Wenn Ajax Amsterdam am Dienstagabend (21 Uhr live auf DAZN und im Liveticker) im Champions-League-Halbfinale auf Tottenham Hotspur trifft, kämpfen zwei Überraschungsteams um das Finalticket von Madrid. Gerade Ajax hat in den K.o.-Runden gegen Real Madrid und Juventus begeistert, was auch ein Verdienst von Trainer Erik ten Hag ist. Der "holländische Pep Guardiola" fand seinen Weg von den Bayern-Amateuren in die Wiege des Voetbal totaal - und gab ihm ein neues, modernes Gesicht. Dabei passt er eigentlich gar nicht nach Amsterdam.
Bei der Tatsache, dass sich Erik ten Hag und Pep Guardiola vergleichsweise ähnlich sehen, dürfte es sich um einen Zufall handeln. Beide sind fast exakt gleich groß (ten Hag ist genau einen Zentimeter größer) und gleich alt (ten Hag ist ziemlich genau ein Jahr älter). Beide haben die hagere Statur eines ehemaligen Athleten und sich von ihrem Haupthaar vollständig getrennt. Dafür gibt es mal mehr, mal weniger Bart, wobei der des Spaniers deutlich größere weiße Flächen aufweist. Ten Hags Kinn fällt etwas grimmiger aus, aber das war es dann auch.
Kein Zufall ist es hingegen, dass die beiden Trainer eine ähnliche Fußballphilosophie vertreten: attraktives Spiel, viel Ballbesitz, derbes Pressing nach Ballverlust, größtmögliche Kontrolle über Spielgerät und Gegner. Schließlich ging Guardiola einst beim FC Barcelona beim großen Johan Cruyff in die Lehre, und dessen DNA konnte sich ten Hag als Holländer sowieso nicht entziehen. Natürlich erst recht nicht nach seinem Amtsantritt als Cheftrainer bei Ajax Amsterdam im Dezember 2017.
Erik ten Hag über Pep Guardiola: Er hat die Liga verändert
Und dann ist da noch die Tatsache, dass ten Hag bei Pep höchstpersönlich in die Lehre ging. Beide traten sie ihr Amt beim FC Bayern München am 1. Juli 2013 an: Der gefeierte Spanier übernahm die Profis, der vergleichsweise unbekannte ten Hag die zweite Mannschaft. Und saugte Peps Trainingsgestaltung auf wie ein Schwamm. "Durch seine Art, Fußball zu spielen, hat sich die ganze Liga verändert", erklärte ten Hag gegenüber der Süddeutschen Zeitung. "Ich habe damals fast jedes Training angeschaut, da habe ich methodisch viel mitgenommen."
Gleichzeitig werkelte er mit den Bayern-Amateuren am Aufstieg in die 3. Liga, scheiterte jedoch denkbar knapp, 2014 sogar erst in der 93. Minute des Relegationsspiels. Dann war es Zeit, das Gelernte in der Heimat in die Tat umzusetzen, zum ersten Mal als Cheftrainer in einer ersten Liga. Es ging zum FC Utrecht, für den er auch schon als Innenverteidiger in den Neunzigern die Fußballschuhe geschnürt hatte. Mit ihm zog attraktiver Fußball in der Provinz Utrecht ein, mit Platz vier und fünf erreichte man zudem die Europa-League-Qualifikation. War der Weg zu Ajax, in die Wiege des Voetbal totaal, also vorgezeichnet?
gettyErik ten Hags Stationen als Trainer
Amtsantritt | Amtsaustritt | Verein | Position |
FC Twente U17 | 1. Juli 2002 | 30. Juni 2003 | Trainer |
FC Twente U19 | 1. Juli 2003 | 30. Juni 2006 | Trainer |
Twente Enschede | 1. Juli 2006 | 30. Juni 2009 | Co-Trainer |
PSV Eindhoven | 1. Juli 2009 | 12. März 2012 | Co-Trainer |
Go Ahead Eagles | 1. Juli 2012 | 30. Juni 2013 | Trainer |
FC Bayern München II | 1. Juli 2013 | 30. Juni 2015 | Trainer |
FC Utrecht | 1. Juli 2015 | 27. Dezember 2017 | Trainer |
Ajax Amsterdam | 28. Dezember 2017 | offen (Vertrag bis 30. Juni 2020) | Trainer |
Erik ten Hag: Bei Ajax Amsterdam fehl am Platz?
Ganz und gar nicht, verrät der niederländische Journalist Justus Dingemanse, Korrespondent bei Voetbalzone gegenüber SPOX und Goal - denn so richtig passte ten Hag nicht zu Ajax: "Ten Hag kommt eigentlich aus der Provinz, er hat eine raue Stimme und einen Dialekt, den ein paar Spieler anfangs nachgeäfft haben. Mit Interviews tat er sich zunächst schwer." Dazu stimmten auch die Ergebnisse anfangs nicht. Besonders die größte Zeitung des Landes De Telegraaf, ging hart mit ihm ins Gericht.
Dass der Trainer mit bis dato vergleichsweise wenig Profil überhaupt verpflichtet worden war, verdankte ten Hag Ajax-Sportdirektor Marc Overmars, der ihn aus seiner Zeit beim Zweitligisten Go Ahead Eagles kannte. Dem Klub verhalf ten Hag zum Aufstieg in die Eredivisie, bevor er zu den Bayern ging, und hinterließ damit bleibenden Eindruck bei Overmars. Der hatte 20 Jahre zuvor selbst bei Ajax gespielt und die letzte Blütezeit des Vereins miterlebt, Champions-League-Sieg 1995 inklusive.
Diese Zeiten wollte Overmars, zusammen mit früheren Weggefährten wie dem Vorstandsvorsitzenden Edwin van der Sar und den Nachwuchstrainern Johnny Heitinga und Michael Reizinger, zurückbringen. Doch ein erster Anlauf schien im Winter 2017 bereits gescheitert.
Ajax-Krise führt zu Neuanfang unter Erik ten Hag
Ein halbes Jahr zuvor hatte Ajax noch das Europa-League-Finale (0:2 gegen Manchester United) erreicht und schien sich nach einer Durstrecke von vielen Jahren wieder europäisch etablieren zu können. Doch es folgte umgehend der Ausverkauf, Talente wie Davinson Sanchez und Davy Klaassen gingen in die Premier League. Die Qualifikation für die Königsklasse fuhr man an die Wand, schließlich wurde die Krise so schlimm, dass die Vereinsführung Marcel Keizer, Nachfolger von Erfolgstrainer Peter Bosz, entlassen musste.
"Wir hatten einen schlechten Sommer und den Saisonstart verpatzt", musste van der Sar zugeben. "Das Scheitern in der Qualifikation für die Champions League war der Tiefpunkt." Also durfte Overmars seinen Wunschtrainer aus Utrecht installieren.
Bis ten Hags Ideen fruchteten und er seine erste Elf gefunden hatte, dauerte es eine Weile, erzählt Dingemanse. Aber Ajax hatte einen Taktikfuchs und akribischen Arbeiter gewonnen: "Er ist bekannt dafür, das Training zu stoppen und alles zu erklären. Er hatte von Anfang an sehr präzise Vorstellungen davon, wie das Team spielen soll."
Es ist eine Mischung aus den Philosophien der großen holländischen Trainer, die ten Hag anstrebt. "Es geht darum, so viel wie möglich in der gegnerischen Hälfte zu spielen. Alle greifen an, und alle verteidigen", sagt er, ganz in der Tradition eines Cruyffs. Aber eben auch mit Pressing, Struktur und defensiver Disziplin: "Gegen den Ball gibt es kein Wenn und Aber. Dann muss jeder diszipliniert seine Position halten."
Der holländische Fußball, sagt ten Hag, sei statisch geworden - "und naiv! Wir haben Ballbesitzfußball gespielt, aber mit Ballbesitz, um Ballbesitz zu haben." Bei ihm sei Ballbesitz Mittel zum Zweck, "um dem Gegner wehzutun".
Mit de Jong und de Ligt: Erik ten Hag baut Ajax Amsterdam um
Schritt für Schritt baute ten Hag an seinem Voetbal totaal 2.0. Frenkie de Jong funktionierte er vom Innenverteidiger zum Spielmacher um und installierte neben ihm einen zweiten Sechser, um seinen Vorwärtsdrang auszunutzen. Milchgesicht Matthijs de Ligt wurde plötzlich Kapitän - und blühte in dieser Rolle auf: "Ich wusste, dass ihm die Kapitänsbinde in der Persönlichkeitsentwicklung helfen wird. Er steht da jetzt als Mann auf dem Platz."
Zugute kam ten Hag, dass Ajax erstmals von der lange in Stein gemeißelten Strategie "Junge Spieler billig kaufen und teuer verkaufen" abwich. Für Dusan Tadic und Rückkehrer Daley Blind griff man so tief in die Tasche wie noch nie, um den aufstrebenden Jungstars erfahrene Haudegen zur Seite zu stellen. Mit Erfolg: Tadic kommt in 51 Saisonspielen auf 34 Tore und 21 Assists, Blind erwies sich kongenialer Partner für de Ligt. 24 Jahre und 202 Tage ist das Team im Schnitt alt - alt genug, um auswärts gegen Bayern, Real Madrid und Juventus zu bestehen.
"In jedem Land gibt es bessere und schlechtere Phasen", hat ten Hag einmal gesagt. "Viele Jahre lang wurde der holländische Fußball immer schlechter, aber jetzt geben wir ein Comeback." Im Frühjahr 2018 stoppten aufgebrachte Fans den Teambus, als Eindhoven den Meistertitel gewann, Ajax dagegen seit 2014 weiter auf Trophäen warten musste. Ein Jahr später ist das Team Tabellenführer, steht im Pokalfinale und könnte sogar das historische Triple gewinnen.
CL-Halbfinale: Tottenham Hotspur ist vor Ajax gewarnt
Auch wenn es gegen Tottenham nicht leicht werden wird - die Spurs sind schließlich gewarnt. "Ajax braucht Platz für seinen Stil", erklärt Dingemanse. "Den hatten sie bisher, sogar gegen Juventus, das normalerweise sehr defensiv spielt. Bei Tottenham gibt es mit Christian Eriksen oder Jan Vertonghen ehemalige Ajax-Spieler, die genau wissen, was sie zu erwarten haben. Das wird sehr schwer."
Um Ajax eine optimale Vorbereitung auf das Hinspiel zu ermöglichen, wurde der 33. Spieltag kurzerhand komplett verlegt. Ein unfairer Vorteil? Davon will ten Hag nichts wissen: "Wir bekommen aus den TV-Rechten zehn Millionen Euro, Tottenham bekommt 200 Millionen. Sagen sie mir, was fair ist." An der offensiven Spielweise seines Klubs will er festhalten: "Wir werden unser Spiel spielen, komme was wolle."
Wie weit man am Ende in der Champions League auch kommen wird - am Ende wird zumindest teilweise der Ausverkauf folgen. De Jong geht definitiv zu Barca, de Ligt dürfte folgen. Auch Hakim Ziyech ist kaum zu halten.
Doch diesmal sieht man sich besser gerüstet für die Zukunft. Das oben genannte Trio allein dürfte mindestens 200 Millionen Euro einbringen. "Ajax wird maximal fünf oder sechs Spieler gehen lassen", sagt Dingemanse, "ein Großteil des Teams wird also bleiben. Und sie werden eine Menge Geld haben. Viele glauben, dass Ajax das Bayern München Hollands werden wird, weil sie ökonomisch so stark sind." Der Klub will endlich wieder eine Rolle in Europa spielen und hat die Möglichkeiten, den Kader trotz des Aderlasses wieder zu verstärken: "Ajax kann jetzt andere Spieler anlocken, weil sie jetzt auch mehr Gehalt zahlen."
Bleibt Erik ten Hag bei Ajax Amsterdam?
Bleibt die Frage, ob neben dem einen oder anderen Leistungsträger auch ten Hag gehalten werden kann. Der unterschrieb bei Amtsantritt nur für zweieinhalb Jahre, Ajax will unbedingt vorzeitig verlängern. "Er ist mittlerweile sehr populär. Manche sagen, dass er gehen sollte, weil es nie mehr so gut laufen wird wie dieses Jahr", erklärt Dingemanse.
Welcher Klub den "holländischen Pep" locken könnte, ist offen. Ten Hag ist am Boden geblieben, und auch wenn er kein "Player's Coach" ist und das Kollektiv immer über den Einzelnen stellt, kommt er mit den jungen Spielern klar. "Ich werde nur dort arbeiten, wo ich eine Strategie erkennen und teilen kann", verriet er in der SZ.
Diese Strategie ist bei Ajax erkennbar. Und derzeit obendrein noch extrem erfolgreich.