Nur schlechte Trainer gehen in den Wald

Stefan Moser
23. Juli 201111:07
Der FC Bayern München hat im Trainignslager am Gardasee Kondition gebolztGetty
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Die Bundesliga ist mitten in der heißen Phase der Saisonvorbereitung. In den Trainingslagern wurden die Grundlagen für eine lange Saison gelegt. Auch im Amateurfußball bereiten sich die Klubs bis hinunter zur Kreisklasse auf die neue Spielzeit vor. Die spannende Frage: Wie trainiert man richtig? Wie hat sich die Methodik in den letzten Jahren entwickelt? SPOX geht der Frage der Trainingsmethodik theoretisch und in Selbstversuchen auf den Grund. Teil 1: Konditionstraining.

SPOXIn seinem Buch "Die Fußball-Matrix" erzählt Christoph Biermann folgende Anekdote: Am Abend nach der großen Achtelfinal-Sensation bei der WM 2002 in Asien stand ein italienisches Kamerateam vor dem Mannschaftsquartier der Südkoreaner. Die Gastgeber hatten die Italiener tags zuvor 115 Minuten lang in Grund und Boden gerannt - und am Ende etwas glücklich, aber nicht unverdient, per Golden Goal in der Verlängerung gewonnen.

Zuhause in Italien beklagte man sich über den Schiedsrichter - und quittierte auch die enorme Laufleistung der Südkoreaner mit großer Verwunderung und kritischen Fragen. Doping-Gerüchte machten die Runde.

Also verlangten die Journalisten, mit Raymond Verheijen zu sprechen, dem Fitnessexperten im Stab von Chefcoach Guus Hiddink, der Südkorea auf die Heim-WM vorbereitet hatte.

Südkorea 2002: Überlegenes Trainingskonzept

"Es ist das größte Kompliment, das ich in meinem Leben bekommen habe. Damit wird gesagt, dass es unglaublich ist, was wir erreicht haben", kommentierte Verheijen die Vorwürfe. Denn die herausragende Ausdauer seiner Spieler sei keineswegs auf verbotene Medikamente zurückzuführen, sondern auf ein einfaches, aber überlegenes Trainingskonzept.

"In vielen Ländern geht man davon aus, dass man zunächst einmal Fitness haben muss, um Fußball zu spielen. Wir sagen: Wenn Du Fußball spielst, bekommst Du Fitness", erklärte Verheijen seine Methode. Keine einzige Runde seien die Südkoreaner während der Vorbereitung um den Platz getrabt. Keine Dauerläufe, keine Medizinbälle, nur Fußball.

Elf gegen Elf, Acht gegen Acht oder Sechs gegen Sechs: In verschiedenen exakt getimten Intervallen und Intensitäten ließ Hiddink seine Mannschaft während dreier Lehrgänge vor der WM ausschließlich in Spielformen trainieren. Sein Credo: Fußballspezifische Ausdauer holt man sich am besten, indem man schlicht Fußball spielt.

Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis

"Guus Hiddink hat Recht, in der Theorie ist das wahrscheinlich die ideale Methode", sagt auch Oliver Schmidtlein im Gespräch mit SPOX. Der 46-Jährige betreibt heute eine angesehene Reha- und Sportphysiopraxis in München (www.osphysio.de). Zuvor arbeitete er unter anderem beim FC Bayern und im Team von Jürgen Klinsmann bei der deutschen Nationalmannschaft als Fitnesstrainer.

Entsprechend kennt er die Probleme, die Hiddinks und Verheijens Konzept in der alltäglichen Trainingsarbeit mit sich bringt: "Auch Mannschaften in der Bundesliga haben versucht, in verschiedenen Spielformen Konditionsarbeit zu machen. Aber durch Pulsmessungen in Echtzeit haben wir gesehen, dass sich einige Spieler dabei einfach verstecken. Man braucht dafür 20 absolut willige Profis und muss sie außerdem gut von außen coachen, um die Spieler anzutreiben, ständig in Bewegung zu sein. Und da wird der Unterschied zwischen Theorie und Praxis schnell spürbar."

Der zu Pointen aufgelegte Verheijen reduziert diesen Unterschied freilich auf eine einzige Person: Wie kein zweiter sei Guus Hiddink in der Lage, eine komplette Mannschaft zu überblicken, anzutreiben und zu motivieren. Alle anderen sollten seinetwegen weiter auf die alte Art Kondition bolzen: "Wenn der Trainer nicht coachen kann, ist um den Platz zu laufen eine gute Alternative."

Waldläufe fast ausgestorben

Tatsächlich aber sind lange Dauerläufe um den Platz oder durch die Wälder auch in der Bundesliga mittlerweile fast ausgestorben. Gerade Schmidtlein und sein Team haben in der Fitnessarbeit in Deutschland neue Akzente gesetzt. Obwohl er sich anfangs viel Häme einhandelte, als er die DFB-Elf mit Gummibändern um die Knie im Entengang über den Platz watscheln ließ.

Mittlerweile aber werden viele seiner Methoden von wissenschaftlichen Daten gestützt. Fast alle deutschen Profiklubs haben zumindest Teile seines Sets in ihren Trainingsprogrammen übernommen.

Krasses Missverhältnis zwischen Anspruch und Arbeitsweise

Weil das Spiel mit den Jahren im Durchschnitt immer schneller und die athletischen Anforderungen damit immer höher wurden, entwickelte sich eine Spirale, die die Vereine de facto auch dazu zwang, sich Experten ins Boot zu holen, die immer gezielter an der Kondition der Spieler arbeiteten.

"Als ich vor zehn Jahren aus den USA zurückkam, gab es in Deutschland noch ein krasses Missverhältnis zwischen dem Anspruch und dem Wert der Spieler für den Verein und der Art und Weise, wie gearbeitet wurde", sagt Schmidtlein: "Wenn Sie einen hochgerüsteten Formel-1-Wagen haben, dann holen Sie sich den Mechaniker ja auch nicht von der Tankstelle um die Ecke, der dann ein bisschen daran herum schraubt. Sie holen sich natürlich ein Team von Spezialisten."

Erste Strömung in den 90ern verpufft

Zwar gab es schon in den 90er Jahren eine Strömung, als viele Leichtathletik-Trainer versuchten, sich auch mit wissenschaftlichen Methoden im Fußball zu etablieren.

Die meisten aber scheiterten, weil sie ihr theoretisches Wissen nicht in die fußballspezifische Praxis und Trainingssteuerung übersetzen konnten. Übrig blieben häufig nur leistungsdiagnostische Dossiers im luftleeren Raum, die heute in Universitätsbibliotheken verstauben.

Erst in der Folge wurde es nach und nach zum Common Sense, dass das Ausdauertraining mit Fußballern eben genau die Anforderungen reproduzieren muss, die ein Spieler auch im realen Wettkampf zu bewältigen hat.

Praxisbeispiele: Wie trainiert ein Fußballer optimal?

Anders als etwa ein Marathonlauf ist Fußball aus wissenschaftlicher Sicht ein chaotisches Ereignis. Die Intervalle zwischen hohen und niedrigen Belastungen ergeben sich aus dem Spiel heraus, sind also eher zufällig verteilt.

Die Herzfrequenz eines Profis bewegt sich während der 90 Minuten in einer unregelmäßigen Wellenbewegung zwischen 90 Prozent seines Maximalpulses und circa 60 Prozent. Entscheidend für seine Ausdauer ist entsprechend eine möglichst kurze Regenerationszeit zwischen den hohen Belastungen. Über theoretische Mittelwerte können diese Intervalle im Training nachgeahmt werden.

Wissenschaftlich gut belegt ist zum Beispiel, dass man durch Vier-Minuten-Läufe mit maximal einer Minute Pause die Ausdauer von Fußballern spezifisch verbessern kann. Der Spieler läuft dabei in einem gleichmäßigen Tempo, das rund 10 Prozent über seiner sogenannten ventilatorischen Schwelle liegt.

Das heißt, sein Körper produziert mehr Laktat, als er unter gleichbleibender Belastung selbst wieder abbauen kann.

Durch gezielte Wiederholung lässt sich diese Schwelle in relativ kurzer Zeit gut nach oben verschieben.

60 Intervalle zwischen den 16ern

Eine weitere Möglichkeit, die Regenerationszeit zu verkürzen, besteht darin, dem Körper beizubringen, an eben dieser Schwelle zu "puffern".

Schmidtlein verwendet dafür 15-Sekunden Intervalle, die die reale Belastung eines Fußballers innerhalb einer Aktion widerspiegeln. Der Spieler läuft eine Strecke von 70-80 Metern (von Sechzehner zu Sechzehner) innerhalb von 15 Sekunden.

Kurz nachdem der Körper anfängt, überschüssiges Laktat zu bilden - bei diesem Tempo nach gut 12 Sekunden -, macht der Spieler 15 Sekunden Pause. Und läuft die Strecke dann zurück, wiederum in 15 Sekunden. Insgesamt wiederholt er dieses Intervall bis zu 60 Mal.

Der Schwachpunkt dieser Übung: Das Intervalltraining passt zwar den Stoffwechsel eines Spielers fußballspezifisch an. Solange er aber nur geradeaus läuft, wird sein Bewegungsapparat nicht auf die charakteristischen muskulären Belastungen während des Spiels vorbereitet.

Perfekte Abstimmung dank GPS

Mithilfe moderner Kamera- und GPS-Techniken hat sich Schmidtlein deshalb verschiedene Scouting-Daten besorgt. Er weiß nun zum Bespiel, dass ein Mittelfeldspieler innerhalb eines schnellen Laufs über 12 bis 14 Meter mindestens einmal die Richtung, das Tempo oder sogar beides wechselt.

Er kennt sogar die typischen Winkel, in denen Fußballer auf verschiedenen Positionen am häufigsten beschleunigen.

Auch diese Daten werden zur Trainingssteuerung benutzt, in Laufeinheiten werden typische Bewegungsmuster und Richtungswechsel aus dem Spiel imitiert.

Auch die 15-Sekunden-Intervalle lassen sich fußballspezifischer anpassen, indem der Spieler - anstatt von Strafraum zu Strafraum zu laufen - in derselben Zeit drei Mal zur Sechzehnerlinie und wieder zurück spurtet.

Individuelles Training für alle Mannschaftsteile

Die Sammlung von Messwerten und Scouting-Daten führt zudem immer mehr zu einer Individualisierung des Konditionstrainings. Zum einen können die Spieler anhand ihrer Laktatwerte in kleinere Leistungsgruppen zusammengefasst werden, um zu verhindern, dass ein ausdauerstarker Spieler in einer Einheit unterschwellig trainiert, während ein anderer längst über seiner Grenze läuft.

Zum anderen kann das Training gerade in der Vorbereitung auch positionsbezogen spezifiziert werden. "Ein durchschnittlicher Mittelfeldspieler in der Bundesliga läuft etwa zwölf Kilometer pro Spiel. Acht bis zehn Prozent seiner Laufstrecke im Sprint, das heißt schneller als 23 km/h", erklärt Schmidtlein.

Ein zentraler Abwehrspieler dagegen bringt es nur auf fünf bis sieben Kilometer pro Spiel, der Anteil an kurzen Sprints ist dafür noch höher, im Extremfall addiert bis zu 1,5 Kilometern. Sein Anteil an schnellen Läufen (über 16 km/h) ist dafür wiederum deutlich niedriger als bei Mittelfeldspielern oder Außenverteidigern, die wiederum einen sehr hohen Anteil an langen Sprints über 30 Meter und mehr haben.

Schmidtleins Fazit: "All das muss man im Training berücksichtigen, um gezielter zu arbeiten: gezielter auf die Sportart bezogen, gezielter auf die Mannschaft, gezielter auf den einzelnen Spieler."

BVB zeigt: Deutschland hat aufgeholt

Dass Deutschland in Sachen fußballspezifischer Ausdauer aber mittlerweile immer mehr zu Nationen wie Italien oder England aufschließt, wo die Vereine teilweise schon seit Jahren mit einem großen Team an Spezialisten arbeiten, zeigt schon die Tatsache, dass auch die Bundesligisten ihre Trainerstäbe zusehends mit Experten aufgestockt haben.

Fast alle Klubs arbeiten inzwischen mit Wissenschaftlern oder lassen sich zumindest von Spezialisten beraten.

Dass ihre Arbeit Früchte trägt, beweist nicht zuletzt Borussia Dortmund. Beim deutschen Meister arbeitet mit Oliver Bartlett aktuell der einstige Nachfolger von Schmidtlein beim DFB an der Fitness der Spieler. Er trainiert nach ähnlichen Methoden - und hat damit ebenfalls Erfolg.

Die Scouting-Daten aus der abgelaufenen Saison zeigen: Der BVB erzielte bei fast allen läuferischen Parametern Spitzenwerte. Und zwar in allen Mannschaftsteilen.

Spielplan für die kommende Bundesliga-Saison