Klopps Co-Trainer Peter Krawietz im Interview: "Wir sind teils massiv benachteiligt worden"

Jochen Tittmar
16. Juli 202015:49
Peter Krawietz ist langjähriger Co-Trainer von Jürgen Klopp.imago
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Peter Krawietz ist langjähriger Co-Trainer von Jürgen Klopp und steht mit dem FC Liverpool am Samstag im Champions-League-Finale gegen Real Madrid (20.45 Uhr im LIVETICKER).

Seite 1: Krawietz über das Stahlbad Premier League, ManCitys neuen Fußball und Schiris

Im Interview spricht Krawietz über Manchester Citys neue Form von Fußball, Benachteiligungen von Schiedsrichtern, seine Argumente für den Videobeweis, den Wechsel von Philippe Coutinho und das Endspiel gegen die Königlichen.

SPOX: Herr Krawietz, für Sie ist es nach 2013 mit dem BVB das zweite Champions-League-Endspiel Ihrer Karriere. Wie viele Karten für die Partie in Kiew haben Sie denn besorgen müssen?

Peter Krawietz: Wir haben diesmal ein anderes Konstrukt gewählt. Da die Hotelpreise in Kiew unglaublich explodiert und 3000 Euro pro Nacht keine Seltenheit sind, haben wir unsere Freunde zu einer Party nach Liverpool eingeladen. Meine Frau hat im Dezember Geburtstag, und als wir im Januar alle für ein Fest möglichen Termine durchgegangen sind, blieb nur der 25. Mai übrig. Jetzt wird daraus eben eine Champions-League-Finalparty - und ich habe die Sache mit den Karten galant umschifft. (lacht)

SPOX: Liverpool ist am letzten Spieltag der Premier-League-Saison die erneute Qualifikation für die Königsklasse geglückt. Fehlte gerade nach dem 5:2-Halbfinalsieg im Heimspiel gegen Rom zuletzt ein bisschen der Fokus, weil das große Spiel über allem steht?

Krawietz: Nein, da würde ich nicht mitgehen. Die Gründe waren ausschließlich sportlicher Natur. Besonders nach der letzten Länderspielpause erwischte uns das Verletzungspech erheblich. Uns sind innerhalb von ein paar Tagen vier, fünf Leistungsträger weggebrochen. Dadurch gerieten wir in eine Situation, die das Belastungsmanagement und die Spielrotation nahezu unmöglich gemacht hat. Wir mussten speziell in den Ligaspielen ein bisschen basteln und Spieler einsetzen, denen teilweise die hundertprozentige Fitness und Spielpraxis fehlte oder sie auf Positionen einsetzen, die sie zwar spielen können, auf denen sie aber keine Gewohnheiten hatten. Das hatte also nichts mit Nachlässigkeit zu tun. Umso zufriedener und stolz sind wir, es am Ende unter die Top vier geschafft zu haben.

SPOX: Im letzten SPOX-Interview kurz nach der Ankunft des neuen Trainerteams sagten Sie, man wolle sich nun erst einmal die bestehenden Abläufe anschauen. Nach jetzt drei Spielzeiten - welche Dinge wurden letztlich am stärksten verändert?

Krawietz: Mittlerweile haben wir schon an ein paar Stellschrauben gedreht. Das sind normale Anpassungsprozesse aufgrund unserer gemachten Erfahrungen. Der Aufwand hier ist massiv, daher versuchen wir, unsere organisatorischen Abläufe so gut es geht zu optimieren. Wir reagieren zum Beispiel auf die dauerhafte Belastung, indem wir Hotelaufenthalte auf ein Minimum reduzieren, um die Zeit zu Hause sowie die Möglichkeit der Regeneration auszudehnen. Die größte Umstellung ist sicherlich das Thema Ernährung. Wir haben Ernährungsberater unter der Leitung von Mona Nemmer dazu geholt. Dort wird nun sehr gezielt für jeden Einzelnen und die Gruppe gearbeitet, um diesem Thema gerecht zu werden.

SPOX: Wie bewerten Sie die englische Liga, sind Sie da zu neuen Erkenntnissen gekommen?

Krawietz: Im Grunde nicht. Die Premier League ist und bleibt ein Stahlbad. Sie ist eine tolle und intensive Schule für Spieler wie Trainer. Hier werden alle Formen von Fußball praktiziert, die man so antreffen kann. Es gibt technisch starke Mannschaften wie Manchester City, Arsenal oder Tottenham und Teams, die extrem direkt und mit maximaler Intensität spielen. So hat man Spieltag für Spieltag eine große Herausforderung zu bewältigen, weil man sich auf die vielfältigen Herangehensweisen der Teams einstellen muss. Dazu ist die Spannung sehr groß, auch wenn ManCity in dieser Saison eine neue Form von Fußball entwickelt hat, die über allem stand.

SPOX: Was ebenfalls neu sein wird in der kommenden Saison, ist die Einführung des Videobeweises, der in der Bundesliga für reichlich Gesprächsstoff gesorgt hat. Wie stehen Sie dazu?

Krawietz: Ich bin ein großer Fan des Videobeweises, auch wenn es in Deutschland etwas problematisch abgelaufen ist. Das ist ein neues System, das man lernen muss und bei dem Dinge im Prinzip neu definiert werden müssen. Das sollte jetzt mit Sicherheit weiter verbessert werden. Für mich geht es dabei aber vor allem darum, die kapitalen Fehlentscheidungen zurücknehmen zu können.

FC Liverpool: Der Weg ins Champions-League-Finale

RundeGegnerHinspielRückspiel
GruppenphaseFC Sevilla2:2 (H)3:3 (A)
GruppenphaseSpartak Moskau1:1 (A)7:0 (H)
GruppenphaseNK Maribor7:0 (A)3:0 (H)
AchtelfinaleFC Porto5:0 (A)0:0 (H)
ViertelfinaleManchester City3:0 (H)2:2 (A)
HalbfinaleAS Rom5:2 (H)2:4 (A)

SPOX: Das hat in Deutschland leider auch nicht vollumfänglich geklappt.

Krawietz: Das stimmt. Wenn ich jedoch sehe, wie Erzgebirge Aue nun massiv davon betroffen war: Mit Torlinientechnik und Videobeweis wären solche Fehlentscheidungen schlichtweg ausgeschlossen. Das ist der wichtigste Punkt, den uns diese Techniken liefern können. Es braucht Verbesserungen und eine eindeutige Regelung, aber eigentlich ist der Videobeweis ein Muss. Deshalb ist es für mich unverständlich, weshalb er in einer speziellen Liga wie der Premier League erneut um eine Saison hinausgezögert wurde.

SPOX: Liverpool hat in der abgelaufenen Saison auch die eine oder andere fragwürdige Entscheidung akzeptieren müssen. Es gibt ja zum Beispiel den Fakt, dass Tottenham Hotspur beim Auswärtsspiel in Anfield mehr Elfmeter zugesprochen bekam, als der FC Liverpool in der gesamten Saison.

Krawietz: So ist es. Wir haben uns zum wiederholten Male gegen alle Widerstände durchsetzen müssen und sind teilweise massiv benachteiligt worden. Das hat uns aktiv Punkte gekostet und brachte uns in eine Situation, die wir zusätzlich als Hürde empfunden haben. Der erwähnte Fakt spricht eine eindeutige Sprache und ist in der Form eigentlich gar nicht hinzunehmen. Was da schief läuft, ist selbst mit dem größten Verständnis nicht mehr zu erklären.

SPOX: Ein englisches Dauerthema ist die fehlende Winterpause. Wie gehen Sie in Liverpool mittlerweile vor, um die hohe Belastung so gut es geht zu überstehen?

Krawietz: Man muss seinen Kader breiter aufstellen, um das auf mehrere Schultern zu verteilen - das ist die einzig mögliche Lösung. Das haben wir vor der Saison versucht, und es hat bis März ganz gut funktioniert, doch dann hat der Verletzungsteufel zugeschlagen. Anschließend merkte man schnell, dass wir unser hohes Niveau nicht mehr halten konnten.

SPOX: Weil man letztlich einfach zu viele Spiele zu absolvieren hat?

Krawietz: Natürlich, insbesondere in den Cup-Wettbewerben mit den dort geltenden Regelungen. Die sind der Killer. Ab einem bestimmten Zeitpunkt der Saison kann man regelrecht dabei zusehen, wie die Top-Spieler mit einem Energielevel herumlaufen, das es ihnen nicht mehr ermöglicht, die beste Leistung abzurufen. Für jeden Verein, der sich diesen vollumfänglichen Belastungen stellen darf, ist das wahnsinnig schwierig zu regeln. Im Grunde genommen müsste auch da jemand auf die Idee kommen, eine neue Regelung zu finden. Es gibt meines Wissens immerhin Pläne, eine Art Winterpause oder zumindest ein spielfreies Wochenende für jede Mannschaft einzuführen, indem man einen kompletten Spieltag über zwei Wochenenden verteilt.

SPOX: Liverpool landete wie im Vorjahr auf Rang vier, mit einem Punkt weniger als 2016/2017. Wie sah die Analyse der Vor-Saison aus, welche Erkenntnisse haben Sie aus dem letzten Jahr gezogen?

Krawietz: Die zwei essentiellen Punkte waren: Wir wollten uns durch eine Verbreiterung des Kaders stabilisieren, um in dem geforderten Rhythmus konstantere Leistungen abrufen zu können. Darüber hinaus rückten wir das Zusammenwachsen als echtes Team in den Fokus, denn dort schlummerte noch großes, ungenutztes Potential. Ein gutes Beispiel ist das Hinspiel gegen Tottenham nach unserem 7:0-Sieg in Maribor. Da waren die Jungs drei Tage später im Kopf nicht bereit für ein Spitzenspiel in der Premier League, und wir verloren mit 1:4. Das hat sich mittlerweile wirklich sehr verbessert, wir haben auf diesem Gebiet einen großen Entwicklungsschritt gemacht.

SPOX: Welche Schritte wird man in der kommenden Saison angehen?

Krawietz: Der Ansatz wird sich nicht großartig unterscheiden. Wir haben jetzt zum Ende der Saison festgestellt, wie schnell es passieren kann, dass ein breiter Kader plötzlich doch zu dünn wird. Entsprechend werden wir personell reagieren.

SPOX: Und rein fußballerisch gesehen?

Krawietz: Wir wollen unsere Art des Fußballs weiter verfeinern und nach Bedarf vielleicht auch etwas abändern, um variabler zu werden. Wir haben über weite Teile der Saison mit einem System gespielt. Es kann daher sein, dass wir sagen, es muss künftig auch möglich sein, beispielsweise einmal mit einer Dreierkette aufzulaufen. Das sind letztlich Detailfragen. Wir wollen in unserem taktischen Portfolio auf die verschiedenen Spielstile eingestellt sein und darauf eine fußballerische Antwort parat haben. Die anderen Teams entwickeln sich ja auch permanent weiter und gehen die nächsten Schritte.

SPOX: An der Offensivabteilung wird man wohl nur wenig auszusetzen haben. Mohamed Salah, Roberto Firmino und Sadio Mane haben wunderbar funktioniert und harmonieren hervorragend. Inwiefern war durch diese Tatsache der Abgang von Philippe Coutinho zu verschmerzen?

Krawietz: Sein Wechsel war sehr schmerzhaft, denn uns gingen seine Qualität und der spezielle Spielstil verloren. Wir mussten uns daher fragen: Kann die Gruppe das auffangen? Können wir es sportlich verantworten, diesem dringenden Wechselwunsch stattzugeben? Das haben wir am Ende bejaht, auch wenn es mit Bauchschmerzen und Veränderungen verbunden war. Phil war eine prägende Figur bei uns. Es war schade, dass er gegangen ist. Wir haben es aber glücklicherweise geschafft, seinen Verlust gemeinschaftlich aufzufangen.

SPOX: Ab einem bestimmten Zeitpunkt wollte Coutinho nur noch weg und unbedingt zum FC Barcelona gehen. Wie machtlos hat man sich im Trainerteam rund um seinen Wechsel gefühlt?

Krawietz: Man merkt natürlich, ob ein Spieler glücklich oder unglücklich ist. Wenn ein Verein an einen Spieler herantritt und ihm Dinge nahelegt, wie er eine Situation erzwingen könnte, die die Lage für seinen aktuellen Arbeitgeber verkompliziert, dann ist das nicht schön und belastend für alle. Das war natürlich auch in der Gruppe ein Thema, wenngleich sich Phil bis zum letzten Tag in Liverpool sportlich bestmöglich ins Team eingebracht hat.

SPOX: Dachte man daran, direkt Ersatz zu beschaffen?

Krawietz: Wir haben uns schon umgeschaut, doch wenn man das tut, merkt man relativ schnell, wie sehr die Preise seit dem Neymar-Wechsel im letzten Sommer explodiert sind. Jeder Verein wusste ja, dass in Barcelona nun 222 Millionen Euro auf dem Konto herumliegen. Das führte zu ein paar unglaublichen Geschichten und einer Spirale, die man beispielsweise nicht nur bei uns, sondern auch in Dortmund zu spüren bekam.

SPOX: Auch ohne unmittelbaren Coutinho-Ersatzmann schafften es die Reds ins Endspiel der Champions League. Es ist für das Trainerteam bei weitem nicht das erste Finale, gewonnen wurde aber schon länger keines mehr. Inwiefern tangiert Sie dieser oft zitierte Endspielfluch?

Krawietz: Gar nicht. Wir haben kein Finaltrauma, denn man kann und muss das letztlich erklärbar ausdifferenzieren. Wir erlitten in keinem der verlorenen Finalspiele einen Totalausfall. Außerdem haben wir nicht alle Endspiele ausschließlich verloren, sondern auch eines gewonnen. Nimmt man den deutschen Supercup hinzu, der zu einem anderen Zeitpunkt gewissermaßen einem Finale ähnelt, dann kommen wir auf zwei weitere Siege. Letztlich erzählt jedes Finale immer seine eigene Geschichte. Die einzige Gemeinsamkeit, die ich erkennen kann, ist, dass wir kaum einmal als Favorit in ein Endspiel gingen, sondern uns durch überdurchschnittliche Leistungen immer dorthin vorgekämpft haben.

SPOX: Wie sieht es denn mit den Kraftreserven aus, hat das Team noch ausreichend Luft für das Duell mit Real Madrid?

Krawietz: Ein wichtiger Faktor ist, dass wir nun 14 Tage Zeit hatten, um die Mannschaft darauf vorzubereiten. Sie konnten die Akkus für dieses eine Spiel wieder aufladen. Und dann bleibt auch ein Finale letztlich ein Fußballspiel, bei dem die Gefahr besteht, dass man es verlieren kann. Wir im Trainerteam ziehen unser Selbstvertrauen aus der Tatsache, schon so oft ein Endspiel erreicht zu haben - und werden versuchen, dies an unsere Spieler weiterzugeben.

SPOX: Real Madrid hat die Chance, zum dritten Mal in Folge die Königsklasse zu gewinnen. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Krawietz: Sie sind in den letzten Jahren in der Champions League zu einem Ergebnismonster mutiert und besitzen eine wahnsinnige Erfahrung. Geht man einmal die Finalkader der beiden letzten Endspiele durch, dann haben sie 2017 im Vergleich zum Vorjahr nur eine Position ausgetauscht und wären rein theoretisch in der Lage, in diesem Jahr wieder dieselbe Mannschaft wie beim letzten Endspiel aufzustellen. Mittlerweile haben sie die nächste Generation mit Spielern wie Asensio oder Vasquez in der Hinterhand, die allesamt unfassbar gut und jetzt schon sehr routiniert sind. Real ist einfach extrem eingespielt, sie kennen sich untereinander blind, haben unglaubliche fußballerische Qualitäten und eben Erfahrung im Überfluss. Wir wollen und müssen daher das Spiel unseres Lebens spielen, um dieser Herausforderung gerecht zu werden.