Per Mertesacker hat im Sommer seine aktive Karriere beim FC Arsenal beendet. Künftig leitet er die vereinseigene Akademie und betreibt weiterhin seine Stiftung. Darüberhinaus beginnt der 33-Jährige heute auf Schalke (21 Uhr live auf DAZN) ein neues berufliches Kapitel. Als Experte für den Streamingdienst DAZN wird er die Partie der Königsblauen gegen den FC Porto und zahlreiche weitere Topspiele fachkundig begleiten.
Im Interview spricht Mertesacker über seine neuen Aufgaben, Mesut Özils DFB-Rücktritt und die teilweise falschen Reaktionen auf sein aufsehenerregendes Interview über Druck im Profifußball. Außerdem erzählt er von seinen langjährigen Trainern Joachim Löw und Arsene Wenger - und kritisiert den generellen Umgang mit Trainern.
SPOX: Herr Mertesacker, Sie leiten künftig die Arsenal-Akademie, sind Experte bei DAZN und betreiben eine eigene Stiftung. Wie geht sich das zeitlich aus?
Per Mertesacker: Zeiteinteilung wird sicherlich ein wichtiges Thema für mich. Ich will gemeinsam mit meinen Partnern eine produktive Woche entwickeln. Natürlich steht dabei meine Tätigkeit bei Arsenal im Vordergrund, das ist meine Hauptaufgabe und der will ich mich mit vollem Herzen stellen. Ich will Tag für Tag präsent und für die jungen Spieler erreichbar sein. Die Stiftung wird von meiner Familie geführt. Mit DAZN habe ich einen Partner gefunden, bei dem ich auch etwas Neues entwickeln und die Rolle des "Experten" auf meine Art und Weise interpretieren kann. Ich freue mich darauf, in diesem Business Fuß zu fassen.
SPOX: War es schon länger Ihr Plan, TV-Experte zu werden?
Mertesacker: Gar nicht. Wenn ich als aktiver Spieler Experten zuhörte, hatte ich immer ein komisches Gefühl. Mir war das oft zu negativ und zu belehrend. Als das Angebot kam, habe ich mich gefragt, ob das etwas für mich ist, ob ich kritisch genug sein kann. Letztlich habe ich diese Fragen bejaht, auch weil ich begeistert bin von dem Konzept von DAZN. Wir wollen kein 0815-Programm machen.
SPOX: Zurück zu Ihrer "Hauptaufgabe". Warum hat Arsenal ausgerechnet Sie mit der Akademie-Leitung betraut?
Mertesacker: Der Verein hat sich schon etwas dabei gedacht, einem jungen Kerl wie mir eine Akademie mit 150 Mitarbeitern und 250 Kindern anzuvertrauen. Ich bin mir bewusst, dass das ein großer Apparat mit großen Verantwortungen ist. Der Verein sieht in mir aber eine Person, die das mit Bodenständigkeit, Willen, Ehrgeiz und Teamfähigkeit schaffen kann.
SPOX: Was wollen Sie den Jugendspielern vermitteln?
Mertesacker: Ich war nie talentiert und habe es trotzdem zum Profi geschafft, diese Perspektive will ich reinbringen. Fußball geht in die Richtung, dass schon sehr früh sehr viel selektiert wird und Kinder als "Top-Talente" bezeichnet werden. Entsprechend sieht dann bereits in jungen Jahren die Entlohnung aus. Damit sendet man das Signal: "Du wirst es schaffen, du wirst Profi." Manchmal hören die Eltern eines Neunjährigen deswegen auf zu arbeiten und spekulieren auf eine Profikarriere ihres Sohnes. Da müssen alle Alarmglocken läuten. Ich will Beziehungen mit Spielern, Eltern und Trainern aufbauen und ihnen mehr Realität vermitteln. Ich bin gespannt, ob ich das schaffe. Mich beschäftigen aber viele Fragen: Kann ich nicht nur aus mir, sondern auch aus anderen das Beste herausholen? Kann ich mit meinen Ideen Personen weiterentwickeln? Kann ich ein Vorbild und ein Leader für die gesamte Akademie sein?
SPOX: Auf dem Nachwuchstransfermarkt wird viel Geld gezahlt. Wie beurteilen Sie das?
Mertesacker: Heutzutage herrscht ein wahnsinniger Kampf um Talente. Ich kann das Rad nicht um 20 Jahre zurückdrehen und sagen, die Kinder verdienen nichts mehr, sollen alle zur Schule gehen und müssen nur zweimal die Woche trainieren. Es sind andere Zeiten als zu meiner Jugend, daran muss ich mich gewöhnen.
SPOX: Wodurch unterscheiden sich der englische und deutsche Nachwuchsfußball?
Mertesacker: In England ist alles viel extremer. 16-jährige Jugendspieler werden bei den Premier-League-Vereinen wie Vollprofis behandelt. Sie trainieren täglich um zehn Uhr am Vormittag und machen einmal die Woche ein bisschen Bildung. Bei uns in Deutschland wird mehr Wert auf die Schule gelegt, deshalb sind die Nachwuchsspieler nicht immer nur eingepfercht und unter sich. Das ist gesünder und gefällt mir besser.
SPOX: Vor einigen Monaten gaben Sie dem Spiegel ein aufsehenerregendes Interview, in dem Sie vom Druck im Profifußball erzählten. War das bei Ihrer Anstellung als Akademie-Leiter ein Thema?
Mertesacker: Nach dem Interview hat mir Arsenal drei, vier Mal bestätigt, dass sie jetzt erst recht ganz sicher sind, dass ich genau der richtige Mann für diese Position bin. Es hat mir mehr Türen geöffnet als geschlossen. Ich zeigte dadurch eine gewisse Schwäche, die den Nachwuchsspielern signalisiert, dass jeder etwas mit sich trägt - sogar ein ehemaliger Arsenal-Kapitän wie ich. Ich will keine eiskalten Profis, die den Mund nicht aufmachen.
SPOX: Wie kam es zu dem Interview?
Mertesacker: Ich habe im vergangenen Jahr meine Biographie geschrieben, dabei reflektierte ich extrem viel und ging in meinem Kopf einzelne Situationen meiner Karriere nochmal durch. Als ich es erlebte, erschein es mir ganz normal, erst im Nachhinein habe ich gemerkt, was das mit mir gemacht hat. Ich bin aber nicht zu dem Interview gegangen, um das zu erzählen - der Journalist hat einfach die richtigen Fragen gestellt. Für meine eigene Aufarbeitung war das super wichtig. Es ging mir nicht darum, wie ich deswegen gesehen werde.
SPOX: Was bekamen Sie für Rückmeldungen?
Mertesacker: Es riefen mich viele Bekannte an und fragten: "Wie geht es dir? Hast du alles im Griff?" Ich antwortete immer nur: "Mir geht es sensationell!" Viele haben meine Aussagen falsch gedeutet. Berührend fand ich, dass mich einige ehemalige Mitspieler kontaktierten und 90 Prozent davon meinten, dass es ihnen mal genauso ging. Wenn sich einer öffnet, bietet er damit allen anderen die Plattform, sich ebenfalls zu öffnen. Das ist spannend zu beobachten. Nach dem ersten großen Hype klingt so ein Thema medial aber relativ schnell wieder völlig ab. Immerhin liegt es jetzt auf dem Tisch und jeder, der darüber sprechen will, kann das auch tun.
SPOX: Gesprochen wurde zuletzt viel über Mesut Özil und seinen Rücktritt aus dem DFB-Team. Sie haben mit ihm bei Werder Bremen, Arsenal und der deutschen Nationalmannschaft zusammengespielt. Wie beurteilen Sie seinen Rücktritt?
Mertesacker: Ich finde es unglaublich traurig, wie das endete, wie sich Parteien auseinanderleben und zerstreiten können. Irgendwann hat alles ein Ende, aber er hätte sicher ein anderes verdient gehabt.
gettySPOX: Özil sprach davon, von einzelnen Personen im DFB Rassismus gespürt zu haben.
Mertesacker: Ich spürte beim DFB niemals Rassismus oder Diskriminierung. In den vergangenen vier Jahren war ich zwar nicht mehr dabei, kann mir aber nicht vorstellen, dass sich daran etwas geändert haben könnte. Trotzdem sind das seine Gefühle und die muss man respektieren.
SPOX: Kritisiert wird Özil gerne für seine Körpersprache.
Mertesacker: Er hat sowohl für die Nationalmannschaft als auch seine Vereine unglaublich viel geleistet. Jeder Trainer genießt es, mit Mesut zusammenzuarbeiten, weil er für eine Mannschaft unglaubliche Situationen kreieren kann. Und das alles mit der immer gleichen Körpersprache. Mesut hat einen unglaublichen Wert als Fußballer und den sollte man nicht unterschätzen. Für meine eigene Karriere war Mesut sehr wichtig, mit keinem Spieler habe ich öfter zusammengespielt. Wir haben viele besondere Momente geteilt.
SPOX: Drei Mal haben Sie bei Arsenal gemeinsam mit Özil den FA Cup gewonnen. Trainer war jeweils Arsene Wenger, der den Verein im Sommer nach 22 Jahren verließ. Wie haben Sie ihn erlebt?
Mertesacker: Er ist ein besonnener Mensch, der eine beeindruckende Ruhe ausstrahlt. Egal wie schlimm die Krise oder wie schön die Siegesserie war - er blieb immer bei sich. Wenger hatte die Mannschaft gut im Griff und beschützte sie. Diese ewige Zeit im Geschäft muss aber sehr an ihm gezehrt haben. Ich hoffe, dass er jetzt abschalten kann.
SPOX: In den vergangenen Jahren nahm die Kritik an Wenger stetig zu. Kam sein Rücktritt zu spät?
Mertesacker: Nein, er kam keine Sekunde zu spät oder zu früh. Nachdem raus war, dass er gehen wird, hat sich die Stimmung gedreht und es hieß: Was für ein toller Mann, der diesen Klub extrem verändert hat. Mehr Erfolge waren mit dieser Mannschaft einfach nicht möglich. Er bekam einen gebührenden Abschied und ging als Legende dieses Vereins.
gettySPOX: Wie teilte er der Mannschaft seine Entscheidung mit?
Mertesacker: Das war für uns alle sehr überraschend. Er kam in den Besprechungsraum und sagte, dass er gemeinsam mit den Bossen entschieden hätte, zum Saisonende aufzuhören. Es war ein trauriger Moment, weil ich das Gefühl hatte, meinen Teil dazu beigetragen zu haben. Sein Abschied war das Verschulden von uns Spielern, denn wir hatten viele Möglichkeiten, bessere Resultate zu holen. Wir haben versagt, während er sich immer vor uns stellte. Ich hatte dann als Erster das Bedürfnis, etwas zu sagen, und sprach mein tiefes Bedauern aus. Es war wichtig für ihn zu sehen, dass wir als Mannschaft etwas zu sagen haben und zu ihm stehen.
SPOX: Erlebten Sie zuvor schon einmal eine vergleichbare Situation?
Mertesacker: Ich hatte mit Joachim Löw beim DFB, Thomas Schaaf bei Werder Bremen und Wenger bei Arsenal drei Langzeittrainer. Eine Entlassung erlebte ich nur ganz am Anfang meiner Karriere bei Hannover 96, als Ralf Rangnick gehen musste und für ihn Ewald Lienen kam. Als Rangnick uns davon erzählte, habe ich Spieler weinen sehen. Ich hatte Schuldgefühle und dachte: "Er ist ein guter Trainer, aber wir haben es nicht hingekriegt. Und deshalb hat er jetzt keinen Job mehr." Das Gefühl der Verantwortlichkeit ist echt krass, das hat mich sehr mitgenommen. Mich beschäftigt der Umgang mit Trainern prinzipiell: Es ist selten so, dass in Krisenzeiten an ihnen festgehalten wird. Vor dem Saisonstart kann man sogar Wetten abschließen, wer als erster gefeuert wird. Viele machen sich einen Spaß aus der Existenz von Menschen.
Per Mertesackers Karrierestationen
Zeitraum | Verein | Pflichtspiele | Tore | Assists |
2003-2006 | Hannover 96 | 82 | 8 | 3 |
2006-2011 | Werder Bremen | 215 | 16 | 9 |
2011-2018 | FC Arsenal | 221 | 10 | 4 |
SPOX: Bei Arsenal folgte auf Wenger Unai Emery. Wie ist Ihr Eindruck von ihm?
Mertesacker: Ich habe ein sehr positives Gefühl. Er wird sicher gewisse Dinge verändern und daran müssen sich alle gewöhnen. Damit die Mannschaft aber nicht nur zuhört, sondern auch an die Worte des Trainers glaubt, braucht es jetzt einige Erfolgserlebnisse.
SPOX: Zurück zum Thema DFB. Nach dem Vorrundenaus bei der WM blieb die sportliche Führung im Amt. War das die richtige Entscheidung?
Mertesacker: In diesem Sommer gab es prinzipiell sehr wenige Gewinner. Ich bin aber froh, dass die wirklichen Leader der Mannschaft geblieben sind und gemeinsam mit Joachim Löw und Oliver Bierhoff etwas Neues aufbauen können. Zum Glück glaubt der DFB an diese Leute und traut ihnen den Neuaufbau zu.
gettySPOX: Philipp Lahm forderte jüngst von Joachim Löw, dieser solle seinen Führungsstil überdenken. Wie beurteilen Sie diese Aussagen?
Mertesacker: Löw braucht niemanden, der ihm irgendwas sagt oder seinen Führungsstil kommentiert. Er ist ein ehrgeiziger Typ und wird sich ganz unabhängig von irgendwelchen Ratschlägen ohnehin überdenken. Nach tollen Jahren wird Löw jetzt auch aus dieser Situation der Erfolglosigkeit viel für sich rausziehen, sich viele Fragen stellen: Haben wir die richtige Ernährung? Haben wir die richtigen Fitnesstrainer? Die richtigen Physiotherapeuten? Er wird jetzt alles überprüfen und das ist ein gesunder Prozess. Aber schon während meiner Zeit beim DFB entwickelte sich Löw unglaublich weiter, vor allem in seiner Ansprache.
SPOX: Fehlen der aktuellen Mannschaft Führungsspieler?
Mertesacker: Wir haben in Deutschland genügend Führungsspieler. Prinzipiell muss aber ohnehin jeder Spieler auf eine gewisse Art und Weise führen, auf und neben dem Platz. Die Diskussionen um Führungsspieler gab es auch vor der WM 2014. Das ist eine Diskussion, die es immer gab und immer geben wird - aber nur, wenn es gerade schlecht läuft.
SPOX: Nach dem WM-Achtelfinale 2014 gegen Algerien gaben Sie ein legendäres TV-Interview. War das geplant?
Mertesacker: Nein. Das Spiel war hitzig, ich war nach 120 Minuten kaputt, werde zum Interview gebeten, habe Sauerstoffmangel, bekomme den hellen Lichtstrahl ins Gesicht und dann kam es einfach so raus. In dem Moment war mir alles egal, ich wollte mir nichts gefallen lassen - das habe ich sogar genossen und hatte in der Spontanität auch ein paar lustige Einfälle. Jeder wusste ja, dass wir uns verbessern müssen. Das wollte ich nicht auch noch sagen. Dieses Spiel war letztlich der Katapult für den ganz großen Erfolg, den uns keiner zugetraut hat.