Vermutlich wollte Jean-Marie Pfaff nur ein bisschen Verwirrung beim Gegner stiften. In seiner Heimat Belgien ist Pfaff in doppelter Hinsicht ein Star: Seine Familie und er sind Erfinder und gleichzeitig Hauptdarsteller der erfolgreichsten Reality Soap des Landes.
Früher war Pfaff ein Torhüter von Weltklasseformat, der bei einem Verein von Weltklasseformat angestellt war, dem FC Bayern München. Pfaff weiß also durchaus etwas von diesem ungewöhnlichen Geschäft da hinten drin im Tor zu erzählen.
Dieses Mal zerstoben seine Worte jedoch, kaum dass er sie ausgesprochen hatte. Mit halbherziger Kritik näherte er sich ein paar Tage vor dem EM-Qualifikationsspiel seiner Roten Teufel gegen Deutschland dem Torsteher Manuel Neuer.
Heimlicher Gewinner
Der sei ein sehr guter Torhüter, aber er müsse viel mehr seine Abwehr dirigieren, noch mehr sprechen, meinte Pfaff. Der Satz sorgte kaum für Aufsehen, dafür war er zu harmlos formuliert - vor allem aber an einen Spieler gerichtet, an dem im Moment partout nichts auszusetzen ist. Es blieb beim kläglichen Versuch.
Manuel Neuer ist der heimliche Gewinner des ersten Qualifikationsspiels zur EURO 2012. Die Weltmeisterschaft ein paar Wochen zuvor hatte ihn nach oben gespült, aus dem Windschatten seines höher eingestuften Kontrahenten Rene Adler, der wegen einer Verletzung nicht in Südafrika spielen konnte.
Dort zeigte er der Welt, dass er trotz seiner jungen Jahre mit dem Druck einer solchen Veranstaltung fertig werden kann. Er heimste Lob von allen Seiten ein, konnte aber die neuerlich gestellte T-Frage im Vorfeld des Belgien-Spiels damit nicht verhindern.
Erst zwei Tage davor bekannte sich Bundestrainer Joachim Löw eindeutig zu seiner neuen, alten Nummer eins. Neuer dankte es mit einer routinierten Leistung gegen die Belgier und blieb ohne Gegentreffer.
Die WM als Vehikel
Der Schalker steckt mitten in seiner nächsten Entwicklungsphase und die wird eine sehr entscheidende in seiner Karriere werden.
Diese sechs Wochen vor und während der WM mit all dem Druck, den engen Spielen, den Paraden und Siegen, aber auch den Niederlagen haben ihn auf einen Schlag einige Jahre reifen lassen.
"Es gibt keinen Zweifel an seiner Leistung, er hat eine hervorragende WM gespielt", lobt Löw den Schlussmann. Dass er aber nicht nur auf dem Feld dazugelernt hat, zeigt der 24-Jährige jetzt immer mehr.
Das Gesicht des FC Schalke
Auf Schalke hat ihn Trainer Felix Magath nach Heiko Westermanns Verkauf zum Kapitän ernannt. Nicht ohne Hintergedanken, genießt der in Gelsenkirchen-Buer aufgewachsene Neuer bei den Königsblauen doch einen sehr exponierten Status.
Neuer ist das Gesicht von Schalke, nicht Magath oder Klub-Patriarch Clemens Tönnies. Anfangs in diese Rolle gedrängt erfüllt er sie jetzt mit Leben. Die herbe Kritik an seinem Mannschaftskollegen Christoph Metzelder kontert Neuer ungewohnt offen:
"Bei Christoph lief es bisher nicht optimal. Dennoch ist er nicht der Alleinverantwortliche dafür, dass wir bisher nicht erfolgreich sind. Die Leute machen es sich einfach, wenn sie behaupten, der Dortmunder sei an den Schalker Niederlagen schuld."
Er geht als Kapitän voran, schießt aber manchmal noch übers Ziel hinaus. Nach dem Streit zwischen Magath und einer Gruppe der Fans, denen auch Neuer einst angehört hat, verteilte er nach der Niederlage in Hamburg deren provokante T-Shirts an seine Mannschaftskollegen.
Ob er nun wissentlich oder nicht gehandelt hatte: Neuer wurde dafür mit keiner Silbe gerügt.
Neuer schärft sein Profil
Neuer reflektiert seine Arbeit mehr, weiß sich selbst noch besser einzuordnen. Er hat sein Profil seit der WM deutlich geschärft und legt mehr und mehr jene scheue, fast kindliche Zurückhaltung ab, mit der er vor gar nicht allzu langer Zeit noch unfreiwillig an die Beschützerinstinkte seines jeweiligen Gegenübers oder Beobachter rührte.
Neuer schaut immer öfter über den Tellerrand hinaus und dann entstehen Gedanken wie diese: "Ich habe mich neulich mit einem Tennistrainer unterhalten, der mir erzählt hat, wie schwer es für einen Topspieler wie Roger Federer ist, auch gegen die Nummer 150 der Weltrangliste immer auf den Punkt konzentriert zu sein. Nur weil er das schafft, ist er so erfolgreich. Denn klar ist: Erwischt die Nummer 150 einen guten Tag, dann kann sie auch Roger Federer besiegen."
Das klingt längst nicht mehr nach jenen leeren Sätzen, die der junge Profi von heute in ein paar Seminarstunden von der Pressestelle eingehämmert bekommt, nur um sich im Fragen-Dschungel sauber aus der Affäre ziehen zu können.
Abstand auf Adler und Wiese vergrößert
Seinem Torwartspiel kommt diese neue Souveränität nur zugute. Neuer ist nicht mehr so zappelig wie früher, er wirkt abgeklärter, strahlt noch mehr Ruhe aus, ohne dabei leise zu sein.
Seine Replique auf Pfaffs Worte: "Es gibt viele Kritiker. Man muss sich nicht mit allen Dingen auseinandersetzen. Ich stehe seit meinem vierten Lebensjahr im Tor und habe viele Profijahre hinter mir. Ich weiß, was ich zu tun habe."
Er darf in einem Trailer zur Frauen-WM im nächsten Jahr mitspielen, hat sich jüngst auch zur Integrationsdebatte und den Thesen von Thilo Sarrazin geäußert. Nicht provokant oder reißerisch, aber immerhin. Vor ein paar Monaten hätte er dazu schlicht geschwiegen.
Derzeit hat er den Abstand zu seinen Verfolgern Adler und Tim Wiese beträchtlich vergrößert. "Wenn man mal die Nummer eins war, will man da auch wieder hin", sagt Adler, "aber es gibt von mir keine verbale Kampfansage."
Vielleicht mal der Beste der Welt
Die Torhüterfrage ist keine mehr, heute Abend gegen Aserbaidschan (Di., ab 20.30 Uhr im LIVE-TICKER) winkt das nächste Zu-Null-Spiel. Die nächste ganz großer Herausforderung wird in gut vier Wochen der fast schon vorentscheidende Quali-Kracher gegen die Türkei werden.
Sein Trainer Felix Magath und Matthias Sammer haben ihn neulich als besten Torhüter der Welt gepriesen. Neuers Antwort entsprang dann zunächst wieder dem Phrasen-Baukasten."Ich muss gestehen, dass sich das schon ein wenig merkwürdig anhört, als bester Torhüter der Welt bezeichnet zu werden. Wobei man auch berücksichtigen muss, dass Felix Magath mein Vereinstrainer ist."
Einen Atemzug später ließ er sich dann aber doch noch aus der Reserve locken.
"Ich will der beste Torhüter der Welt werden, irgendwann mal", sagte er, ein wenig forscher. "Und ich bin schon so selbstbewusst zu behaupten, auf einem guten Weg zu sein."