Hamit Haddadj hatte eine Vision, aber er hatte wenig Hoffnung. Für den FIFA-Kongress auf den Bahamas hatte Haddadj, Präsident des algerischen Fußballverbands, einen etwas ungewöhnlichen Antrag gestellt.
Der Algerier ist zwar Mitglied der FIFA-Disziplinarkommission, aber sonst ein eher kleines Licht am weiten Fußballfirmament. Keiner, der großen Einfluss hat oder der die gewichtigen Leute kennt, mit denen sich im Weltverband mal eben so eine Satzungsänderung erstreiten lässt.
Umso überraschender war dann, dass sein Plan bei einer großen Mehrheit Zustimmung fand und mit 58 Prozent der Stimmen bewilligt wurde. Haddadjs Antrag auf Streichung der Altersgrenze bei einem Nationenwechsel ist seitdem in den Statuten der FIFA verankert.
Wechsel jederzeit möglich
Ab sofort dürfen Spieler zu jeder Zeit für ein anderes Land auflaufen, wenn sie vorher noch kein Pflichtspiel im Seniorenbereich für ihren vorherigen Verband absolviert haben - und natürlich die entsprechende Staatsbürgerschaft besitzen.
Bislang durfte ein Spieler nur dann für ein anderes als sein Geburtsland antreten, wenn er den Nationenwechsel vor dem 21. Lebensjahr vollzog. Ein eklatanter Unterschied, dessen Auswirkungen in der Praxis ausgerechnet der Deutsche Fußball-Bund nun schon zweimal zu spüren bekam.
Löw schimpft auf neue Regel
Jermaine Jones und Kevin-Prince Boateng machen ab sofort Gebrauch von der neuen Regelung und wollen international für ihre "Zweitländer" USA beziehungsweise Ghana auflaufen. Es sind die ersten Ausläufer des Nassau-Beschlusses und vor allem die Verbände Europas mit ihren unzähligen Spielern mit Migrationshintergrund oder doppelter Staatsbürgerschaft zittern vor dem aufgeweichten Statut.
"Diese Regel leuchtet mir nicht ein und öffnet Tür und Tor", schimpfte Bundestrainer Joachim Löw neulich. "Ich kann nicht begreifen, wie es zulässig sein kann, dass ein Profi, der bereits in der U 21 das Trikot einer Nation getragen hat, später noch einmal für ein anderes Land auflaufen darf. Da bleibt die Identifikation - und um die geht es ja bei Länderspielen auch - auf der Strecke."
Jones und Boateng könnten nicht die Letzten sein, die dem DFB den Rücken kehren.
Wandert der Unterbau ab?
Der größte Sportfachverband der Welt ist mit seiner U-21-Auswahl derzeit in Schweden auf der Jagd nach dem EM-Titel. Im 23-Mann-Kader stehen 13 Akteure mit Migrationshintergrund. Neun von elf Spielern, die im ersten Spiel gegen Spanien auf dem Platz standen, haben zumindest einen Elternteil ohne deutsche Wurzeln.
Von den Stammspielern kommen nur die Schalker Manuel Neuer und Benedikt Höwedes aus einem rein deutschen Elternhaus. Multikulti hat Erfolg - und wird plötzlich zur schleichenden Gefahr. "Ich hatte gerade erst eine Einladung von der nigerianischen Nationalmannschaft", sagt Denis Aogo vom Hamburger SV. Er will trotzdem weiter für den DFB spielen.Und dennoch könnte es wie Aogo demnächst einem Großteil der U 21 gehen. Und den erfolgreichen Spielern der U-19-Europameister vom letzten Jahr (50 Prozent mit Migrationshintergrund) und der U-17-Europameister 2009 (33 Prozent) ebenfalls. Das Werben wird aggressiver werden, die Hemmschwelle niedriger. Rein theoretisch könnte dem DFB im Unterbau die Hälfte seiner Spieler verloren gehen.
Neues Betätigungsfeld für Spielerberater?
Zählen in der beschleunigten und von einem völlig enthemmten Transfermarkt bestimmten Fußballwelt die alten Werte überhaupt noch? Die ersten windigen Spielerberater dürften sich schon längst die Hände reiben. Es erschließt sich unter Umständen ein neuer Mark in einer Parallelwelt, die sich quasi aus dem Nichts aufgetan hat.
"Die neue Regel wird eine Aufforderung an viele Spielerberater sein, die Spieler bei dem einen oder anderen Verband anzubringen", schwant DFB-Teammanager Oliver Bierhoff schon Böses.
"Es ist richtig, dass ein Nationalspieler für eine Agentur immer wertvoller ist, als ein Nicht-Nationalspieler. Es steigert den Marktwert", sagt Bernd Cullmann, Weltmeister von 1974 und mittlerweile in der Spielerberatungsagentur Rogon tätig, bei der auch Jermaine Jones unter Vertrag steht, im Gespräch mit SPOX.
"Aber es wird sich deswegen in der Zukunft kein neues Betätigungsfeld für Spielerberater oder Agenturen auftun." Allerdings sieht auch der Ex-Profi durchaus "die Gefahr eines gewissen Wechsel-Tourismus."
"Spieler als reine Gelddruckmaschinen"
Auch Stefan Kuntz, Vorstandsvorsitzender beim 1. FC Kaiserslautern und Kandidat für die Nachfolge von Dietmar Beiersdorfer als Manager beim HSV, sieht keine große Gefahr. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen Transfermarkt auf Verbandsebene geben wird. Auch wenn das vielleicht altmodisch ist, ist es nach meinem Verständnis immer noch eine Ehrensache - das sollte nichts mit Geld zu tun haben."
Und trotzdem wird man in Frankreich, England oder in den Niederlanden die Entwicklung ganz genau beobachten. Dort bestehen große Teile der Nationalmannschaft aus Spielern, deren Wurzeln in den ehemaligen Kolonialstaaten liegen.
"Was sollen wir uns beschweren? Europa hat jahrzehntelang in Südamerika und Afrika gewildert, da waren auch nicht alle Transfers sauber und die Spieler teilweise nur Gelddruckmaschinen. Schicksale waren egal. Nur die Kohle zählte", so Cullmann.
Das ohnehin schon vollgepackte Show-Spektakel Fußball ist jedenfalls um eine Facette reicher, besonders von den zwar steinreichen, aber fußballerisch unterentwickelten Ländern der Öl-Staaten könnten einige Impulse ausgehen. Aber das ist Zukunftsmusik. Viel realer ist da schon der unmittelbare Einfluss auf die Mannschaften des DFB.