Giovanni Trapattoni ist eine Marke. Eine Legende. Der 76 Jahre alte Italiener ist einer der erfolgreichsten Trainer in der Geschichte des Fußballs. In seiner langen und vorzeigbaren Karriere holte er weit über 20 Titel. Der Mister trainierte die besten Vereine der Welt und prägte einen Fußballstil, der zwar nicht der ansehnlichste war, dafür aber recht regelmäßig Erfolge versprach.
Trapattoni stand für konservativen Sicherheitsfußball, wie er im Buche steht. Catenaccio, das ist Trapattoni in Fleisch und Blut. Man muss es nicht lieben, man kann es gar verabscheuen, aber nicht umsonst taucht heute noch sein Name in Kandidatenlisten auf, wenn irgendeine Nationalmannschaft schnell ein paar gute Ergebnisse braucht und hierfür ein Experte an der Seitenlinie benötigt wird.
Dass von so einem Mann mit einer derartigen Philosophie folgende Fußballweisheit stammt, mag dann unter diesen Bedingungen durchaus verblüffen: "Es gibt nur einen Ball", sagte Trapattoni einst, "wenn der Gegner den Ball hat, stellt sich die Frage: Warum hat er den Ball?"
Warum hat mein Mitspieler den Ball?
Nun, diese Grundsatzfrage könnte eigentlich auch von Pep Guardiola kommen. Und dieser ist wahrlich kein Verfechter des Catenaccio, aber wahrscheinlich führen beim Fußball in der Tat alle Wege nach Rom. Auch Thiago Alcantara kann sich mit dieser Weisheit anfreunden. Wobei der Spanier die Hypothese wahrscheinlich ausbauen würde. Denn Thiago fragt sich manchmal nicht nur, warum der Gegner den Ball hat, sondern auch, warum sein Mitspieler ihn hat - und nicht er selbst.
"Er will den Ball - immer", sagte mal Pepe Reina, Ersatztorhüter des FC Bayern in der Saison 2014/2015 und ein enger Vertrauter Thiagos. Beim FC Bayern geben sie Thiago gerne den Ball, weil der Mann mit brasilianischen Wurzeln die Gabe hat, jeden Ball - auch den, der eigentlich unbrauchbar zu ihm gespielt wurde, so zu verarbeiten, dass ein Sinn aus dem Ganzen entsteht.
Ein Jahr krankgeschrieben
"Die wichtigste Qualität von Thiago ist, dass er Fußball denkt, da ist er der beste Spieler der Welt", sagt Guardiola über den Spieler, den er schon 2007 zur B-Mannschaft des FC Barcelona holte und seitdem in die Fähigkeiten des Alcantara verschossen ist. Wenn es auf diesem Planeten einen Fußballer gibt, der Guardiola-Fußball verkörpert, dann ist es dieser Thiago Alcantara. Die Geschichte, dass er der einzige und größte Wunsch des Bayern-Trainers war, wurde zigmal erzählt.
Das große Problem war aber bisher, dass Thiago zwar Guardiolas Ideen fast immer exzellent umsetzte, aber auch eine leidige Verletzungshistorie vorzuweisen hat. Ein Syndesmosebandriss und drei Innenbandrisse - kumuliert weit über ein Jahr Krankschreibung - hatten zur Folge, dass der Mittelfeldspieler eigentlich nie einen echten Rhythmus beim FC Bayern genoss. Kaum war er heiß, war er wieder weg.
Thiagos Probleme
So war es bei jeder Rückkehr beeindruckend, wie schnell Thiago auf Betriebstemperatur kam und Bälle so filigran und bestimmt verteilte, als wäre er nie weg gewesen.
Nie weg war er immerhin im bisherigen Saisonverlauf: Erstmals absolvierte Thiago eine komplette Sommervorbereitung beim FC Bayern. Er stand - bis auf das Gastspiel in Darmstadt, bei dem viele Leistungsträger geschont wurden - in jedem Ligaspiel auf dem Platz. Ein echter Quantensprung, bedenkt man, dass er in zwei Jahren gerade mal auf sechs Hinrunden-Spiele in der Bundesliga kam. Der September ist gerade vorbei und Thiago hat diese Quote jetzt schon erfüllt.
Die Vorzeichen versprechen eigentlich eine Leistungsentwicklung, aber Thiago offenbart ausgerechnet jetzt negative Verhaltensauffälligkeiten in seinem Spiel und seinen Vorgängen auf dem Platz. Das was Thiago macht, ist immer noch gut, aber eben nicht besser. Thiago spielt nicht immer griffig und damit verliert er an Gewicht in der Schaltzentrale der Münchener.
Pep schubste Thiago weg
Die Opta-Statistiken sprechen für sich: Hatte Thiago in der Vorsaison noch durchschnittlich 142 Ballaktionen pro Spiel, sind es bisher nur 96. Der Mittelfeldspieler büßte auch an seiner Wirksamkeit in der Offensive ein: Thiago hat weniger Torschussbeteiligungen als in der Vorsaison (3,5 statt 4,2) und auch die Quote der erfolgreichen Pässe ist leicht rückläufig.
"Ich will mehr von Thiago", sagte Guardiola nach dem Auftaktspiel in der Champions League bei Olympiakos Piräus, obwohl es gefühlt das erste Spiel des "alten" starken Thiago war. Piräus war kein Einzelfall: Es bleibt nicht verborgen, dass Peps Ton gegenüber seinem Ziehsohn rauer wird.
Exemplarisch dafür steht auch das Heimspiel gegen den FC Augsburg, indem das Duo während des Spiels beinahe aneinander geriet. Es war zugleich wohl auch das schwächste Spiel Thiagos in zweieinhalb Jahren FC Bayern. Guardiola korrigierte fortwährend das Positionsspiel der Nummer 6, explodierte regelrecht, als alle restlichen Münchener gerade das 2:1 bejubelten. Als Thiago fast schon entschuldigend zur Seitenlinie kam, schubste ihn Guardiola weg.
Welche Rolle hat Thiago?
Womöglich würde der Katalane dies bei einem anderen Spieler in dieser Intensität nicht machen, aber Thiago ist sein Spieler. Thiago ist sein Karriereprojekt und ihm liegt viel daran, dass der Mann mit den flinken Beinen funktioniert. Pep sagt zwar: "Ich stelle keine Mannschaft für einen Spieler auf. Ich stelle die Mannschaft auf, weil jene Elf in diesem Augenblick die beste für den Verein ist." Aber Thiago genießt dann doch immer eine besondere Beobachtung und Aufmerksamkeit.
Möglicherweise darf man bei der Suche nach den Gründen auch gar nicht nur bei Thiago selbst Halt machen, sondern muss die veränderten Gegebenheiten im Bayern-Spiel in Betracht ziehen. Thiago war, wenn er nicht verletzt war, immer der Spieler, der den Ball beansprucht und letztlich bekommen hat. Es ist kein Zufall, dass er zwischenzeitlich den Bundesliga-Rekord in Sachen Ballaktionen brach.
"Er muss spielen, spielen, spielen"
Aber heuer hat Bayern mit Arturo Vidal einen weiteren Mann, der impulsiv spielt, Macht und Ball beansprucht. Auch Xabi Alonso und Philipp Lahm sind von Natur aus keine Nebendarsteller. Die Rollenverteilung ist klar: Alonso denkt, Vidal führt, Lahm kooperiert, nur Thiago muss noch seine ultimative Aufgabe finden, obwohl er eigentlich lieber alles übernehmen würde. Doch Thiago muss mehr teilen als früher, mehr Kompromisse eingehen. Und dabei die perfekte Rolle erst noch finden.
Ist die Feinjustierung abgeschlossen, wird Thiago wieder der Alte sein. Zumal er das erfüllt, was sein Trainer als oberste Erwartung formulierte: "Er muss spielen, spielen, spielen. Sein Ziel muss es sein, jetzt mal zehn, 15 Spiele hintereinander zu machen." Die Hälfte hat er schon mal.
Dass Thiago in dieser Phase dem Münchener Oktoberfest einen Besuch abstattete und dies mit einem Foto auf Facebook dokumentierte, störte Guardiola nicht weiter. "Ich bin nicht der Vater, und auch nicht die Mutter der Spieler. Ich bin ihr Trainer und nicht dazu da, um sie zu kontrollieren."
Genau an dieser Stelle trennen sich dann doch die Wege von Pep und Trap - oder was erlauben Thiago?
Thiago Alcantara im Steckbrief