Der deutsche Sportjournalist Raphael Honigstein lebt seit über 20 Jahren in London und bekommt den Premier-League-Hype um Jürgen Klopp hautnah mit. Im November veröffentlichte er die Biografie "Ich mag, wenn's kracht" über den Trainer des FC Liverpool. Im Interview spricht Honigstein über Klopp als Wiesenkicker, Weihnachtsmann und Heilsfigur bei den Reds. Außerdem wagt er eine Prognose über dessen Zukunft.
SPOX: Herr Honigstein, Sie haben schon mehrere Bücher geschrieben, wie zum Beispiel "Der vierte Stern: Wie sich der deutsche Fußball neu erfand" über den Weg zum deutschen WM-Titel 2014. Wie kamen Sie auf die Idee, eine Biografie über Jürgen Klopp zu schreiben?
Raphael Honigstein: Das hat sich organisch ergeben. Als Klopp nach Liverpool kam, war der Hype riesig und ich als deutscher Journalist in England häufig involviert. Also dachte ich mir, dass es Sinn machen würde, die Sache ausführlicher zu behandeln. Man konnte diesem enormen Interesse mit Artikeln oder dem einen oder anderen Fernsehauftritt eigentlich gar nicht gerecht werden. Die Nachfrage nach allem, was mit Klopp zu tun hatte, war enorm groß.
SPOX: Es war also ein Buch speziell für den englischen Markt?
Honigstein: Ursprünglich war es für England gedacht. Vor allem Liverpool-Fans sind fast schon "Mini-Fußball-Archäologen", die gern in der Historie wühlen: Wo kommt er her, was hat er gemacht, wie könnte sich das auf seine Trainer-Laufbahn bei Liverpool auswirken? Im Februar wird das Buch auch in den USA erscheinen, dort gibt es ebenfalls sehr viele Liverpool-Fanklubs. Der Verein ist einfach weltweit ein großes Thema.
SPOX: Deshalb auf Englisch.
Honigstein: Ja, wobei auch relativ schnell Interesse aus Deutschland kam, nachdem der Deal mit einem englischen Publisher im Sommer 2016 unterzeichnet war. Die Übersetzung ins Deutsche hat Vor- und Nachteile. Der Vorteil im Deutschen ist, dass die Zitate im Originallaut gedruckt sind: Christian Heidel zum Beispiel hört man richtig, in seiner typischen Art. Im Englischen musste ich die Zitate stark bearbeiten, das war viel Arbeit. Dafür ist es stilistisch anders, weil es einen gewissen Rhythmus hat, oder Wortspiele, die man so nicht übersetzen kann.
Peter SchiazzaSPOX: Wie viele Interviews haben Sie für das Buch geführt?
Honigstein: Am Ende waren es vielleicht 40 bis 50 Interviews. Meine Intention war es, mit möglichst vielen Leuten zu reden und Jürgen Klopp von vielen Seiten zu beleuchten. Gleichzeitig sollte es aber ein Fußballbuch sein: Im Idealfall weiß der Leser danach, wie sein Fußball, wie Fußball an sich funktioniert. Trainer denken über Fußball auf vielen Ebenen nach, von denen man als Journalist, als Nahe-, aber eben doch Außenstehender, nicht viel mitbekommt.
SPOX: Plaudern die Leute anders aus dem Nähkästchen, wenn man ein Buch schreibt?
Honigstein: Man kann es schlecht vergleichen, weil die Gesprächssituation eine andere ist. Aber ein Buch hat durch seine Langlebigkeit natürlich eine andere Wertigkeit, es ist nicht heute veröffentlicht und morgen vergessen. Ich glaube, dass unbewusst das Gefühl da ist: Was ich da sage, landet in einem Buch, das lesen viele Leute und bilden sich so ihre Meinung über Jürgen Klopp. Deshalb spricht man reflektierter. Für mich war das der Teil, der mir am meisten Spaß macht: sich zwei Stunden mit Christian Heidel hinzusetzen und er packt dann seine Geschichten aus. Das Erstaunliche war, dass bestimmt zwei Drittel meiner Gesprächspartner vorher bei Klopp nachgefragt haben, ob er damit einverstanden ist, dass sie über ihn reden. Das zeigt, wie eng die Verbundenheit zu früheren Kollegen und Spielern immer noch ist.
SPOX: Klopp wusste also irgendwann, dass Sie ein Buch über ihn schreiben. Haben Sie auch mit ihm persönlich gesprochen?
Honigstein: Nachdem ich den Vertrag unterschrieben hatte, habe ich sein Management informiert. Es kam dann relativ schnell die Ansage, dass Klopp nicht aktiv mitmachen will. Er hat für sich entschieden, dass er ein solches Projekt - wenn überhaupt - erst nach dem Ende seiner Trainerkarriere angehen will und deshalb schon sehr viele ähnliche Angebote ausgeschlagen. Das war einerseits schade, andererseits hatte ich so auch enorme Freiheiten und konnte machen, was ich wollte, ohne es am Ende jemandem vorlegen zu müssen.
SPOX: Er hat Ihnen also keine Steine in den Weg gelegt.
Honigstein: Im Gegenteil. Er und sein Management haben im Hintergrund geholfen, weil sie allen gesagt haben: Ja, ihr könnt mit ihm reden. Er hätte diese Türen auch dichtmachen können, insofern war das sehr hilfreich. Ich weiß von anderen Kollegen, die bei ähnlichen Büchern nicht so viel Glück hatten. Selbst gelesen hat er es erst, als ich es ihm vor rund einem Monat nach dem Spiel gegen West Ham in die Hand gedrückt habe.
SPOX: Wie fiel die Reaktion aus?
Honigstein: Er ist direkt im Anschluss des Spiels für ein paar Tage nach Südafrika geflogen und hat es wohl schon im Flugzeug gelesen. Zehn Tage später habe ich ihn in Liverpool getroffen: Er meinte, dass es ihm sehr gefallen hat, er habe sich an viele Geschichten gar nicht mehr erinnern können und habe viel gelacht. Für mich war das natürlich sehr schön, weil ich ein ganzes Jahr am Buch gearbeitet habe, sieben Tage die Woche, oft auch abends und den ganzen Sommer über. Wenn der Protagonist dann sagt: "Das ist nicht mein Fall", wäre das schon blöd gewesen. (lacht)
SPOX: Sehen Sie Klopp jetzt mit anderen Augen? Haben Sie das Gefühl, ihn besser zu verstehen?
Honigstein: Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass ich mehr dahinter steige, was seine Überlegungen angeht. Das hat damit zu tun, dass ich viel Zeit mit Peter Krawietz verbracht habe, seiner Nummer drei. Er hat mir viel darüber erzählt, wie das Trainerteam über Fußball denkt. Das war für mich das Interessanteste am Buch: Was will er eigentlich? Wie funktioniert sein Fußball? Wie schafft man es, eine Mannschaft ins Laufen zu bringen? Ich verstehe einerseits seinen fußballerischen Ansatz besser als zuvor, aber auch die menschliche Komponente. Wenn man mit so vielen Leuten gesprochen hat, kann man sich eine fundierte Meinung darüber bilden, wie Jürgen Klopp als Mensch funktioniert.
SPOX: Und wie ist er, der Mensch hinter dem Trainer? Mussten Sie Ihre Meinung über ihn ändern?
Honigstein: (überlegt) Nein, ich hatte im Großen und Ganzen eine ähnliche Vorstellung. Er ist mir nur noch sympathischer geworden.
SPOX: Wieso das?
Honigstein: Wenn mir im Gespräch so viele - von denen ich auch einige schon kannte - das Gleiche sagen: "Super Typ, ich mag ihn, ehrlich, man kann mit ihm reden ... ", dachte ich mir, dass sie sich nicht alle irren können. (lacht) Es waren so viele Details und Anekdoten dabei. Wenn Spieler, bei denen man wusste, dass es am Ende auch mal krachte, hinterher sagen: "Der Mann ist fantastisch, ich drücke ihm bei Liverpool die Daumen", ist das schon bemerkenswert. Zum Ende seiner Zeit in Deutschland, als er doch öfter mal gereizt war, konnte man das Gefühl bekommen, dass er gar nicht so nett ist. Oder als er sich neulich nach dem Derby gegen Everton mit einem Reporter anlegte. Wenn man ihn nicht kennt, hält man ihn in diesen Situationen vielleicht für arrogant. Aber ich weiß, dass ihm das rausrutscht und es ihm hinterher sehr leid tut - er hat sich ja auch bei dem Fernsehreporter direkt entschuldigt. Deshalb sehe ich ihn in einem anderen Licht und positiver als zuvor.
SPOX: Gibt es etwas, das Sie ihm auf keinen Fall zugetraut hätten?
Honigstein: Die Frage bekomme ich sehr oft gestellt. Es waren hunderte Details, die sich zu einem Gesamtbild zusammenfügten und oft etwas bestätigten, was ich schon ahnte und jetzt untermauern konnte. Wirklich überraschend war zum Beispiel die Anekdote, dass Klopp in seinem ersten oder zweiten Bundesliga-Jahr mit Mainz 05 in einer Firmenliga mitgekickt hat, wenn dort Spieler gebraucht wurden. Es war eine Internetfirma, in der Peter Krawietz aktiv war. Die Vorstellung, dass ein Bundesliga-Trainer auf einer Wiese ab und zu gegen Leute aus irgendwelchen Sparkassen spielt, hat schon was.
SPOX: Haben Sie vielleicht eine Anekdote für uns, die es nicht ins Buch geschafft hat?
Honigstein: Es gibt die Geschichte von seinem Junggesellenabschied, als er und ein paar Kumpels als Weihnachtsmänner verkleidet durch Mainz gezogen sind. Er war damals schon so bekannt, dass er eigentlich nicht weggehen konnte, deshalb die Verkleidung. Das wusste ich, aber nicht, was danach kam: Mir wurde gesagt, dass die Truppe dann nicht in einen Club kam: "Wir wollen keine zehn Weihnachtsmänner!" Aber das konnte ich leider nicht mehr sauber recherchieren.
SPOX: Hat sich das Bild von Klopp in England im Vergleich zu seinen Anfängen verändert? Sportlich wartet er ja noch auf den ganz großen Durchbruch.
Honigstein: Der Hype hat sich auf jeden Fall ein bisschen beruhigt, weil man merkt, dass es bei Liverpool vorangeht, aber nicht von null auf hundert. Er hat Liverpool eben nicht von einem Tag auf den anderen zu großen Titeln geführt und nach 20 Jahren wieder zur besten Mannschaft Englands gemacht.
SPOX: Und speziell bei den Liverpool-Fans?
Honigstein: Bei den Reds ist die Mehrheit der Fans und Entscheidungsträger im Verein immer noch schwer begeistert von ihm, die Stadt liegt ihm zu Füßen. Vielleicht war es in den ersten Jahren in Dortmund ähnlich, als es von Platz 13 auf sechs und dann auf fünf ging. Beim BVB hatte man das Gefühl: Hier passiert was. Aber von außen betrachtet hatte man im ersten Jahr die Europa League verpasst und danach knapp erreicht - damals hat ihn niemand zum besten Trainer Deutschlands gekürt. Jetzt steht er an einem ähnlichen Punkt: Man merkt, dass es funktioniert, aber dass er für ganz vorn noch Zeit braucht, vielleicht auch andere Spieler.
SPOX: Hat Klopp sich in seiner Zeit in England verändert?
Honigstein: Verändert ist das falsche Wort. Er musste lernen und lernt immer noch: Über den Fußball, über das Leben dort. Es hat sicher Zeit und Nerven gekostet, sich auf Dinge wie die fehlende Winterpause oder die andere Regelauslegung einzustellen. Ich glaube, da war er am Anfang schon ein bisschen frustriert. Aber er nimmt das an, geht damit um und kommt der Sache immer näher. Das ist ein normaler Prozess, wenn du ins Ausland gehst, das kenne ich auch von mir: Du musst Dinge automatisch anders machen und wirst dadurch auch ein anderer Mensch. Nicht im Hinblick auf den Charakter, aber man wird mit anderen Dingen konfrontiert, muss die Dinge anders angehen. Es ist ganz normal, dass er nicht so tun kann, als wäre er weiter in Dortmund und nur das Trikot hat eine andere Farbe.
SPOX: Wie sieht die Zukunft aus: Bleibt Klopp 20 Jahre in Liverpool?
Honigstein: Sein Vertrag wurde ja erst vor ein paar Monaten bis 2022 verlängert, das wären sieben Jahre. Ich könnte mir vorstellen, dass irgendwo im Hinterkopf der Gedanke da ist: Sieben Jahre Mainz, sieben Jahre Dortmund, sieben Jahre Liverpool - das wäre eigentlich ganz cool. Deswegen waren auch die Gerüchte über einen Wechsel zu Bayern total unglaubwürdig. Keine Chance, dass er im Sommer sagen würde: "Es war doch nicht so toll, ich geh' jetzt mal." Das wird in den nächsten Jahren ganz sicher nicht passieren.
SPOX: Und was wäre nach sieben Jahren Liverpool dran?
Honigstein: Ich vermute, dass nach drei erfolgreichen Zeiten bei solchen Vereinen - ich gehe davon aus, dass es auch in Liverpool erfolgreich wird - die nächste große Herausforderung eigentlich kein Verein werden kann, sondern eine Nationalmannschaft. Aber das ist nur meine These, die durch nichts Konkretes begründet ist.
SPOX: Von einem Bayern-Trainer Klopp sollte man sich also verabschieden?
Honigstein: Ich würde das nicht ausschließen, weil ich auch nicht glaube, dass er es zum jetzigen Zeitpunkt endgültig ausschließen kann. Wenn man seine bisherige Laufbahn anschaut, dann ist sie aber nicht dadurch gekennzeichnet, dass er schnelle Entscheidungen trifft und von einem Verein zum anderen springt.
SPOX: Was viele nicht wissen: Parallel zur Klopp-Biografie haben Sie auch noch ein Kinderbuch geschrieben: "Die größten Schätze aller Zeiten: Oder wie man Schätze verliert und wieder findet."
Honigstein: Das war eine lustige Geschichte, weil mich der Verlag vor dem CL-Finale in Berlin kontaktierte und mit mir über Ideen sprechen wollte. Zum Thema Fußball fiel mir damals nichts ein, aber mich faszinieren Schätze. Als Kind wollte ich eigentlich Archäologe werden. Es geht um Geschichten wie den Nibelungenschatz und El Dorado, aber es gibt auch einen Fußballschatz: der Coupe Jules Rimet, der erste WM-Pokal. Der wurde ja kurz vor der WM 1966 in England gestohlen und dann von einem Collie am Straßenrand gefunden, in Zeitungspapier eingewickelt. So war "Pickles" plötzlich der berühmteste Hund der Welt.
SPOX: Ist das nächste Buchprojekt schon in Arbeit?
Honigstein: Ja, im Mai erscheint die Autobiografie von Per Mertesacker. Der Titel - und das war seine Idee: "Weltmeister ohne Talent".