SPOX: Herr Köpke, auf dem Internationalen Torwart Kongress in Köln werden Neuigkeiten und Entwicklungen im Torhüterwesen besprochen und diskutiert. Ist der Begriff des Torwarts oder Torhüters überhaupt noch zulässig oder müsste man nicht schon eher...
Andreas Köpke: Sagen Sie jetzt nicht Torspieler!
SPOX: Hatte ich eigentlich vor. Also: ...vom Torspieler sprechen.
Köpke: Eigentlich kann ich das nicht mehr hören. Dann müsste man schon einen völlig neuen Begriff kreieren. Aber wer will das denn? Der Torhüter ist immer noch der Torhüter. Dessen Spielweise hat sich grundlegend verändert, die Anforderungen sind in den letzten zehn, 15 Jahren komplexer geworden. Das hat sich geändert - und dementsprechend natürlich auch das Torwarttraining, das den Erfordernissen entsprechend komplexer durchgeführt werden muss.
SPOX: Wie viele Verhaltensabläufe oder Automatismen kann man einstudieren - und wie weit verlässt sich der Torhüter immer noch auf seinen Instinkt und sein Gefühl?
Köpke: Man kann im Training viele Dinge simulieren, die sich dann aber im Spiel doch in Nuancen wieder unterscheiden. Hier bedarf es einer gewissen Erfahrung. Ein sehr wichtiger Bestandteil für uns ist die Videoanalyse. Durch das Visualisieren der Dinge lernt man ungemein viel.
SPOX: Zumeist werden da aber nur Fehler analysiert.
Köpke: Man nimmt die Dinge im Spiel bisweilen anders wahr. Dann denkt man: 'Ich stand da doch richtig.' Diese Meinung revidiert man später nach dem Studium der Aufzeichnungen sehr oft.
SPOX: Wie läuft so eine Videoanalyse ab?
Köpke: Wir lassen uns alle Gegentore unserer DFB-Torhüter zusammenschneiden und bestimmte Szenen, die wir anhand der angefertigten Torwartprofile unserer Spieler auswählen. Die Szenen - nicht nur die Gegentore - werden dann im Einzelgespräch mit dem jeweiligen Torhüter diskutiert. Das dauert rund zehn bis 15 Minuten, je nach Diskussionsgrundlage. Es geht dabei nicht darum, nur zu kritisieren. Das Hauptziel ist die Optimierung von Verhaltensweisen im Spiel.
SPOX: Zumeist negativer Verhaltensweisen...
Köpke: Wenn wir beobachten, dass sich gewisse Dinge einschleifen, dann sprechen wir den Spieler darauf an. Wir haben unsere Vorgaben. Und wenn mir Dinge auffallen, spreche ich diese auch an.
SPOX: Manchmal fordert der jeweilige Klubtrainer ziemlich andere Dinge von seinen Spielern, als sie in der Nationalmannschaft gefordert sind. Ist das immer noch ein Problem?
Köpke: Die Hauptarbeit liegt bei den Vereinen. Deshalb muss man auch den Kontakt zu den Torwarttrainern in der Liga halten. Wir haben eben bestimmte Dinge, die wichtig sind für unser Spiel und deshalb auch eingefordert werden. Aber die Zusammenarbeit mit der Liga läuft wirklich gut.
SPOX: Welche ist denn nun die beste Position für einen Torhüter, wenn sich das Spielgeschehen in der gegnerischen Hälfte abspielt und die eigene Mannschaft hoch aufrückt?
Köpke: Schauen Sie sich die Laufleistung eines Torhüters heute an. Zu meiner Zeit waren das zwei, vielleicht drei Kilometer pro Spiel. Wir haben einfach hinten gewartet. Heute legt ein Torhüter fünf bis sechs Kilometer pro Spiel zurück, weil er ständig in Bewegung ist, Sidesteps macht, nach vorne mitgeht, wenn die eigene Mannschaft angreift und sich wieder fallen lässt bei Ballverlust. Die eine ideale Position gibt es nicht. Aber 16 Meter oder ein bisschen mehr vor dem eigenen Tor bei eigenem Ballbesitz in der gegnerischen Hälfte sind normal.
SPOX: Der Torhüter bleibt wie ein Linienrichter immer auf Ballhöhe - sowohl vertikal als auch horizontal?
Köpke: So in etwa. Der Torhüter macht die Bewegung des Balles mit. Egal, wo der sich gerade befindet. Hier kommt es auf eine gute Beinarbeit an. Weil man als Torhüter nie abschalten darf.
SPOX: Jeder Torhüter hat eine angeborene Angst, sein Tor zu verlassen - schließlich soll er es ja bewachen. Sind gerade die vielen nachrückenden jungen Torhüter in der Bundesliga in dieser Disziplin weniger ängstlich, weil sie in ihrer Ausbildung geradezu dazu ermutigt wurden?
Köpke: Die jungen Torhüter trauen sich das eher zu, sie sind mutiger. Es reicht nicht mehr, nur den Fünfmeterraum zu beherrschen. Am besten hat man heute den gesamten Sechzehnmeterraum im Griff. Besonders auf den psychologischen Aspekt wird da in der Ausbildung wert gelegt. Die stehen mit einer Sicherheit da hinten drin, die einen staunen lässt. Natürlich gab es auch in der letzten Saison immer mal wieder Szenen, da sagt man: 'Den hätte er halten können' oder 'Da muss er raus'. Aber so richtig gravierende, krasse Sachen sind bei den Jungen nicht dabei gewesen. Zumindest nicht mehr als bei anderen Torhütern.
SPOX: Wer ist der größte Feind des Torhüters?
Köpke: Der Ball.
SPOX: Das macht Sinn. Aber sind die immer schneller agierenden Angreifer oder der immense Druck nicht auch eine immerwährende Gefahr?
Köpke: Das ist nichts im Vergleich zur Beschaffenheit der Bälle. Diese Flatterdinger... Spieler wie Bastian Schweinsteiger trainieren das immer: Den Ball beim Schuss abrutschen lassen, damit er noch mehr flattert in der Luft. Wenn ein knallharter Schuss kommt und ein Torwart den relativ locker festhält, ist das heutzutage schon fast etwas Besonderes. Alle anderen Bälle sind unheimlich schwer zu kontrollieren. Deshalb sage ich immer: 'Man kann nicht jeden Ball festhalten. Also wehr' ihn zur Seite ab - und bloß nicht nach vorne!' Das üben wir speziell auch im Training. Nach drei Wochen Training weiß der Spieler, wie er sich mit dem Ball arrangieren muss. Und wenn dann mal ein bisschen gejammert wird, weil der Torhüter einen Ball nicht festgehalten hat: Damit muss man leben.
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