Die polnische Fankultur hat sich vom Fußball entkoppelt, sagt Marc Quambusch. Der Filmemacher hat für "ZDFinfo" eine Dokumentation über Groundhopping und die Fankultur gedreht und war dafür in den EM-Gastgeberländern Polen und Ukraine unterwegs. Mit SPOX sprach er über seine beeindruckenden Erlebnisse.
SPOX: Herr Quambusch, wie kam es zu Ihrer Dokumentation über Groundhopping und die Fankultur in Polen?
Marc Quambusch: Fankultur wird in Deutschland immer gerne bewertet. Entweder ist das alles nicht so schlimm oder es ist ein Verbrechen. Mir ging es darum, einen Blick auf die polnische Fankultur zu haben und die Leute auch mal nachdenken zu lassen. Vor einem Jahr habe ich dann angefangen, diese Doku zu entwickeln. Ich wollte immer mal einen Film machen, der Fans auch zu Wort kommen lässt und sie so zeigt, wie sie sind - ohne es zu bewerten.
SPOX: Das Hobby Groundhopping ist nicht jedem bekannt. Für die Fans geht es vor allem darum, möglichst viele Fußballspiele in möglichst vielen verschiedenen Stadien zu sehen.
Quambusch: Richtig. Einer unserer Protagonisten ist gerade aus Argentinien wieder gekommen. Der guckt 300 Spiele im Jahr, hat 50 bis 60 Länder bereist. Er hat sogar mal 14 Tage auf dem Flughafen in Manchester geschlafen.
SPOX: Wieso das?
Quambusch: Für viele Groundhopper ist das eine Frage des Geldes. Unser Protagonist sagt, da gibt es Bänke ohne Armlehnen, man kann da in Ruhe schlafen und auch duschen. Die Stadt ist mit dem Zug nur zehn Minuten entfernt. Das kostete ihn für 14 Tage null Euro.
SPOX: Ihr Team und Sie waren aber nicht in England unterwegs, sondern in Polen und der Ukraine. Wie lief die Reise ab?
Quambusch: Wir wollten eigentlich durch Polen und die Ukraine reisen. Nach den Bombenanschlägen in Dnjepropetrowsk war es aber in der Ukraine schwierig. Wir waren dann nur in Lemberg, als das Stadion von der UEFA getestet wurde. Da spielte eine U 16 und eine U 17, also sportlich unter aller Kanone. Was gar nicht so lustig war, ist der Umstand, dass am Stadion noch viel zu tun war. Die Parkplätze wurden erst gebaut. Im Pressebereich lagen Kabel offen rum. Das war im April. Wenn die rechtzeitig fertig werden, fresse ich einen Besen!
SPOX: Zuerst ging es nach Polen. Ihre drei Protagonisten haben sich aber nicht nur Spiele der Ekstraklasa angeguckt, sondern auch ein fünftklassiges Spiel besucht.
Quambusch: Irritierend und faszinierend. Im Stadion von Przeworsk gibt es eine Gästetribüne, die komplett mit Stahlgittern eingezäunt ist. Der Block ist schätzungsweise zehn mal drei Meter groß. Da passen maximal 150 Leute rein. Und dieser Käfig wird dann vor dem Spiel zugesperrt. Da kommen Vorhängeschlösser vor und dann sind die Fans da drin. Allein dieser Käfig ist schon ein beeindruckendes Bild.
SPOX: Gibt es solche Konstruktionen denn öfter?
Quambusch: Nein, das ist eine Ausnahme. Das hat der Verein damals so eingeführt, weil er kein Geld hatte und die Ordner nicht bezahlen konnte. Aber für unser Verständnis wirkt das natürlich unfassbar menschenunwürdig. Als wir da waren, waren allerdings gar keine Gästefans da.
SPOX: Ein Spiel ohne Gästefans? Das gibt's in Deutschland ja nur als Bestrafung. Hatten sich die Fans der Auswärtsmannschaft danebenbenommen?
Quambusch: Es ist in Polen immer schwer zu sagen, wann Gästefans überhaupt zugelassen werden. Das ist immer abhängig von der Polizei. Was ich während der Tour gelernt habe: im Vergleich zu Deutschland ist Polen sehr schwer planbar. Das Pokalfinale sollte zum Beispiel eigentlich im Nationalstadion in Warschau stattfinden. Weil die Polizei da aber wegen zuviel verbauten Stahls nicht funken konnte und weil man Angst vor Randale hatte, wurde das dann verlegt. Erst stand ewig nicht fest, wo es dann stattfindet und kurz vorher wurde dann Kielce als Austragungsort festgelegt. Das kann man sich mit unserer deutschen "Planungswut" ja nicht vorstellen.
SPOX: Die Sicherheitsbedenken waren ja nicht ganz unberechtigt. Beim Pokalfinale wurden Massen an Pyrotechnik abgebrannt. Wie hat das auf Sie gewirkt?
Quambusch: Das Pokalfinale war für mich surreal und beeindruckend zugleich. Es waren nur die Fankurven besetzt. In jeder Kurve standen 3.100 Leute. Ein paar Tickets wurden noch für Haupt- und Gegentribüne verkauft, die waren aber de facto leer. Die 7.000 Leute, die im Stadion waren, haben einfach alle mitgemacht, waren wirklich unfassbar laut und haben Pyro gezündet wie die Bekloppten. Das kann man eigentlich nicht mit einem deutschen Spiel vergleichen. Was in Polen auf den Tribünen passiert, hat sich ein bisschen entkoppelt vom Fußball.
SPOX: Wie meinen Sie das?
Quambusch: Die Fans machen auf den Rängen einfach ihr eigenes Ding. Das hat relativ wenig damit zu tun, was auf dem Platz passiert. Der Fußball spielt nur eine Nebenrolle. Wir haben auch mit dem Capo, also dem Vorsänger von Legia Warschau gesprochen. Er sagte, dass ihn Fußball nicht wirklich interessiert. Für ihn ist es zwar nett, wenn sein Verein gewinnt, aber wichtig ist, was auf den Tribünen stattfindet. Es geht um eine gute Show auf den Rängen, den eigenen Verein gut darzustellen. Selbst wenn Legia auf dem Platz verliert, will er sagen können: "Auf den Rängen haben wir gewonnen".
SPOX: Das brauchte er ja nach dem Pokalendspiel nicht zu sagen. Legia Warschau gewann gegen Ruch Chorzow 3:0. Die Stimmung war nach dem Spiel sicher gut.
Quambusch: Richtig. Der Mannschaftskapitän von Legia Warschau ging dann in die Fankurve und hat dem Capo den Pokal in die Hand gedrückt. Das sagt schon eine Menge über die Beziehung von Fans zu Spielern in Polen aus. Ich kann mir in Deutschland nicht vorstellen, dass beispielsweise Philipp Lahm dem Vorsänger der Schickeria im Stadion einen Pokal in die Hand drückt.
Teil II: Warum mehr Kontrollen nicht zwingend größere Sicherheit bedeuten
SPOX: Hatten Sie denn nur mit Ultras zu tun oder gab es auch Kontakt zu Normalo-Fans?
Quambusch: Die meisten polnischen Fans sind de facto Ultras. Es gibt deutlich weniger normale Fußballfans. In den Stadien sind die meisten Ultras. Es ist ein bisschen wie in Deutschland Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger: deutlich wilder und roher, es sind weniger Fußballinteressierte da. Aus unserer Sicht wirkte es einfach mächtig, was da passiert. Wobei es nach Aussage der Fanbeauftragten auch da deutliche Fortschritte gibt. Die Gewalt in den Stadien ist deutlich zurückgegangen.
SPOX: Ein Grund dafür dürften die neuen Arenen sein, die anlässlich der anstehenden Europameisterschaft gebaut oder modernisiert wurden. Wie werden die neuen Stadien angenommen?
Quambusch: Da sind die Meinungen gespalten. Die Legia-Vorsänger sagte, er vermisst sein altes Stadion in Warschau. Der Fanbeauftragte sagte dagegen, dass die meisten Fans sehr glücklich sind über die Neubauten. Das kann ich auch durchaus verstehen. Wir waren im Stadion von LKS Lodz. Das ist ein alter Bau. Eine Ostschüssel, wo nachträglich quasi eine Stahlrohrtribüne rein gebaut wurde. Es ist total spannend, wenn man da einmal hingeht. Aber wenn ich mir vorstelle, dass ich da alle vierzehn Tage zum Fußball hin muss, dann ist das mit der Romantik auch ziemlich schnell vorbei.
SPOX: Als Vorbereitung auf die EM wurden die Sicherheitsvorkehrungen deutlich erhöht. Im TV sieht man oft Polizeiübungen, bei denen Fans kontrolliert werden sollen. Wie wirkt sich das auf den normalen polnischen Fußballalltag aus?
Quambusch: Der polnische Fußball ist definitiv gewalttätiger, aber darauf darf man es nicht reduzieren. Da tut man Polen unrecht. Die Sicherheitsmaßnahmen sind wirklich krass. Der Einlass dauert ewig. Bei Legia Warschau gegen Wisla Krakau wollten 1.600 Gästefans das Spiel sehen. Die Polizei hat darum gebeten, dass alle sechs Stunden vorher kommen. Trotzdem waren nicht alle zum Anpfiff im Stadion. Beim Pokalfinale waren die letzten Leute etwa in der 70. Minute im Stadion. Das geht aus meiner Sicht gar nicht. Man hat Geld für eine Karte bezahlt und dann ist man erst 20 Minuten vor Schluss im Stadion - da dreht man ja durch.
SPOX: Woran liegt es denn? Sind die Kontrollen so viel schärfer?
Quambusch: Es ist alles personalisiert. Es gibt eine Fankarte mit Foto, das wird abgeglichen. Außerdem wird jeder kontrolliert. Wenn's bei uns kurz vor Anpfiff ist, werden die Kontrollen ja schon mal etwas lascher. Die Polen machen dann aber einfach weiter. Und wenn es bis zur 70. Minute dauert, dann ist das halt so. Trotzdem ist es extrem ineffektiv. Man muss sich einfach nur angucken, was beim Pokalfinale mit gerade mal 7.000 Zuschauern alles an Pyrotechnik im Stadion war.
SPOX: Nach den Vorfällen der letzten Wochen wird auch in Deutschland gerade wieder über strengere Kontrollen diskutiert. Sie glauben also nicht, dass das was ändert?
Quambusch: In Polen gibt es unfassbar strengere Kontrollen und es nützt rein gar nichts. Wie die das Zeug ins Stadion kriegen, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber da gibt's kreative Mittel und Wege. Man muss wohl nur die richtigen Leute kennen. Da braucht man sich nichts vormachen: wenn man was ins Stadion kriegen will, kriegt man das auch rein.
SPOX: Kann man denn so einen Vergleich zu Deutschland ziehen?
Quambusch: Ich glaube, wir jammern in Deutschland auf einem wirklich hohen Niveau - auch was den Einsatz von Pyrotechnik angeht. Wenn hier in einem Spiel so viel Pyro verknallt würde, dann würde sofort die Bundesinnenministerkonferenz zusammengerufen. Das heißt natürlich nicht, dass das Thema hier nicht ernsthaft diskutiert werden muss, aber ich finde es ganz gut, da mal über die Ländergrenze hinaus zu gucken. Wir haben in Deutschland sehr viel Spaß und Sicherheit in den Stadien - unabhängig davon, ob es Probleme gibt. Aber wenn man Deutschland mit Polen vergleicht, dann ist das eine vollkommen andere Dimension.
SPOX: Aber auch in Polen ist die Atmosphäre nicht nur von Feuerwerkskörpern bestimmt. Wie ist das Fanverhalten sonst?
Quambusch: Die polnischen Fans sind lauter und viel engagierter, allerdings mit deutlich weniger Bezug zum Spiel. In Deutschland sind die Stadien zwar deutlich ruhiger, aber wenn der Schiedsrichter mal ein Foul nicht pfeift, dann rastet auch mal die Haupttribüne aus. Das ist eine größere emotionale Schwankung. In Polen ist es dagegen ein gleichbleibendes, brachial lautes Niveau. Das ist echt beeindruckend. Dazu muss man auch sagen, dass das Niveau des polnischen Fußballs grauenhaft schlecht ist. Ein Fan sagte: "Es gibt vier gute polnische Spieler. Davon spielen drei in Dortmund und der vierte bei Arsenal im Tor." Da kann ich dann durchaus verstehen, dass die sich auf den Rängen ein anderes Spielchen draus machen.
SPOX: Wie liefen die Dreharbeiten? Selbst in Deutschland kommt man als Journalist ja nicht einfach zu Gesprächspartnern in der Ultra-Szene. Wenn aber ein Deutscher in Polen recherchiert, dürfte das ungemein schwerer sein.
Quambusch: Ohne unseren zweiten Protagonisten Jan wäre die Doku niemals so ein tiefer Einblick in die Fankultur geworden. Jan ist Union Berlin-Fan und kennt in Polen Gott und die Welt. Natürlich gibt ein Capo einer polnischen Ultragruppe nicht irgendeinem daher gelaufenen deutschen Journalisten ein Interview. Da Jan sie kannte, haben uns aber alle Rede und Antwort gestanden. Ich war zwischendurch echt verzweifelt und habe mich gefragt, wie da je ein gescheiter Film draus werden soll.
SPOX: Am Ende scheint es doch geklappt zu haben. Warum gab es denn Bedenken?
Quambusch: Es war tierisch viel Material und viel zu wenig Zeit. Eigentlich hätten wir dreimal so viel Zeit vor Ort gebraucht. Wo ich das Ding jetzt fertig gesehen habe, ist es zwar anders geworden, als ich gedacht habe, aber ich bin echt stolz. Allerdings wäre das ohne die übers Normale rausgehende Unterstützung durch die Produktionsfirma Riesenbuhei Entertainment und das enorme Vertrauen und die Kompetenz der Leute bei ZDFinfo niemals möglich gewesen. Das ist der Film, den ich mein ganzes Leben machen wollte und jetzt endlich machen konnte.
Marc Quambuschs Dokumentation "Verrückt nach Fußball" läuft am Sonntag, 27. Mai 2012 um 12 Uhr erstmals auf ZDFinfo. Wiederholt wird die Sendung zudem in der darauffolgenden Nacht um 1.15 Uhr im ZDF-Hauptprogramm. Weitere Sendetermine auf ZDFinfo: 2. Juni um 17.15 und 23.45 Uhr, 3. Juni um 8.15 Uhr, sowie am 18. Juni um 19.45 Uhr.