermeiden. Zenit will bloß kein weiteres Öl ins Feuer gießen.

SPOX: Worin besteht das Spannungsfeld in St. Petersburg?

Lyapin: Der Verein steht vor einer sehr schwierigen Aufgabe. Bis zuletzt wurden Spieler wie Denissow, Alexander Kerschakow, Wladimir Bystrow und Wjatscheslaw Malafejew von Zenit geschützt und ihnen wurden alle Undiszipliniertheiten vergeben, weil sie alle in der eigenen Jugend ausgebildet wurden und die Identifikationsfiguren sind. Im Grunde konnten sie bis jetzt alles treiben, was sie wollten.

SPOX: Und dann kommt mit Dietmar Beiersdorfer ein neuer Sportdirektor, der ihnen Hulk und Witsel vor die Nase setzt.

Lyapin: Ich glaube, dass Zenit eine neue Kultur in den Verein hineinbringen möchte. Was bringt es, die nächste russische Meisterschaft zu gewinnen? St. Petersburg soll vor allem in der Champions League endlich eine wichtigere Rolle spielen - und dafür müssen alte Gewohnheiten abgelegt und neue Impulse gesetzt werden. Dass dieser Wandel schwierig wird, ist klar. An Denissow wird sich zeigen, wie ernst es Zenit ist. Wenn die Bosse jetzt einknicken, wäre es ein fatales Zeichen, denn daraufhin würden alle anderen Spieler kommen und gleichfalls eine Gehaltserhöhung verlangen.

SPOX: Was sagt Beiersdorfer zu alldem? Obwohl er offenbar seit Wochen für St. Petersburg arbeitet, ist auf der offiziellen Website nichts vom ihm zu finden. Nicht einmal auf der Auflistung des Managements.

Lyapin: Beiersdorfer sagt immer noch nichts. Es gibt keine einzige Äußerung von ihm. Sehr seltsam.

SPOX: Eine offensichtliche Frage: Ist Beiersdorfer wirklich der Sportdirektor von Zenit St. Petersburg?

Lyapin: Das wurde von Witsel bestätigt. Ich führte mit Witsel gleich nach dem Wechsel ein Interview und fragte ihn, wie wichtig Trainer Luciano Spalletti für seine Entscheidung war. Witsel antwortete, dass er sich nicht mit Spalletti sondern mit Beiersdorfer unterhalten habe. Ungefähr drei-, viermal. Und ich weiß, dass Beiersdorfer mittlerweile physisch in St. Petersburg da sein muss, weil Witsel immer zu ihm geht, wenn er über etwas sprechen möchte.

SPOX: Beiersdorfers extreme Zurückhaltung ist sehr ungewöhnlich. Wie ist die Stimmung gegenüber dem Unbekannten aus Deutschland, der gleich zum Amtsantritt rund 100 Millionen Euro ausgibt?

Lyapin: So unbekannt ist Beiersdorfer gar nicht. Er hat in Hamburg Spieler wie Rafael van der Vaart und Vincent Kompany verpflichtet, sie besser gemacht und für viel Geld weiterverkauft. Daher genießt er einen guten Ruf. Zenit verfolgt zwar einen anderen Businessplan als der HSV und hat es nicht nötig, Gewinne durch Spielerverkäufe zu erzielen. Zenit wollte ihn dennoch, weil Beiersdorfer Erfahrung darin hat, mit Klubs wie Chelsea, Manchester City und dem FC Bayern zu verhandeln. SPOXGetty

SPOX: Bei Zenit verwaltet er andere Summen als in Hamburg oder bei Red Bull Salzburg.

Lyapin: Auf der anderen Seite sollte Beiersdorfer keine Probleme haben, die Leistung seiner Vorgänger zu übertreffen. Der frühere Sportdirektor Igor Kornejew holte fast nur Spieler, die Zenit nullkommanull weiterbrachten: Michael Lumb, Danko Lazovic, auch Szabolcs Huszti, der erst wieder gut spielt, seit er von St. Petersburg nach Hannover zurückging. Nach Kornejews Weggang übernahm Spalletti dessen Aufgabe mit, aber die Doppelfunktion war zu viel für ihn. In zwei Transferperioden hintereinander ist fast nichts passiert, weil Spalletti sich als Trainer um die Mannschaft kümmern musste. Daher wurde Beiersdorfer eingestellt.

Seite 2: Führungsstrukturen, Philosophie und Monster-Transfers

SPOX: Über welche Kontakte bekam Beiersdorfer den reizvollen Job bei Zenit?

Lyapin: Das weiß ich leider nicht. Es ist eine sehr interessante Frage.

SPOX: Die Zenit-Führungsstruktur ist nicht einfach zu durchschauen. Vor wem muss sich Beiersdorfer verantworten?

Lyapin: Der offizielle Präsident heißt Alexander Dyukow, quasi ein Abgesandter von Geldgeber Gazprom. Dazu gibt es mit Maxim Mitrofanow einen sehr jungen Generaldirektor, der Hand in Hand mit Beiersdorfer arbeitet. Der große Boss ist jedoch Alexei Miller, der CEO von Gazprom. Bei den allerwichtigsten Themen wird Beiersdorfer direkt zu Miller berichten.

SPOX: Seit dem Doppelwechsel Hulk/Witsel wurde keines der drei Liga-Spiele gewonnen und zum Champions-League-Auftakt setzte es ein 0:3 in Malaga. Müssen Beiersdorfer und Spalletti schon jetzt zittern?

Lyapin: Nein, davon gehe ich nicht aus. In Westeuropa gibt es Vorurteile, wobei speziell Gazprom und Miller nicht so ungeduldig sind, wie man das angesichts der Ausgaben vermuten könnte. Beiersdorfer und Spalletti werden ihre Zeit bekommen. Die Verantwortlichen wissen, dass dieser Sommer nur der erste Schritt sein kann. Sie sehen es als sehr großen Erfolg an, wenn in dieser Saison das Champions-League-Viertelfinale erreicht werden würde.

SPOX: Wirklich?

Lyapin: Man muss die Ausgaben für Hulk und vor allem Witsel richtig verstehen. Natürlich war jeder sehr überrascht, dass Zenit für einen Belgier, der ein Jahr zuvor nur neun Millionen Euro gekostet hatte, 40 Millionen Euro ausgibt. Witsel ist ein toller Fußballer, aber es gibt Spieler seiner Kategorie schon für 15, 20 Millionen Euro. Zenit ging es vor allem darum, eine Botschaft an die ganze Welt zu richten: "Seht her, wir meinen das ernst!" Die russische Liga verpflichtet seit einigen Jahren gute Namen aus Westeuropa. Allerdings sind diese Spieler entweder nicht so bekannt wie Danny oder sie bereiten sich langsam auf das Karriereende vor. Hulk und Witsel sind hingegen im besten Fußballer-Alter.

SPOX: Wie stark ist Zenit mit Hulk und Witsel?

Lyapin: Vom Talent her muss Zenit mindestens das Champions-League-Achtelfinale erreichen. Ich schätze St. Petersburg stärker ein als der nächste Gegner Milan (20.30 Uhr im LIVE-TICKER) und Anderlecht. Selbst in Malaga war Zenit nicht so chancenlos, wie das 0:3 klingt. Es lag vor allem an den individuellen Fehlern der Abwehrspieler, die nur spielen, wenn andere fehlen. Bruno Alves und Aleksandar Lukovic waren furchtbar und Malaga hätte drei Tore mehr schießen können. Normalerweise spielt in der Innenverteidigung Nicolas Lombaerts für Alves und hinten links Domenico Criscito für Lukovic.

SPOX: Sind in den nächsten Transferperioden weitere Blockbuster-Transfer denkbar?

Lyapin: Spätestens jetzt sieht man, warum Zenit unbedingt Schalkes Kyriakos Papadopoulos wollte. Lombaerts ist im Abwehrzentrum gesetzt, Nebenmann Tomas Hubocan, ein Slowake, ist nur solide und nicht viel mehr. Bruno Alves darf ohnehin nur noch im Notfall ran. Daher wird St. Petersburg bereit sein, für einen Innenverteidiger und vielleicht einen Mittelstürmer richtig zu investieren.

SPOX: Welche Kandidaten gibt es?

Lyapin: Zenit zeigt auffällig viel Interesse an Spielern aus Schalke, vielleicht liegt das an Beiersdorfer oder an Gazprom als gemeinsamer Sponsor. Papadopoulos hat sich für die Vertragsverlängerung auf Schalke entschieden, aber dass Spalletti einen Klaas-Jan Huntelaar gerne haben will, hat er bereits öffentlich bestätigt. Und nach Papadopoulos' Absage ist für die Abwehr Benedikt Höwedes ein Thema.

SPOX: Kann man davon ausgehen, dass Zenit ab jetzt zu den Big Playern auf dem Transfermarkt gehört?

Lyapin: Was man sagen kann: Zenit wird nicht in jedem Sommer 100 Millionen Euro ausgeben, zumindest nicht für Stars aus Westeuropa. Das liegt an der Ausländerregel in der russischen Liga. In dieser Saison sind vier Ausländer auf dem Platz erlaubt, ab nächster Saison sind es fünf Ausländer. Und Stand jetzt besitzt Zenit bereits fünf Ausländer, die richtig stark und in einem guten Alter sind: Hulk, Witsel, Danny, Lombaerts, Criscito. Die anderen Ausländer wie Alves und Lumb werden abgegeben, dafür soll eben noch ein starker Innenverteidiger und wenn möglich Mittelstürmer kommen. Danach macht es keinen Sinn, noch mehr Ausländer zu holen. Daher wird sich St. Petersburg gezwungenermaßen auf den russischen Markt konzentrieren müssen. An ZSKA Moskaus Alan Dsagojew ist man schon lange dran und Lokomotive hat im Sommer für Denis Gluschakow von Zenit 20, 25 Millionen Euro gefordert.

SPOX: 20, 25 Millionen Euro für einen 25-jährigen Mittelfeldspieler, der in Westeuropa fast gänzlich unbekannt ist: Wie soll sich Zenit weiter verstärken, wenn das Financial Fair Play konsequent von der UEFA angewandt wird?

Lyapin: Ich sehe keine großen Probleme. Zenit wirtschaftet besser, als viele glauben, unter anderem ist das Marketing vorbildlich. Das wird in Westeuropa häufig unterschätzt. Und dann gibt es ja noch Gazprom im Rücken. Egal, wie die Regelung der UEFA am Ende umgesetzt wird, zur Not wird eben eine der vielen Zuliefererfirmen von Gazprom zum neuen Sponsor ernannt. Es gibt ausreichend Möglichkeiten, um die Millionen auf Zenit umzulegen.

Zenit-Experte Maxim Lyapin (26) ist Sport-Redakteur bei der führenden russischen Sport-Tageszeitung "Sovetsky Sport".

Zenit St. Petersburg im Steckbrief