Athletic Bilbao ist anders. ETA-Opfer werden von Fans verhöhnt, im Team sind ausschließlich Basken willkommen und Marcelo Bielsa, "der Verrückte", startet als neuer Trainer. Die Vorzeichen sind vielversprechend. Mit einer Mischung als alten Leistungsträgern und jungen Supertalenten will man an glorreiche Zeiten anknüpfen.
Freitag, 9. März 2008, 16.59 Uhr: Spaniens Fußball hält den Atem an. Um dem von der Terrororganisation ETA hinterhältig hingerichteten Ex-Stadtrat Isaias Carrasco zu gedenken, setzte der Liga-Verband eine Schweigeminute vor Spielbeginn an.
Dies galt auch für Athletic Bilbao. Beim Klub aus dem Baskenland wurde eine solche Ehre bis dato höchstens verstorbenen Vereinsgrößen zuteil. Und eigentlich hätte man sich diese erste Schweigeminute für ein ETA-Opfer ebenfalls sparen können - denn sie verkam zur Farce.
Schon bei der Ankündigung hagelte es gellende Pfiffe, auf den Tribünen wurden euphorisch baskische Fahnen geschwenkt. Bis sich der Schiedsrichter erbarmte und die Partie anpfiff. Die "Minute" dauerte nicht länger als zehn Sekunden.
"ETA, bringt sie um!"
Bei keinem anderen Klub dieser Größenordnung in Europa wäre es wohl vorstellbar, dass eine Schweigeminute für das Opfer eines tödlichen Attentats in ein Pfeifkonzert mündet. Oder dass eine Gruppe von Fans auffordernd in Richtung Gäste-Anhang skandiert: "ETA, bringt sie um!" - so geschehen 2010 im Spiel gegen Atletico Madrid.
Doch im Baskenland herrschen andere Zustände. Sympathien für eine Organisation, die die Forderung nach einem unabhängigen "Pais Vasco" (Baskenland) mit Gewalt durchzusetzen versucht, werden dort im Stadion kundgetan.
Es sind nur zwei der zahlreichen Nachweise dafür, welch außergewöhnliche Position Athletic Bilbao und sein Umfeld im Fußball des 21. Jahrhunderts einnehmen. Die Klubphilosophie ist dem Lokalpatriotismus unterworfen. Und das in einer Form, die in Europa nach wie vor seinesgleichen sucht.
Noch immer werden ausschließlich Basken oder Spieler mit baskischen Vorfahren verpflichtet, über allem steht "der Stolz, ein Baske zu sein".
Vereinsrichtlinien unumstößlich
Völlig überholt? Nicht mehr zeitgemäß? Was manch Mitteleuropäer mit Kopfschütteln quittiert, ist bei Athletic unumstößlich.
Wie groß der Zuspruch unter den Bilbao-Anhängern für eine möglichst rein baskische Fußballmannschaft ist, wurde im März 2010 eindrucksvoll unterstrichen. 6464 Vereinsmitglieder gaben ihr Votum ab, als die Beibehaltung der Vereinsrichtlinien zur Debatte stand.
Das Resultat: 93 Prozent stimmten dafür, die Klub-Philosophie in ihrer bisherigen Form aufrechtzuerhalten.
Es war ein klares Statement der Bilbao-Mitglieder in einem Zeitalter, in dem selbst Athletic nicht mehr auf Trikot- und Bandenwerbung sowie auf den Bau einer moderneren Arena verzichten konnte und bereits diese einstigen Tabus aufgab. Wenigstens das Team solle weiterhin ein Spiegelbild des Baskenlandes sein.
Bielsa: Der Verrückte als Hoffnungsträger
Trotz dieser schwerwiegenden Einschränkungen ist der sportliche Werdegang Bilbaos erstaunlich. Das Team, das mit Barca und Real als einziger Verein schon immer in der Primera Division spielt und acht Mal spanischer Meister wurde, ist 2009 dem Abstieg nur knapp entgangen. Seitdem ging es jedoch stetig bergauf. Vorläufiger Höhepunkt: Platz sechs in der vergangenen Saison.
Und dank Fenerbahces Ausschluss und Trabzonspors Nachrücken in die Königsklasse qualifizierte sich Athletic in den Playoffs quasi kampflos für die Europa League.
Um auch international bestehen zu können, wurde im Sommer ein neuer Trainer mit entsprechendem Format verpflichtet. Der neue Hoffnungsträger ist Marcelo Bielsa, "el Loco", der Verrückte.
Ein Trainer, der sich außerhalb der üblichen Konventionen bewegt. Ein Trainer, der unkonventionell mit Dreierkette spielen lässt. Ein Trainer, der angeblich in den Zoo geht, wenn ihm die Inspiration fehlt.
Bilbao statt Inter: Bielsa steht zu seinem Wort
Dabei hatte der 56-Jährige hochkarätige Angebote von Inter Mailand und dem FC Sevilla vorliegen. Doch Bielsa hatte Bilbao bereits sein Wort gegeben, als Inter anklopfte. Seine Entscheidung zugunsten von Bilbao stand bereits fest - und war von anderen Motiven geleitet.
"Einen Nationalspieler zu motivieren, ist nicht schwer, weil es dabei nicht ums Geld geht. Dieser Verein bewegt sich in einem ähnlichen Rahmen", erklärte Bielsa mit einem Verweis auf den "Stolz, und die Identität" des Klubs.
Seinen Stempel konnte der Argentinier Bilbao allerdings noch nicht aufdrücken. Der Saisonstart ging mit einem Punkt aus zwei Partien in die Hose, doch die Spieler sind von ihrem neuen Coach überzeugt. "Wir glauben fest an den Trainer und an seine Art zu spielen", sagte Ander Herrera.
Konstruktiver Offensivfußball
Bielsas System wirkt auf den ersten Blick altmodisch: Als Nationaltrainer von Chile ließ er bei der WM 2010 mit einer Dreierkette in der Abwehr spielen, offensiv setzte er meist auf einen Zehner und drei Spitzen. Ein 3-3-1-3-System, das man in dieser Form heute kaum noch vorfindet.
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Zudem unterscheidet er nicht gerne zwischen Verteidigern und Stürmern, zumindest was ihre Rolle im Gesamtgefüge betrifft. Bei gegnerischem Ballbesitz gibt es im taktischen Gerüst des 56-Jährigen zehn Verteidiger, die allesamt am konsequenten Pressing teilnehmen und ständig das eine Ziel vor Augen haben: eigener Ballbesitz.
Nach dem Umschalten kennt Bielsa mit Ausnahme des Torhüters nur noch Angreifer. Er ist ein Verfechter des Offensivfußballs, lässt lieber konstruktiv als destruktiv spielen.
Bei Athletic genießt er vollstes Vertrauen und soll ausreichend Zeit erhalten, um dem Team seine Handschrift zu geben. Selbst der Ex-Coach brach jüngst eine Lanze für seinen Nachfolger: "Wir alle müssen den Trainer unterstützen", forderte Joaquin Caparros, der im Juni für Bielsa weichen musste, und stellte klar: "Man muss ihm nur genügend Zeit geben."
Alte Leistungsträger und junge Supertalente
Am sportlichen Personal fehlt es dem Coach indes nicht - ganz im Gegenteil: Während andere Trainer bei einem neuen Verein den Kader komplett umkrempeln, tätigte Bielsa in Bilbao bis heute nicht eine einzige Neuverpflichtung.
Allerdings hat der Klub auch keinen Leistungsträger zur Sommerpause abgegeben. Javi Martinez, David Lopez, ja selbst der viel umworbene Dauer-Goalgetter Fernando Llorente wurde gehalten. Ehrensache für den Basken, der bereits über 200 Ligaspiele für Athletic auf dem Buckel hat und allein vergangene Saison 18 Tore erzielte.
Primera Division: Die Players to watch u.a. Jon Aurtenetxe
"Es gab Interesse von Tottenham, aber ich habe nicht einen Gedanken daran verloren, Athletic zu verlassen", so das Bekenntnis des 26-jährigen Nationalstürmers.
Und auch für die kommende Generation ist vorgesorgt: Mit Iker Muniain, Jon Aurtenetxe und Ander Herrera stehen drei der größten Talente der Primera Division im Bilbao-Kader.
"...damit die Welt endlich wieder Ruhe gibt"
Jener Herrera wird am Donnerstagabend aufgrund einer Meniskusverletzung nur passiv daran teilhaben können, wenn die Bielsa-Truppe bei Slovan Bratislava den ersten Dreier unter dem neuen Trainer anpeilt.
"Wir brauchen einen Sieg, damit die Welt endlich wieder Ruhe gibt", forderte Stürmer Gaizka Toquero. Ein Erfolgserlebnis in der Europa League wäre jedoch nicht nur sportlich zwingend notwendig, sondern auch finanziell wichtig.
Die Einnahmen aus dem Europacup kann Bilbao gut gebrauchen. Schließlich erhalten die Spieler dort außergewöhnlich hohe Gehälter, so sind sie am leichtesten für ein langfristiges Engagement im Baskenland zu gewinnen. "Bei Bilbao können auch mittelmäßige Spieler gutes Geld verdienen", bestätigte Spanien-Experte Ricardo Moar schon 2009 gegenüber SPOX.
Die Einnahmen für ein Weiterkommen in der Europa League wären wirtschaftlich also von enorm hoher Bedeutung. So könnte man sich in Bilbao auch weiterhin das Privileg leisten, eine stolze Regional-Auswahl zu stellen.
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