Party-Stimmung wollte an diesem kalten Istanbuler Abend nicht aufkommen. Obwohl es das alles entscheidende letzte Spiel in der Gruppe war, fühlten sich die türkischen Fußball-Fans nicht dazu aufgerufen, ihre Nationalmannschaft gegen Aserbaidschan tatkräftig zu unterstützen. Zu enttäuscht waren sie vom 1:3 gegen Deutschland wenige Tage zuvor an gleicher Stelle.
Viele der 30.000 Zuschauer, die doch gekommen waren, guckten auf ihre Handys oder hörten im Radio, um mit Deutschland mitzufiebern, das gegen Belgien spielte. Die Deutschen durften nicht verlieren, damit die Türkei zumindest die EM-Playoffs erreicht. Weil in Düsseldorf relativ früh klar war, dass die DFB-Elf nicht verliert, machte sich gähnende Langeweile breit.
Das nächste Highlight konnte eigentlich nur noch der Schlusspfiff sein - bis in der 78. Minute dann doch etwas passierte: Guus Hiddink brachte seine Nummer 20 für die Nummer 5. Gökhan Töre für Emre Belözoglu. Youngster für Routinier. Fußball-Ekstase für Spaßbremse.
Stark für die Türkei, stark für den HSV
Töre nutzte die zwölf Minuten, um die türkische Fußballrepublik für sich zu gewinnen: So viele Aaaaaaaahs und Oooohhhhs in zwölf Minuten hörte man schon lange nicht mehr. Aserbaidschans türkischstämmiger Linksverteidiger Ufuk Budak war froh, dass das Spiel vorbei war, denn seine ordentliche Leistung geriet dank Töre in Vergessenheit. Jedes Mal brach Töre durch, jedes Mal sorgte er für Torgefahr. Hätte Töre an diesem Abend zur Abwechslung auch mal aufs Tor geschossen, wäre vielleicht sogar das erste Länderspiel-Tor drin gewesen. Und dennoch war die Leistung gelungen.
Trainer, Spieler und Fans des Hamburger SV haben ihren Neuzugang bisher meist nicht anders erlebt. Der 19-Jährige ist die Freude am Fußball in Person - eine der wenigen für den HSV in dieser Spielzeit. Das Kraftpaket setzt unermüdlich zu Tempodribblings an, zieht links und rechts an Gegenspielern vorbei und hat sich gerade in den letzten Wochen an die Gepflogenheiten in der Bundesliga gewöhnen können. "Er kann eine Abwehr schwindelig spielen", lobt Hamburgs neuer Trainer Thorsten Fink seinen Schützling.
Fink weiß mit dieser Art Spieler umzugehen, hat er doch beim FC Basel Xherdan Shaqiri zu einem Top-Spieler geformt. Selbst am Makel, defensiv nicht genügend auszuhelfen, hat Töre in den vergangenen Wochen stark gearbeitet. "Das gefällt mir", sagt Fink. "Es macht zwar in der Offensive mehr Spaß. Aber das gehört zum modernen Fußball, auch wenn man dann ein paar Meter mehr laufen muss", sagt auch Töre.
Gelsdorf: "Außergewöhnliche Gaben"
Die Entwicklung, die der gebürtige Dellbrücker durchmacht, ist für Jürgen Gelsdorf keine Überraschung. "Gökhan verfügt über außergewöhnliche Gaben", sagt der Nachwuchskoordinator Bayer Leverkusens, der Töre jahrelang unter seinen Fittichen hatte. "Er spielt jetzt schon stark, aber das sind nur Ansätze seines Könnens. Wenn er so weiter macht, kann er ein Riese werden. Dann stehen ihm nach oben hin alle Türen offen."
Ganz oben - das war Töre eigentlich schon mal. Weil er in der Jugend Leverkusens so stark aufspielte und auch in den türkischen Junioren-Nationalmannschaften stets das absolute Ausnahmetalent war, das immer bei den älteren Jahrgängen mitspielen durfte, wurden schnell Scouts europaweit hellhörig und schickten ihren Klubs die Order, schnell zuzugreifen.
Unterwegs mit Schirkow
"Barcelona und Valencia wollten mich", erinnert sich Töre an das Jahr 2009, aber Frank Arnesen und dessen Sohn Stefan, die Abgesandten des FC Chelsea, die Töre lange Zeit beobachteten, bekamen den Zuschlag. Aus gutem Grund: "Zum einen ist die Premier League die beste Liga der Welt", so Töre. "Auch persönlich war es sinnvoll. Ich konnte richtig Englisch lernen - das ist nun mal die Weltsprache."
Der Youngster, der alleine in einem zweistöckigen Apartment in London lebte, akklimatisierte sich schnell, trainierte regelmäßig bei den Profis mit und hatte unter den Stars gute Freunde gewonnen. "Mit Juri Schirkow war ich fünf Tage die Woche unterwegs", erzählt Töre.
Das einzige Problem war eigentlich nur, dass Töre nur für die Reserve spielen durfte, obwohl er ganz andere Erwartungen hatte. "Ich war ein vollständiges Mitglied der ersten Mannschaft, für die ich ja auch geholt wurde. Ich trainierte mit, ich fuhr am Spieltag sogar mit der Mannschaft zu den Spielen, saß aber dann auf der Tribüne neben den anderen, die nicht im Kader waren." Das war dem ehrgeizigen Youngster nicht genug.
Kritik an Ancelotti
Philosophie von Trainer und Klub machten ihm einen Strich durch die Rechnung. "Es war ja nicht so, dass Carlo Ancelotti schon bei Milan auf die Jugend gesetzt hat. Auch bei Chelsea hat er lieber die Erfahrenen spielen lassen. Und für Roman Abramowitsch war es auch leichter, einen Spieler aus dem Ausland zu holen, als auf die Chelsea-Nachwuchsspieler zu warten."
Nicht nur bei einem anderen Trainer, auch bei einem anderen Klub in London hätte er mehr Chancen für sich gesehen: "Wäre ich bei Arsenal, hätte ich vielleicht schon längst in der Premier League gespielt. Arsene Wenger gibt der Jugend mehr Chancen."
Ob Arsenal zu dieser Zeit interessiert war, ist nicht bekannt. Dies war auch kein Problem für Töre, weil die Interessenten wieder Schlange standen. Selbstverständlich auch aus der Türkei, wo Galatasaray und Fenerbahce schon seit Jahren versuchen, Töre nach Istanbul zu holen, aber auch aus England, Spanien und Deutschland.
Der Tipp von Özil
Im Sommerurlaub auf Ibiza nahm sich Töre Zeit, um die Angebote auszuloten. Mi dabei war Mesut Özil, den Töre "einen guten Kumpel" nennt. Özil fand es eine gute Idee, dass Töre zum Hamburger SV geht und die Hanseaten hatten auch ohne Özils Tipp ein schlagkräftiges Argument: in Person von Frank Arnesen, der als Sportdirektor verpflichtet wurde und den Türken ein zweites Mal von einem Wechsel überzeugen konnte.
"Es war schade, dass Frank Arnesen Chelsea verließ, aber ich hatte nicht viel Zeit, traurig zu sein, weil er mich nach Hamburg mitgenommen hat. Wegen ihm bin ich gewechselt", so Töre. Während rund um den Wechsel in Deutschland von einem Perspektivspieler für die Zukunft gesprochen wurde, war sich Töre schon zu dieser Zeit sicher, dass sein Platz in der Profi-Mannschaft sei.
Als er im Sommer-Trainingslager gefragt wurde, ob er sich denn vorstellen könnte, bei der Regionalliga-Mannschaft aufgebaut zu werden, hatte Töre eine klare Meinung: "Nee, da will ich auf keinen Fall hin. Ich will es gleich in die erste Mannschaft schaffen."
Kein Problemkind
Teils wurde Töre für seinen selbstbewussten öffentlichen Vorstoß belächelt. Ohnehin eilte ihm der Ruf des schwierigen und arroganten Teeniestars voraus. Jürgen Gelsdorf widerspricht vehement: "Er ist in einem Stadtteil aufgewachsen, wo es nicht leicht ist. Er hat gelernt, dass man sich durchsetzen muss. Daraus abzuleiten, dass Gökhan ständig Probleme macht, ist Quatsch."
Auch St. Paulis Deniz Naki, mit dem Töre in Leverkusen spielte und der nun in Hamburg ein ständiger Begleiter ist, bürgt für Töre: "Gökhan ist ein positiv verrückter Junge." Diese Verrücktheit schätzt man beim Hamburger SV, aber auch in der türkischen Nationalmannschaft, wo ihm mittelfristig ein Stammplatz auf der rechten Seite zugetraut wird.
Töre erfüllt es mit "Stolz", dass er für die "Milli Takim", der Nationalmannschaft, spielen darf. Nicht nur aus sportlichen Gründen: Den Einsatz für den Halbmond hat er seinem Opa Sabri am Sterbebett versprochen.
Der Großvater war die wichtigste Bezugsperson im Leben des jungen Gökhan, der bei Oma und Opa aufwuchs.
Der Kader der türkischen Nationalmannschaft