Timo Boll ist einer der besten Tischtennisspieler der Welt. In Deutschland wird der 30-Jährige nur am Rande wahrgenommen, in China wird er dagegen gefeiert und gefürchtet. SPOX nimmt den viermaligen Einzel-Europameister unter die Lupe und erzählt die Geschichte eines Mannes, der ein Star ist, weil er kein Star sein will.
Nummer eins der Weltrangliste, viermaliger Einzel-Europameister, fünfmaliger Doppel-Europameister, eine Mannschafts-Silbermedaille bei Olympia, neun Mal deutscher Meister im Einzel, vier Champions-League-Siege mit Gönnern und Düsseldorf und so weiter: Timo Boll ist jetzt schon eine lebende Tischtennis-Legende.
Seine Erfolge sind kein Zufall. Boll, der bereits im Alter von vier Jahren im Hobbyraum seiner Eltern erstmals an der Platte stand, wurde gezielt gefördert. Trainer-Legende Helmut Hampl sah Boll 1989 bei einem Sichtungsturnier und traute seinen Augen kaum.
Dieser damals noch pummelige Junge hatte einiges zu bieten. "Er spielte mit wenig Kraftaufwand, seine Bewegungen waren flüssig und akkurat", schwärmt der 58-Jährige noch heute.
Der sensible Junge
Hampl, der auch als Entdecker von Jörg Rosskopf gilt, war bald klar: Das ist das größte Talent, das der DTTB je hatte. Und der heutige Trainer des hessischen Tischtennis-Verbandes bewies in den folgenden Jahren soziale Kompetenz: Normalerweise wurden talentierte Spieler ins Internat des Bundesleistungszentrums nach Heidelberg geschickt, Boll war aber ein äußerst sensibler Junge, den man nicht so einfach aus seinem gewohnten Umfeld herausreißen durfte.
"Im Internat wäre Timo zerbrochen. Er hängt an seiner Familie, seinen Freunden, seinem Hund", wusste Hampl. Also ging er einen ungewöhnlichen, damals sehr umstrittenen Weg. Als Cheftrainer holte er ihn mit 14 Jahren zum Zweitligisten TTV Gönnern.
Der Hammer dabei: Boll wohnte weiterhin in seinem Heimatort Höchst, 170 Kilometer von Gönnern entfernt, und alle anderen Spieler wurden vertraglich dazu verpflichtet, ebenfalls nach Höchst zu ziehen. Dort wurde täglich trainiert. Nur zu den Spielen fuhr dann das ganze Team nach Gönnern.
Hampl wurde von vielen anderen Trainern - vorsichtig formuliert - für verrückt erklärt. Die Prozedur machte sich aber bezahlt, Gönnern stieg in die Bundesliga auf und Boll wurde dort im Alter von 15 Jahren der jüngste Spieler aller Zeiten. Seine Entwicklung nahm immer mehr Fahrt auf.
Boll erinnert an Nowitzki
Obwohl Boll diese beispiellose Extrawurst zuteil wurde, hob er nicht ab. Das lag an seinem grundsätzlichen Charakter. Er muss bis heute nicht im Mittelpunkt stehen, nimmt sich selbst nicht so wichtig: "Ich bin halt ein guter Tischtennisspieler. So wie andere gute Bäcker sind, ihren Beruf beherrschen, aber dann ist man ja kein Star."
Diese Bescheidenheit erinnert unweigerlich an Dirk Nowitzki. Es überrascht nicht wirklich, dass die beiden, seit sie sich bei den Olympischen Spielen in Peking kennengelernt haben, befreundet sind. Boll hat Nowitzki schon in Dallas besucht, der NBA-Champion schaute in der Sommerpause mal in Höchst vorbei. Ansonsten halten sich die beiden per SMS auf dem Laufenden.
Während Nowitzki auch in Deutschland ein Superstar ist, wird Boll hier höchstens mal vorsichtig angesprochen. Seine ruhige, besonnene Art taugt in einem Land, in dem Tischtennis eine Randsportart ist, nicht dazu, seinem Sport eine Plattform in der Öffentlichkeit zu verschaffen.
"Sexiest Man of the World"
"Ich bin ein harmloser Mensch. Ich bin keiner, der andere runtermachen muss, um in die Schlagzeilen zu kommen", sagt er über sich selbst. Auch sein eher "normales Äußeres" ist nicht sonderlich medienwirksam. Ein deutscher Schreiberling brachte es einmal süffisant auf den Punkt: "Boll sieht aus wie ein Sparkassen-Azubi."
In China, wo Tischtennis mit Abstand die erste Geige spielt und zu den besten Sendezeiten im TV gezeigt wird, hat ihn seine Anti-Star-Haltung zu einem Star gemacht. Die chinesischen Fans lieben Boll wegen seinem Auftreten. Und auch sein Aussehen wird ganz anders wahrgenommen. Ein Frauenmagazin hat ihn zum "Sexiest Man of the World" gekürt, eine weitere Zeitung zum "Attraktivsten Sportler der Welt" - vor David Beckham!
Was in Deutschland nicht vorstellbar ist, wird im Land der Mitte für Boll zur Realität. Nach Spielen wird er von der Polizei ins Hotel eskortiert, aufdringliche Fans müssen von Bodyguards zurückgehalten werden.
Es gibt sogar Berichte von Mädchen, die auf Bäume kletterten, um einen Blick in Bolls Umkleidekabine zu werfen. Boll steht fast auf einer Stufe mit den chinesischen Sport-Helden Yao Ming (Basketball), Liu Xiang (Hürdenlauf) und Li Na (Tennis).
Boll lebt Fairplay
Die Chinesen lieben Boll, der mittlerweile selbst ordentlich chinesisch spricht, auch für sein gelebtes Fairplay. Großes Ansehen verschaffte ihm eine Aktion bei der WM 2005 in Shanghai. Bei Matchball für Boll übersah der Schiedsrichter einen Kantenball des Gegners, Boll korrigierte die Entscheidung und verlor anschließend das Match. Hinterher erklärte er: "Wofür macht man den Sport das ganze Leben lang? Natürlich auch, um Geld zu verdienen. Aber es ist vor allem eine große Liebe, und die betrügt man nicht."
Genauso wie die Chinesen Boll verehren, fürchten sie ihn allerdings auch. Er ist der einzige Europäer weit und breit, der seit 2003 immer mindestens unter den ersten Sieben der Welt stand und den chinesischen Topspielern ernsthaft Paroli bietet.
"Boll ist wie ein Staatsfeind, ein Gegner aller 1,3 Milliarden Chinesen. Solange er spielt, werde ich nicht ruhig schlafen können", sagte Chinas Nationalcoach Liu Guoliang erst vor ein paar Wochen. Ein größeres Lob kann es nicht geben.
Boll, der öfters als Gastspieler in der chinesischen Liga agiert, hält die gesamte chinesische Tischtennis-Mannschaft in Atem. Seine Partien werden aufgenommen und hinterher bis ins kleinste Detail analysiert. Es werden ständig neue Strategien entworfen, um ihn zu besiegen. Das geht soweit, dass sogar weniger begabte Akteure so trainiert werden, dass sie wie Boll spielen. So gewährleistet man den Topspielern eine optimale Vorbereitung auf die Spiele gegen Boll.
"Ich will Olympiasieger werden"
Und als Boll vor kurzem noch seine Zurückhaltung für einen Moment vergaß und im chinesischen Fernsehen verkündete, dass er 2012 Olympiasieger werden möchte, schrillten beim chinesischen Tischtennis-Verband einmal mehr die Alarmglocken.
Sollte Boll in London Gold holen, wäre das für die stolze Tischtennis-Nation eine Demütigung. Die Vorbereitungen, dies zu verhindern, laufen auf Hochtouren.
Boll lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Er weiß, dass sein so unglaublich variables Spiel nur schwer auszurechnen ist, und lässt die Chinesen tüfteln. Außerdem beschränkt sich die Rivalität für ihn ausschließlich auf den Sport. Denn: "Ich habe viele Freunde und Bekannte in China."
Nach ungefähr 50 Reisen nach China ist Boll bereits ein halber Chinese. Nur an das Essen hat er sich noch immer nicht so ganz gewöhnt. Während er Pekingente vergöttert, wurden ihm auch schon Schildkröte oder lebende Shrimps in Weißweinsoße serviert. Boll: "Das schmeckt nicht immer so gut." Aber für den Coup schlechthin, in London Gold zu holen, nimmt man eben auch so manche für europäische Gaumen unappetitliche Mahlzeit in Kauf.