Die deutsche Nationalmannschaft hat mit ihrer souveränen Qualifikation für die Europameisterschaft 2012 in Polen und der Ukraine ein deutliches Zeichen gesetzt. Seit der WM 2010 in Südafrika haben sich einige Parameter verschoben. Nur die Defensive bereitet noch Sorgen.
Die nackten Zahlen: Deutschland ist mit 30 Punkten aus zehn Spielen und 34:7 Toren durch die Qualifikation geflogen. Das sieht nach einer leichten Aufgabe aus, das Schlüsselspiel zur kompletten Saison war aber bereits die erste Partie in Brüssel.
Fast der gesamte Kader war noch geplagt von den Strapazen der WM, die Bundesliga-Saison war erst seit kurzem in Gang, der Gegner wurde als einer der beiden Kontrahenten um Platz eins eingestuft.
Das "Spiel des Willens" (Bastian Schweinsteiger) wurde auch zu einem solchen, das knappe 1:0 durch ein Klose-Tor erschien damals wie ein erster, wenig beachteter Sieg. In Wirklichkeit gab er die Richtung vor. "Das Spiel in Brüssel war von enormer Bedeutung für die gesamte Qualifikation", sagte Thomas Müller jüngst. Eine Niederlage dort hätte sofort Druck bedeutet.
Der nächste große Schritt war das klare 3:0 in einem hochgejazzten Spiel gegen die Türkei in Berlin. Der vermeintlich schärfste Konkurrent wurde deklassiert, die Verhältnisse klar abgesteckt. Nur die Partie in Wien, unter ganz besonderen Umständen zwischen dem Ende der Bundesliga-Saison und dem wohl verdienten Urlaub der Spieler gelegen, scherte letztlich aus einer eindrucksvollen Qualifikation aus.
In Wien war Deutschland nicht die bessere Mannschaft und gewann am Ende fast schon frech mit 2:1. Es sollte der einzige Ausreißer nach unten bleiben.
Die Entwicklung der Mannschaft: Losgelöst von der reinen Pragmatik der Qualifikation musste der Kader abgestimmt und die Spielweise der Mannschaft verfeinert werden. Keine leichte Aufgabe, aber beides ist Löw gelungen.
Die erfolgreiche WM offenbarte in den entscheidenden Spielen einen wunderbaren deutschen Überfall-Fußball. Gegen tief stehende Gegner aber tat sich Deutschland weiter schwer. Hier fehlte es an der nötigen Dominanz, einen Gegner 90 Minuten zu beherrschen und müde zu spielen.
In dieser Beziehung hat sich die Mannschaft weiterentwickelt, wenngleich es auch einige Male noch haperte. Löw ist mittlerweile aber immerhin so weit, dass er sein Mittelfeld nicht mehr starr auf Positionen fixiert arbeiten lassen muss. Die Spieler dürfen ihr Wirken in einem bestimmten Rahmen selbst entscheiden. Das bringt Flexibilität und Kreativität.
Noch mehr Variabilität
Gegen Belgien war das deutsche Mittelfeld variabel wie noch nie, den Spielern Khedira, Kroos, Özil, Schürrle und Müller waren kaum feste Arbeitsbereiche zuzuordnen.
Viele Mannschaften kann Deutschland damit hinter sich lassen, von der 1B-Klasse in Europa hat sich die Mannschaft ein weiteres Stück entfernt. Die Souveränität und Selbstverständlichkeit der Qualifikation war sehr beeindruckend.
"Mit jedem Sieg erarbeitet man sich mehr Respekt", sagte der Bundestrainer am Dienstag nach dem Sieg gegen Belgien, "die anderen Länder sehen: Diese deutsche Mannschaft ist stark, sie ist hungrig."
In Zahlen ausgedrückt hat Deutschland für bestimmte Phasen einer Partie das 4-1-4-1 entdeckt, auch wenn der Bundestrainer längst nicht mehr gewillt ist, in abgegrenzten Spielsystemen zu denken. Und auch von der Leitwolf-Debatte hat sich die Mannschaft distanziert.
Bastian Schweinsteiger ist der heimliche Chef
Spätestens mit dem endgültigen Verzicht auf Michael Ballack, den Löw Mitte Juni endlich auch öffentlich aussprach, ist diese Diskussion beendet. Die Rolle Ballacks hatten sich im letzten Sommer noch mehrere Spieler untereinander aufgeteilt. Das ist zwar auch jetzt noch so, der heimliche Chef der Mannschaft ist aber Bastian Schweinsteiger - wobei der seine Rolle nicht mit dem üblichen Gehabe eines Anführers interpretiert.
Schweinsteiger bestimmt den Rhythmus und den Takt, er hat nach anderthalb Jahren in der Mittelfeldzentrale das richtige Gespür entwickelt für bestimmte Situationen. Es sind seine Tempowechsel, die das deutsche Spiel für den Gegner schwer zu lesen machen.
Dabei ist er auch der Mahner. Derzeit wiegt die Angriffswucht die Fehler in der Defensivbewegung in jedem Spiel auf. Aber der Champions-League-erprobte Schweinsteiger weiß sehr wohl, dass es auf absolutem Spitzenniveau damit nicht getan ist.
"Defensive ist noch wichtiger"
Am Sonntag saß er auf der Pressekonferenz und referierte über die Verfassung seiner Bayern. "Wie es jetzt läuft, ist es exzellent", sagte Schweinsteiger dann. Die Bayern spielen nicht so offensiv wie die Nationalmannschaft, nüchterner und ausbalancierter.
Das Verteidigen im Kollektiv funktioniert bei den Münchnern derzeit fast perfekt. Schweinsteiger würde sich diese Ausgewogenheit auch für die deutsche Nationalmannschaft wünschen. "Die Defensive", sagt er "ist noch wichtiger."
Denn: Bei einem Turnier, mit nur drei Spielen in der Gruppenphase und anschließendem K.o.-Modus, sind die Parameter völlig andere. Dass die Mannschaft zuletzt in neun Spielen in Folge mindestens ein Gegentor kassiert hat, mag für die Qualifikation kein Hindernis gewesen sein. Bei der Endrunde dürfte sich so aber kaum etwas gewinnen lassen.
So marschierte Deutschland durch die EM-Quali
Das Personal: Die Fluktuation hielt sich in Grenzen. Das liegt zum einen daran, dass die Mannschaft im Altersschnitt relativ jung daher kommt und so die altersbedingte Auslese nicht zum Tragen kommt. Einzig Jörg Butt hatte seinen Rücktritt bekanntgegeben.
Trotzdem hat sich die Struktur ein wenig verändert. Löw hat seinen Fundus an Offensivspielern weiter ausgebaut oder beobachtet noch, auch wenn für einige die EM noch zu früh kommen dürfte. Für Lewis Holtby und Kevin Großkreutz etwa, oder den Leverkusener Sydney Sam, der im Dunstkreis der Mannschaft auf seine Chance lauert.
Bis auf die Position rechts in der Viererkette sind alle Posten im Team mindestens doppelt mit ausgewiesenen Spezialisten besetzt. Besonders eng geht es im Mittelfeld zu und bei den Innenverteidigern. Hier hat Löw eine enorm große Auswahl.
Rene Adler kein Thema mehr
Dafür haben sich einige Spieler während der letzten 15 Monate auch vorerst aus der Mannschaft verabschiedet. Schleichend passierte dies bei Heiko Westermann, Piotr Trochowski oder Stefan Kießling.
Rene Adler, vor der WM noch zur Nummer eins erklärt, hat seit eineinhalb Jahren kein Spiel mehr für Deutschland bestritten und ist überhaupt nicht mehr auf dem Radar. Manuel Neuers Leistungen und auch sein Wechsel zu den Bayern dürften es für alle anderen Anwärter auf Jahre hinaus schwer machen, Neuer von der Nummer eins zu verdrängen.
Dazu kommt im Fall Adler auch die nachrückende Generation, die nicht mehr nur Druck macht, sondern zum Teil auch am Leverkusener Dauerpatienten vorbeigezogen ist. Ähnlich liegt der Fall bei Arne Friedrich, der zunächst verletzt war und sich mit seiner freiwilligen Vertragsauflösung bis zum Start der Rückrunde quasi selbst auf Eis gelegt hat.
Marin und Tasci auf Tuchfühlung
Leichte Tuchfühlung zum Kader haben derzeit noch Marko Marin und Serdar Tasci, die sich in dieser Saison verbessert zeigen.
Die Tendenz bei der künftigen Startelf, und dazu wurde Löw unfreiwillig gezwungen, geht aber stark in Richtung eines Bayern-Blocks. Schon bei der WM waren acht Spieler vom Rekordmeister im Kader.
Durch die Wechsel von Neuer und Jerome Boateng nach München verschiebt sich das Übergewicht noch weiter. Gegen die Türkei standen sieben Bayern-Profis in der Startelf, selbst gegen Belgien waren es trotz vieler Wechsel noch fünf. Eigentlich legt Löw keinen gesteigerten Wert darauf, unterm Strich kann er den kleinen Vorteil als Bonus aber gerne einstreichen.
Ganz sorgenfrei ist die Konstellation aber trotz der enormen Tiefe und Qualität im Kader auch nicht. Dafür gibt es im Team noch zu viele ungeklärte Fragen, es sind einige Positionen offen. Der Bundestrainer zitiert dann gerne den Konkurrenzkampf und dass er mit dem Begriff des Stammspielers nichts mehr anfangen könne.
Entscheidende Tage in Südfrankreich
Löw hat allein 17 Spieler in 17 Spielen seit der WM in der Defensive ausprobiert. Bis heute hat sich aber weder ein Rechtsverteidiger, noch einer der beiden Innenverteidiger herauskristallisiert. Löw verlässt sich in der Beziehung auf die Lernfähigkeit seiner Mannschaft, die es vor den großen Turnieren zuletzt immer wieder geschafft hat, ihre Defensive in kurzer Zeit einzuspielen und zu stabilisieren.
Der Fokus auf die Defensivabläufe soll in den Trainingslagern vor dem Turnier im kommenden Jahr gelegt werden, vor allem die zehn Tage in Südfrankreich bekommen dann eine ganz entscheidende Bedeutung.
Der Trainerstab bleibt aber auch deshalb so gelassen, weil alle Kandidaten eine grundsätzliche Qualität mitbringen, wie offenbar noch nie. Löw betonte offen, dass er bislang immer einige Spieler mitnehmen musste, "von denen ich fußballerisch nicht überzeugt war. Jetzt werde ich im kommenden Jahr 20, 25 Spieler vorfinden, die ich jederzeit bedenkenlos einsetzen kann."
Ein Ausblick: Deutschland zählt natürlich zum engen Kreis der Favoriten im nächsten Jahr. Ausnahmslos alle im Team identifizieren sich mit dem großen Ziel und sprechen die Dinge auch klar an, ohne dabei überheblich oder arrogant zu wirken.
Lange Zeit hat der Bundestrainer immer wieder Spanien als Vorbild für seine Mannschaft erkoren und den Welt- und Europameister als den einen großen Konkurrenten definiert. Am Dienstag erweiterte er den Kreis derer, die in Polen und der Ukraine um den Titel spielen werden.
"Ich habe mich von dem Duell Deutschland gegen Spanien verabschiedet. England, Portugal, Frankreich, die Niederlande - es werden mehrere eine Hauptrolle spielen", so Löw.
Bis zur Kaderbekanntgabe im Mai bleiben nur noch drei Länderspiele, jetzt im November in der Ukraine, danach gegen die Niederlande und im Februar dann zu Hause gegen Frankreich. Echte Gradmesser sind das und für jeden einzelnen Spieler eine große Herausforderung auf dem Weg zur EM.
Deutschland hat starke Einzelspieler und ein gefestigtes Kollektiv. Dazu kommt ein Unterbau, von dem andere Favoriten wie England oder Portugal nur träumen können. Das Gesamtpaket passt, ab sofort geht es an die Feinjustierung.
So marschierte Deutschland durch die EM-Quali