Julian Nagelsmann im großen SPOX-Interview 2015: "Tim Wiese taufte mich Baby-Mourinho"

Daniel ReimannFlorian Schimak
28. April 202112:54
Julian Nagelsmann wird im Sommer 2021 Trainer beim FC Bayern München.IMAGO / Martin Hoffmann
Werbung

Julian Nagelsmann ist mittlerweile in aller Munde, bald Trainer des FC Bayern München und dadurch der teuerste Coach auf der Welt. 2015 trainierte er noch die U19 der TSG 1899 Hoffenheim. Nagelsmann gab SPOX damals eines seiner ersten deutschlandweiten Interviews.

Dieser Artikel erschien erstmals am 9. Februar 2015.

Darin sprach im Alter von 27 Jahren über sein dramatisches Karriereende, Peinlichkeiten beim Erstliga-Debüt und Pep Guardiolas vermeintliche Profilneurose.

Herr Nagelsmann, Sie spielten einst im Nachwuchs von 1860 München und des FC Augsburg. Haben Sie sich damals gute Chancen auf eine Profikarriere ausgerechnet?

Julian Nagelsmann: Grundsätzlich schon, aber ich war bereits oft verletzt. Ich hatte drei Mal einen Bruch am gleichen Wirbel. Das kam daher, dass ich nur vier Lendenwirbel habe. Das ist nur bei ganz wenigen Menschen der Fall. Der vierte Wirbel ist deshalb stark belastet, es kann sich ein Ödem bilden und einreißen. Das war schon ein Handicap.

Daher der Wechsel von den Löwen zum FCA?

Nagelsmann: Ja. Ich hatte schon mit den Profis trainiert, aber irgendwann wollte ich von 1860 Abstand gewinnen. Dort war mein Bild von all den Verletzungen sehr geprägt. Also bin ich nach Augsburg gegangen, doch da ging es für mich sehr schnell bergab. Nach einer Knie-Operation stellte der Arzt einen Knorpelschaden fest. Daraufhin habe ich mich entschieden, meine aktive Zeit zu beenden.

Die Diagnose Meniskusriss ist eigentlich nicht zwangsläufig mit einem Karriereende verbunden.

Nagelsmann: Es lief leider sehr ungünstig. Die Verletzung wurde nicht optimal operiert. In den vier Monaten Reha hatte ich immer noch starke Schmerzen. Daher haben wir noch eine Arthroskopie vorgenommen. Dabei wurde festgestellt, dass am Hinterhorn noch immer etwas kaputt war. Es gelangte Entzündungsflüssigkeit ins Gelenk und hat den Knorpel aufgeweicht. Ich hatte einen Knorpelschaden dritten Grades, das haben einige Profis heute auch. Damit kann man schon spielen, wenn auch nicht schmerzfrei. Aber für mich hätte es sich wohl nicht gelohnt. Sonst hätte ich mit 40 ein künstliches Knie benötigt.

Sie haben in Augsburg Ihr Fachabitur gemacht und noch während der Karriere ein BWL-Studium begonnen. War das schon der Plan B zur Profikarriere?

Nagelsmann: Gewissermaßen. Während des Studiums habe ich jedoch schnell gemerkt, dass das nicht unbedingt meine Welt ist. Verantwortungsbereiche, in denen man viel über die Zukunft von Familien entscheiden und eventuell Leute entlassen muss - das war nicht meins.

Haben Sie als Trainer nicht auch eine gewaltige Verantwortung für die Zukunft von Menschen?

Nagelsmann: Das schon, aber es ist eine andere Dimension. Der ausschlaggebende Punkt war eine Hausarbeit. Deren zentrale Frage war: Was macht man als Leiter eines 5000 Mann starken Unternehmens, wenn es nicht mehr läuft? Unser Dozent ließ alle durchfallen, weil niemand das geschrieben hat, was er verlangte: 50 Prozent der Belegschaft zu entlassen. Es ist etwas anderes, wenn ich ein oder zwei Spielern mitteilen muss, in diesem Verein keine Zukunft mehr zu besitzen. Schmeißt man einen 50-jährigen Familienvater raus, hat dies eine ganz andere existenzielle Dimension.

Sie sagten einmal, Sie hatten nach Ihrer Verletzung die Schnauze voll vom Fußball. Dennoch sind Sie relativ schnell im Trainergeschäft gelandet. Wie passt das zusammen?

Nagelsmann: Es stimmt, ich wollte mit Fußball erst einmal gar nichts mehr zu tun haben. Aber ich hatte in Augsburg noch einen gültigen Vertrag. Auch deshalb kam mein damaliger Trainer Thomas Tuchel auf mich zu. Er meinte nicht: Du wirst jetzt Trainer. Es war vielmehr eine pragmatische Entscheidung. Da mich der FCA weiterhin bezahlte, habe ich für Tuchel Gegner gesichtet. Die Alternative wäre eine Vertragsauflösung gewesen und das wollte ich nicht.

Tuchel hat Ihnen also den Weg als Trainer geebnet?

Nagelsmann: Er war nicht mein Ziehvater, auch wenn ihn viele als solchen bezeichnen. Dafür war unser Verhältnis zu pragmatisch. Ich bin ihm natürlich sehr dankbar dafür, dass er mich sozusagen auf die Idee brachte, Trainer zu werden. Durch ihn bekam ich die Chance, Assistent bei meinem alten Jugendtrainer Alexander Schmidt in der U17 von 1860 zu werden. In Augsburg wurde mir der Trainerposten in der U12 angeboten, aber ich hatte es auf den Leistungsbereich abgesehen.

Julian Nagelsmann wird neuer Trainer des FC Bayern München.imago images

Nach der Zeit bei 1860 schlossen Sie sich 1899 Hoffenheim an und wurden Co-Trainer der U17. Dafür mussten Sie rund 350 Kilometer hinter sich zu lassen...

Nagelsmann: Es war schon ein Wagnis. Mir wurde allerdings recht früh in Aussicht gestellt, dass ich eines Tages eine Cheftrainer-Position einnehmen könnte - was dann auch relativ schnell passierte.

Erst wurden Sie U16-Chefcoach, im Winter 2012/2013 nach der Entlassung von Markus Babbel dann Assistent unter Frank Kramer bei den Profis. Das ging schon fast zu schnell, oder?

Nagelsmann: Als Frank Kramer anrief, musste ich lachen. Ich dachte nicht, dass er das wirklich ernst meint. Es war auf jeden Fall sehr skurril.

Auf einmal mussten Sie mit Mitte 20 gestandenen Nationalspielern erklären, wie der Hase zu laufen hat.

Nagelsmann: Ich erinnere mich noch an die erste Besprechung mit der Mannschaft. Da war ich schon nervös, als Tim Wiese und Co. vor mir standen, all diese erfahrenen Profis. Ich merkte aber auch: Die Spieler wollten mich überprüfen und herausfinden, ob ich nur die Hütchen aufstelle oder auch einen Plan habe. Sie sahen aber recht zügig, dass ich ihnen behilflich sein kann. Ich hatte nicht erwartet, dass daraus ein solch respektvolles Verhältnis entsteht.

Wie gingen die Spieler mit der Tatsache um, dass Sie selbst nie Profifußball spielten?

Nagelsmann: Viele empfanden gerade das als angenehm. Sie fanden es gut, nicht immer dasselbe von einem Ex-Profi zu hören, der schon seit 30 Jahren Trainer ist. Für die Spieler war dies neuer Input, sie waren aufgeschlossen.

Aber den einen oder anderen scherzhaften Spruch wird's schon gegeben haben, oder?

Nagelsmann: Klar. Tim Wiese hat mich beispielsweise "Baby-Mourinho" getauft. Das blieb dann auch bis zum Schluss. (lacht)

Wie lief es ab, wenn Sie die sachliche Kommunikationsebene verlassen und lauter werden mussten?

Nagelsmann: Der eine oder andere Spieler hat in den ersten Einheiten taktische Fehler gemacht, so dass ich dann schon deutlich klarmachen musste, welche taktischen Vorstellungen wir hatten. Das war auch mein persönliches Ziel: Ein bestimmtes Auftreten, um den Spielern meine Ideen mitzugeben. Laute Zampano-Auftritte, bei denen ich 20 Spieler zusammenfalte, nur um mir Respekt zu verschaffen und mein junges Alter zu kaschieren, wären aber lächerlich gewesen.

Damals waren Sie 25 Jahre alt. Welche Auswirkungen hatte das Co-Trainer-Dasein eigentlich auf Ihr Privatleben?

Nagelsmann: Anfangs war die Resonanz unfassbar. Bei mir haben sich Leute gemeldet, die ich Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte. Es gab zwar auch Stimmen, wo es hieß: Was will der da mit 25? (lacht). Die meisten Rückmeldungen waren aber sehr positiv. Nach manchen Spielen hatte ich um die 150 WhatsApp-Nachrichten auf dem Handy.

Wie sehr haben Sie im Laufe der Zeit, als Sie vom U16-Trainer zum Profi-Assistenten aufstiegen, die eigene Gangart ändern müssen?

Nagelsmann: In erster Linie musste ich im Training Aufwärmungselemente an Stelle des Hauptteils übernehmen. Das war schon eine Umstellung. Im Umgang mit den Profis war sie allerdings nicht so gewaltig. Im Prinzip sind Profifußballer wie größere Kinder: Sie sind jung geblieben, spielen Playstation, reden auch mal Quatsch und lassen sich teilweise leichter ablenken als Jugendspieler. Der Unterschied ist: Wer die kurze Zeit in der Jugend nicht nutzt, um sich für höhere Aufgaben zu empfehlen, ist raus. Wer als Profi mal eine längere Schwächephase hat, bleibt trotzdem weiter im Bundesliga-Boot.

Gab es Situationen, in denen Sie mit Ihrer Aufgabe auch einmal überfordert waren?

Nagelsmann: Ein einziges Mal, bei der ersten Partie in Hamburg. Ich war ja noch nie bei einem Bundesliga-Spiel dabei. Ich habe meine Fußballklamotten eingepackt, nur um im Hotel festzustellen, dass alles schon doppelt und dreifach bereitstand. Als mich Frank Kramer später im Stadion zur Vorbereitung des Aufwärmprogramms nach draußen schickte, hatte ich keine Ahnung, wo ich überhaupt hin musste. Da waren 1000 Gänge und ich bin erst einmal eine Zeit lang in den Katakomben umher geirrt. (lacht)

Der Rest hat aber funktioniert?

Nagelsmann: Einigermaßen. Zuerst habe ich die Hütchen in der falschen Hälfte aufgebaut. Ich ging dann hinüber zur anderen Seite und bin dabei dem Stadionsprecher, der auf der Leinwand zu sehen war, durchs Bild gelaufen. Der sagte dann ins Mikro: "Ey, nicht einfach so mitten durchlaufen!" Dann gab's erstmal ein Pfeifkonzert der Fans.

Wie war der Beginn, als Sie im Sommer 2013 in Ihr gewohntes Metier zurückkehrten und wieder die U19 übernahmen?

Nagelsmann: Ich bin definitiv gestärkt zurückgekommen. Davor hatten die Spieler zwar Respekt, aber ich war ein No-Name. Die Zeit bei den Profis brachte mir einen anderen Status ein, der auch für mein Selbstverständnis wichtig war.

Was war die inhaltlich wichtigste Erkenntnis aus der Zeit bei der ersten Mannschaft?

Nagelsmann: Der richtige Umgang mit Negativerlebnissen. Weder als Spieler noch als Trainer stand ich schlechter da als Platz drei. Im Profibereich habe ich gelernt, mit Rückschlägen umzugehen und in Krisenzeiten trotzdem nach vorne blicken zu können. Diese Werte hat Markus Gisdol toll vorgelebt. Er hat die Leute nur auf den Fußball eingestellt und ausgeblendet, was sonst alles passieren könnte.

Das scheint gefruchtet zu haben: In der vergangenen Saison feierten Sie mit der U19 den Meistertitel.

Nagelsmann: Damit sind für mich der Druck und die eigene Erwartungshaltung gestiegen. Das lässt mich noch ehrgeiziger werden. Ich sage immer sehr offensiv, dass Erfolg auch das Ziel sein muss. Ich will den Leuten, meinen Spielern und mir beweisen, dass die gute Saison keine Eintagsfliege war.

Ist es auch eines Ihrer Ziele, eines Tages einmal Cheftrainer in der Bundesliga zu werden?

Nagelsmann: Ich habe keinen Zeitdruck, will aber dieses Jahr den Fußballlehrer machen. Die Bundesliga ist kein Muss, denn ich finde mein Lebensglück auch so und könnte auch lebenslang U19-Trainer sein. Aber die Bundesligaluft hat mir sehr gut geschmeckt. Irgendwann in der Zukunft wäre das schon ein Traum. Alles andere wäre gelogen.

Gab es schon Anfragen?

Nagelsmann: Es gab welche, aber nicht als Cheftrainer - das ist ja ohne die Fußballlehrerlizenz auch gar nicht möglich. Trotz der finanziellen Attraktivität stellt sich mir die Frage: Habe ich das Selbstvertrauen zu sagen, dass ich dieses Geld auch noch in fünf, sechs Jahren verdienen kann, weil ich es schaffe? Oder ist die aktuelle Aufgabe wichtiger? Mir geht es finanziell auch jetzt gut und ich habe mich mit Haut und Haaren einer sehr reizvollen Aufgabe verschrieben.

Sie bezeichnen Bayern-Coach Pep Guardiola als Ihr großes Vorbild. Was sehen Sie in ihm?

Nagelsmann: Das sind viele Faktoren. Sein Auftreten, seine Kleidung, wie er gegnerische Trainer oder den Schiedsrichter begrüßt - das ist sehr stilvoll. Er ist ein Mann von Welt. Von außen scheint es zudem, dass er einen sehr guten Mittelweg zwischen Autoritätsperson und kumpelhaftem Auftreten gefunden hat. Und: Selbst wenn er einen Anzug trägt, lebt er den Trainerjob. Andere Trainer sitzen 90 Minuten da. Guardiola will jede Sekunde seine Mannschaft besser machen, er brüllt selbst bei einem 6:0 noch herum. Das wirkt auf viele vielleicht wie eine Profilneurose, aber ich glaube, dass er einfach immer besser werden will, obwohl seine Mannschaft bereits die Beste ist.

Zum Beispiel in Bezug auf Guardiolas taktische Variabilität?

Nagelsmann: Die war bei den Bayern eine logische Konsequenz. Sie mussten ihr Spiel anpassen, da die meisten Teams immer auf dieselbe Weise gegen sie antraten: sehr tief stehend, auf Abwehrpressing und Konter ausgelegt. Um weiterhin erfolgreich zu sein, mussten sie quasi zwangsläufig verschiedene Systeme spielen. Was Guardiola aber perfektioniert hat, ist das Spiel bei gegnerischem Ballbesitz. Er lässt nun viel aggressiver und mit mehr Risiko spielen. Das kann theoretisch auch nach hinten losgehen, doch bei diesem Torwart ist das verkraftbar. (lacht)