"Das Spielkonzept für eine Gazelle"

Haruka GruberDaniel Börlein
08. Juni 201215:24
Schon jetzt ein Klassiker der Standard-Geschichte: Drogbas Ausgleich gegen die Bayern Imago
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Die Manndeckung erlebt eine Renaissance, Chelsea gewinnt an Popularität und Jogi Löw vernachlässigt die Standards. Frank Wormuth im zweiten Teil des Taktik-Interviews über Sinn und Unsinn. Bei der EM wird Wormuth, Leiter der Fußball-Lehrer-Ausbildung und Coach der deutschen U-20-Nationalmannschaft, als SPOX-Experte tätig sein.

Hier geht es zum ersten Teil des Wormuth-Interviews!

SPOX: Grundsätzlich gefragt: Wie schwierig ist es, ein im Klub sozialisiertes Taktikverhalten abzulegen und in der Nationalmannschaft anders zu spielen? Gibt es wissenschaftliche Ansätze, um dies gezielt zu trainieren?

Wormuth: Wissenschaftliche Ansätze gibt es sicherlich immer, allerdings geht es hier mehr um praktische und angewandte Methodik. Ein mit einer Linie oder mit Markern aufgezeichnetes Feld und den entsprechenden Provokationsregeln helfen, dass die Spieler den veränderten Ansatz in der Nationalmannschaft relativ schnell begreifen. Es bedarf zwar einer gewissen Zeit, aber unsere A-Nationalmannschaft hat es bewiesen, dass es funktioniert. Und es sind mit Verlaub keine gravierenden Veränderungen, sondern oft nur Nuancen. Um beim Hummels-Beispiel zu bleiben: Wenn er flach spielen soll, dann wird der Nationaltrainer schon dafür sorgen, dass sich die Mittelfeldspieler auch entsprechend freilaufen und anbieten.

EM-Auftakt: Deutschland - Portugal, 20.15 Uhr im LIVE-TICKER!

SPOX: Die Niederlande hatte erwogen, Topstürmer Robin van Persie ins ungeliebte offensive Mittelfeld zurückzuziehen, um Platz für Klaas-Jan Huntelaar zu schaffen. Das Experiment gegen Bulgarien, beide zusammen beginnen zu lassen, verlief enttäuschend. Wie riskant ist es, zwei Spieler aufzustellen, die so gar nicht zusammenpassen?

Wormuth: Solange vorne experimentiert wird, ist es nicht so schlimm, da zumindest hinten die Null stehen kann. Ich glaube, dass zwei Spieler, die anscheinend nicht zusammenpassen sollen, eine Einheit werden können, wenn sie aufeinander zugehen und sich entsprechend abstimmen. Dabei müssen sie ihre Egos zurücknehmen. Hier wird die Zeit und die Erfahrung ein Ergebnis bringen. Eine Maxime sollten die Trainer dabei aber nie außer Acht lassen: Stelle die Spieler auf die Positionen, die sie am besten ausfüllen können. Lieber einen Starken und einen Schwachen auf dem Feld als zwei Halbstarke.

SPOX: Bulgarien entschied sich gegen die Niederlande dazu, Wesley Sneijder mit einer klassischen Manndeckung auszuschalten. Weitestgehend mit Erfolg. Ist die Manndeckung nur ein Mittel für kleinere Mannschaften? Oder auch für Topteams ein legitimes Vorgehen?

Wormuth: Wenn aus einer Manndeckung Erfolg entsteht, dann ist alles legitim. Chelsea zeigte uns, dass nicht Schönheit unbedingt zum Erfolg führt. Augsburg sammelte mittels Manndeckung ebenfalls wichtige Punkte. Das alles Entscheidende für eine Manndeckung ist die Spielsituation und die Anzahl der in Manndeckung zu nehmenden Spieler. Gegen Barcelona wird dies kein Erfolgsrezept sein, doch gegen ein Team, dessen Spielgestalter immer auf seiner Position bleibt, schon eher. Je mehr Spieler sich aber um einen anderen kümmern müssen, desto schwieriger wird die eigene Offensivgestaltung. Manndeckung bedeutet primär "Zerstörung", also kein Tor mehr reinzubekommen als der Gegner.

SPOX: Löw erklärte Lars Benders Nominierung damit, dass "ich vielleicht beim Turnier mal einen solchen Typen benötige, dem ich sagen kann, dass er nur die Kreise einen gewissen Gegenspielers stören soll". Ist da ein grundsätzliches Umdenken erkennbar? Vor allem in Deutschland ist die Manndeckung verpönt.

Wormuth: Das zeigt nun mal Jogi Löws Blick über den Tellerrand hinaus. Er kennt die Mittel, um am Ende des Tages diesen EM-Pokal endlich wieder nach Deutschland zu bringen. Bei aller Schönheit des Fußballs spielt immer noch ein Gegner mit. Fußball ist manchmal Schach - und nun schmeiße ich fünf Euro ins Phrasenschwein...

Hier geht es zum ersten Teil des Wormuth-Interviews!

SPOX: Wie bewerten Sie den Umstand, dass in Deutschland mehr als in anderen Topländern sehr viele offensive Mittelfeldspieler zu defensiven Mittelfeldspielern umgeschult werden? Sehen Sie darin einen Trend oder gar ein Risiko?

Wormuth: Wenn ihre Hypothese stimmen sollte - ich kenne keine Vergleichszahlen -, würde es für die Zukunft in Deutschland eine starke Offensivausrichtung bedeuten. Da in den letzten Jahren der Spielgestalter von der 10er-Position auf die Sechs gerutscht ist, ist es naheliegend, dass offensive Spieler umgeschult werden. Zumal es grundsätzlich einfacher ist, dass ein Offensiver gegen den Ball spielt als ein Defensiver mit dem Ball. Und durch die Einführung der Doppelsechs kann dieser Spielgestalter immer noch von einem geschulten defensiven Spieler abgedeckt werden. Von daher sehe ich diesen Trend positiv, insbesondere für die Zuschauer.

SPOX: Chelsea ging den umgekehrten Weg und setzte den defensiven Mittelfeldspieler Ramires als Außenstürmer ein, um die gewünschte defensive Ausrichtung zu gewährleisten. Erwarten Sie bei der EM ähnliche Versuche, um spielstärkere Gegner zu besiegen?

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Wormuth: Ist möglich, zumal viele Trainer von anderen lernen. Vielleicht nimmt sich der eine oder andere EM-Trainer eben dieses Chelsea als Vorbild. Aber das ist das Schöne am Fußball: Die Vorfreude und die Spannung auf die Verhaltensweisen. Wenn man die Geschichte des Fußballs betrachtet, dann wiederholt sich vieles immer wieder. Vielleicht spielt doch ein Team gegen Spanien in der kompletten Manndeckung über den ganzen Platz...

SPOX: Auffällig bei Chelseas Erfolg im Champions-League-Finale waren die schlecht ausgeführten Standards der Bayern. Sie hatten 20 Ecken, während Chelsea mit der einzigen Ecke des Spiels den Ausgleich erzielte. Nur Zufall?

Wormuth: Der Zufall hieß Didier Drogba. Der kann das einfach. Der Ball muss nur an die richtige Stelle kommen, dann hast Du als Verteidiger gegen diese sprungkräftige Maschine einfach keine Chance.

SPOX: Löw sagte in der EM-Vorbereitung: "Für mich sind andere Dinge wichtiger als Eckbälle." Ist das nicht fahrlässig nach dem Erlebnis von München? Oder ist das eine zu überspitzte Sicht?

Wormuth: Man sollte sich in Jogi Löw hineinversetzen und nach möglichen Begründungen suchen. Vielleicht erkennt er, dass er nicht die Spieler hat, die sich in Standards im Luftkampf durchsetzen, sondern ihre Kopfballstärke aus dem Spiel heraus haben. Warum also dann Kraft und Zeit für fünf Prozent Verbesserung aufwenden, wenn in anderen Bereichen Aufwand und Ertrag besser passen? Vielleicht erkennt er bei den Gegnern eine starke Qualität im Luftkampf und will deshalb von seinen Spielern Vorsicht in den Zweikämpfen, um Fouls zu vermeiden? Aus einer Gazelle kann man eben keinen Elefanten machen. Ergo: Das Spielkonzept muss auf die Gazelle abgestimmt werden und die schlagen die Elefanten nicht über Standards. Titel sind manchmal wie Märchen...

Frank Wormuth wird während der EM als SPOX-Eperte tätig sein und sich regelmäßig zu Wort melden, um über taktische Trends bei der EM aufzuklären.

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