Vier Scheiben sind bereits gefallen, ein letztes Mal volle Konzentration, die Atmung kontrollieren, Schuss... das Ziel bleibt schwarz. "Oh Gott, nicht schon wieder", denkt sich Selina Gasparin, der ersehnte erste Sieg beim Weltcup in Hochfilzen scheint von einer Sekunde auf die andere unerreichbar. Es wäre ein erneuter Rückschlag für die Schweizerin.
Dabei hätte sie es deutlich einfacher haben können. Vor ihrer Zeit als Biathletin trat sie im Langlauf an und hatte trotz ihres jungen Alters bereits eine Fülle an Erfolgen vorzuweisen. Bis in den Jugendkader der Schweizer Nationalmannschaft konnte sie vordringen. Eine erfolgreiche Karriere schien vorgezeichnet. Ein Auslandsaufenthalt veränderte jedoch alles.
Biathlon!?
Während ihres Studiums der Sport- und Bewegungswissenschaften in Norwegen, schaffte es die Kombination aus Langlauf und Schießen sie in ihren Bann zu ziehen. Die Faszination sollte die damals 19-Jährige nichtmehr loslassen.
Dass die Zeit in Skandinavien erheblichen Einfluss auf ihr weiteres Leben haben würde, war bereits beim Antritt der Reise klar. Durch die Tatsache, dass sie die Schweiz für ihr Studium verließ, entfiel auch die finanzielle Unterstützung des Verbandes. Ein harter Schlag für die junge Sportlerin, die das Aus ihrer sportlichen Karriere befürchtete.
Aber Aufgeben war nie eine ihrer Charaktereigenschaften. Trotz der schwierigen Phase fokussierte sie sich ab 2004 endgültig auf ihre neue Leidenschaft. Ein ungewöhnlicher Schritt, gab es in ihrer Heimat im Prinzip keinerlei Voraussetzungen, die eine wirkliche Perspektive bieten würden. In der Alpinnation Schweiz, die in anderen Wintersportbereichen erfolgreich vertreten ist, spielte Biathlon, trotz der enormen Beliebtheit in den Nachbarländern, keine Rolle. Ein Leistungs- und Trainingszentrum beispielsweise existierte nicht.
Auch sportlich war aller Anfang schwer. Bei ihrem Debüt im Weltcup 2005 landete sie nur auf dem 86. Platz. Die Kämpfernatur, die für ihren starken Willen bekannt ist, hielt jedoch unnachgiebig an ihrem Traum fest. Diese Zielstrebigkeit spiegelte sich relativ zügig in Resultaten wieder. Ihre nationale Titelsammlung wuchs und im Jahr 2006 folgte die Aufnahme in den Nationalmannschaftskader.
Zurück in der Schweiz
Ihre Zukunft war damit allerdings nicht gesichert. Nach ihrem Studium kehrte die bodenständige Biathletin in die Schweiz zurück und begann noch im gleichen Jahr eine Ausbildung zur Grenzwächterin.
So realitätsnah dieser Schritt auf der einen Seite war, so problematisch war er auf der anderen. Brachte er doch einen erheblichen Nachteil mit sich: Die Auszubildende konnte nur eingeschränkt abends trainieren. Sofern es die Zeit erlaubte, wich sie zudem für ihr Training nach Italien aus.
Allen Widerständen zum Trotz wurde sie im Jahr ihrer Rückkehr zur ersten Biathletin, die für die Schweiz bei einer Weltmeisterschaft antrat. Zwar belegte sie in Antholz nur einen unbefriedigenden 44. Platz, doch zeigte dieser ihr, dass die harte Arbeit sich langsam auszahlte.
So auch drei Jahre später, als sie erneut die Erste war. Niemals zuvor hatte sich eine Eidgenössin im Biathlon für Olympia qualifiziert. In Vancouver wurde ihr damit eine besondere Ehre zuteil. Ihre Entwicklung, die Hand in Hand mit der Etablierung im Weltcup einherging, blieb auch in ihrer Heimat nicht unbeachtet. Sie verschaffte einer ganzen Sportart nahezu im Alleingang eine völlig neue Dimension an Aufmerksamkeit und damit natürlich an Perspektiven. Seit 2010 gibt es eine gezielte Förderung im Nachwuchsbereich sowie eine stetige Professionalisierung der Trainingsbedingungen.
Fehlschuss? Und wenn schon!
In den letzten zehn Jahren hatte Gasparin somit einiges erreicht, im Gegenzug jedoch auch auf so manches verzichtet. Sie arbeitete hart, im sportlichen wie im privaten Bereich und nun sollte eine kleine schwarze Fläche ihren Traum zum Platzen bringen? Diesmal nicht! Sie besann sich auf ihre Wurzeln und lief eine phänomenale Schlussrunde. Im Ziel riss die 29-Jährige beide Arme in die Luft, nicht im Hinblick auf das Endergebnis des 7,5 km Sprints von Hochfilzen, sondern weil sie mit sich zufrieden war, sie hatte ihr Bestes gegeben.
Dass sie etwas Historisches erreicht hatte, wurde ihr erst später wirklich bewusst. Als Siegerin des Weltcups in Hochfilzen schrieb sie Geschichte. "Es ist Wahnsinn. Ich kann es selbst noch gar nicht fassen, was heute passiert ist. Ich glaube, dass es für die Schweiz ein riesen Schritt und ein ganz besonderer Tag ist", resümierte sie einen Triumph, der in erster Linie die Bestätigung für ihre Entscheidung und ihren unbändigen Willen war.
Zugleich handelte es sich um die erste Podestplatzierung einer Schweizerin im Biathlon und den ersten Sieg für die Eidgenossen. Zwar errang unter anderem Benjamin Weger zweite und dritte Plätze bei den Herren, ein Sieg blieb ihm jedoch verwehrt.
Durch den Erfolg in Hochfilzen, den sie bereits wenige Tage später in Le Grand-Bornand wiederholte, diesmal allerdings ohne Fehlschuss, qualifizierte sie sich erneut für die Olympischen Spiele. "Sotschi ist schon lange täglich präsent. Olympische Spiele sind ein Lebensziel für die meisten Sportler, auch für mich. Dieses Ziel motiviert mich", zeigte sich die 29-Jährige zufrieden.
Gasparin³
In all den Jahren war die Wegbereiterin des Schweizer Biathlons stets als Einzelkämpferin unterwegs. Doch auch diese Zeiten sind vorbei. Seit 2010, als sie erstmals unter die ersten Zehn lief, ist ihre Schwester Elisa im Weltcup vertreten. Zwei Jahre später formierte sich die Biathlonstaffel langsam aber sicher zu einem kleinen Familienunternehmen.
Durch die 19-jährige Aita ist die jüngste der drei Schwestern nun ebenfalls mit an Bord. Die Vierte im Bunde ist Irene Cadurisch. Die Familie Gasparin konnte sich damit den nächsten Eintrag in den Geschichtsbüchern sicher: Niemals zuvor gab es eine Staffel bestehend aus drei Schwestern.
Nur einen Winter nachdem die Staffel zum ersten Mal im Weltcup vertreten war, gelang durch den zehnten Platz in Ruhpolding die Olympiaqualifikation. Eine Entwicklung von der die älteste der drei Schwestern nicht zu träumen gewagt hätte: "Vor vier Jahren war es schon einen kleine Sensation, dass ich mich als Einzelläuferin für Vancouver qualifizierte. Die noch größere Sensation ist aber, dass wir ein Team aufbauten, das nun zwei Einzelqualifikationen und eine Teamnorm erreicht hat."
Olympia im Visier
Apropos Olympia: Das nächste Ziel der ehrgeizigen Schweizerin ist eine Medaille in Sotschi. Was in der Staffel wohl nahezu unmöglich wird, hier ist das olympische Motto "Dabei sein ist alles" passender, ist im Einzel deutlich wahrscheinlicher. Will sie allerdings eine realistische Chance haben, müssen ihre Ergebnisse beim Schießen konstanter werden.
Exakt daran arbeitet sie seit einiger Zeit. "Ich wollte die negativen Erinnerungen, die sich in mein Gedächtnis eingebrannt hatten, hinter mir lassen", beschreibt sie die Problematik. Durch psychologische Betreuung sowie Hypnose konnte sie diese Schwierigkeiten viel besser in Griff bekommen: "Jetzt komme ich an den Schießstand und bin zuversichtlich."