Als Nebendarsteller im Finale des von Beckenbauer zum Cup der Verlierer herabgewürdigten UEFA-Pokals 1996 fällt er mir erstmals auf. Einer von vielen späteren Stars der Talente-Jahrzehnttruppe von Girondins Bordeaux. Er führt den Ball mit dem rechten Außenrist wie früher "Le Kaiser, qui triomphe" (O-Ton französisches Fernsehen). Anders als bei Deutschlands vormaligem Libero hat das nichts Blasiertes, ist selbstverständlich. Thomas Strunz rauscht heran. Mit der Sohle des rechten Schuhs tritt unser Held auf den Ball, zieht, nein streichelt ihn hinter das linke Standbein, dreht sich um die eigene Achse und nimmt den Ball mit der Sohle des linken "Samba" mit. Während Strunz noch das alte Prisma-Rätsel spielt, hat er schon wieder Tempo aufgenommen. Wenn je ein Trick Ikone wurde, dann der doppelte Sohlenstreichler. Der einzige Erfolg, den ich bei der versuchten Nachahmung erzielte, war, mir nicht sämtliche Haxen gebrochen zu haben.
Die 90er sehen eine Bundesliga, die nur um sich selbst kreist, sich an explodierenden Zuschauer- und Fernseheinnahmen und zurückkehrenden Italienlegionären aus der Generation der Weltmeister von Rom berauscht. Scouting fehlt damals in Deutschland. Im Jugendbereich, im Ausland. Anders ist kaum zu erklären, dass der Doppelsohlenstreichler der Mannschaft von der Gironde für auch damals moderate 7 Mio. DM zu Juventus Turin wechselt. Er trägt einen Namen, der wie eine Mischung aus den Kosmen von Thomas Mann und Disney und für prämultikulturelle Ohren so gar nicht französisch klingt: Zinedine Zidane.
Es gibt wenige Spieler, die die globale Fußballgemeinde schon während ihrer aktiven Zeit ohne große Diskussionen und ohne Ansehen des aktuellen Vereins mit der Zunge schnalzen lassen. In Turin wird Zizou zu einem solchen Spieler. Mehr oder minder grobschlächtige Alphatiere wie Keane, Cantona, Sammer oder Effenberg polarisieren. Exaltierte Stars wie Romario, Stoitschkov, Kluivert, Ronaldo oder Seedorf werden vergöttert, aber auch geschmäht und beneidet. Zidane wird für die 90er, was Pele für die 60er und 70er war. Der Inbegriff von Klasse und Dominanz. Anmutig, fast schwebend. Wer damals Fußball spielt, will wie Zidane sein. Zidane lenkt das Spiel nicht, Zidane dirigiert. Die Augen anscheinend überall, auch im Rücken, nur nicht auf dem Ball. Der gehorcht ohnehin. Blind. Er macht nicht alles richtig, aber fast nichts falsch und lässt das auch noch gut aussehen. Wie ein aus Schweinsteigers Rippe, Netzers Auge und Messis Füßen geklonter Hybrid. Das Beste aus Vergangenheit und Zukunft. Ein Fußballer 2.0.
"Wunderbar, wunderbar! Leider wunderbar!"
Dieser Moment, der seine Klasse definiert wie sonst nur der ikonographische Sohlentrick, ist verregnet. Schottisch. Im Mekka des Arbeiterfußballs leuchtet er trotzdem gleißend hell. Der Kollateralschaden ist der endgültige Beleg des Vizekusenvirus. Der Treffer entscheidet das größte Vereinsfußballspiel des Jahres 2002. Solaris Steilpass, Roberto Carllos stapft an Sebescen vorbei. Den auf regennassem Boden schnell werdenden Ball verarbeitet der Brasilianer gerade so zu einer Parabel von einer Flanke. Steil stürzt der Ball an der Strafraumgrenze herab. Sekundenbruchteile später schlägt er hinter Butt ein. Der Fußballverstand will nicht glauben, was die Augen gesehen haben. Orthopäden hätten wohl bei den zahllosen Wiederholungen "Bitte nicht nachmachen!" eingeblendet gesehen. Ein Jahrhunderttor in einem CL-Finale. Die anderen Galaktischen jubeln berauscht. Der deutsche Fernsehkommentator erkennt bedauernd die schiere Brillianz an, die Bayers wackere Vorstellung überschattet. Es gibt Stars, es gibt Superstars und es gibt Zidane. Hampden steht. Die Welt verneigt sich.
Der Weg dahin ist lang, steinig und von Niederlagen gesäumt. In Deutschland hätte man Zidane wohl wahlweise einen "Verpisser" oder ein "Chefchen" genannt damals 1998, als Zidane aus Turin zur WM im eigenen Land anreist. Die Pleite mit Girondins gegen das vermeintliche Dreamteam aus München 1996 war zu verknusern. Dortmund und Real machen aus Zidane den ewigen Zweiten. Drei Europapokalniederlagen ensuite im Handgepäck sowie Hoffnungen und Zweifel der ganzen grande nation auf dem Rücken. Platini und dessen EM-Titel im eigenen Land sind der Maßstab, nicht mehr, nicht weniger. Große Spiele werden von großen Spielern entschieden. Ein Scudetto mehr oder weniger macht keinen großen Spieler. Dabord le titre. Dann reden wir weiter.
Die Stille vor dem Sturm
Zidane erträgt die Zweifel schweigend, ruhig, fast schüchtern. Still eben. "Freunde-der-Sonne"-Ansprachen sind nicht überliefert. Von Übermotivation verzerrte Fratzen setzt er nie auf. Stoisch dominiert er die Gegenspieler mit dieser Mischung aus Grazie und Übersicht, dem Gefühl für das scheinbar immer richtige Timing. Das skandalfreie, vor Instagram und Co wirklich intime Privatleben (seine Frau hatte er noch als Jugendspieler kennengelernt) ist die Fortsetzung der mehr ertragenen als zelebrierten medialen Präsenz des besten Fußballers der Welt. Dicke Autos fährt er nur, weil sie Komfort und Sicherheit für die Kinder der Musterehe bedeuten. Interviews sind Pflicht, nicht Gelegenheit zur Selbstvermarktung. In den Drei-Streifen-Werbespots wirkt er seltsam deplatziert. Die geheimnisvolle Aura der Stille macht sein Charisma aus, nicht flotte Sprüche oder noch flottere Stilwechsel. Zidane ist der Anti-Beckham. Der Stillste unter den Stillen im Fußballlande.
Die medialen Zweifel lässt er sich gefallen, lässt sie abperlen. Sie beziehen sich auf die vermeintlich mindertalentierte Mannschaft, den linkischen Trainer, aber vor allem auf ihn. Den besten Spieler einer Frankreich unwürdigen Mannschaft. Der Stellvertreter einer verlorenen Generation. Er nimmt das Narrativ an. Weil er weiß, dass er es widerlegen kann. Weil er weiß, dass Jungspunde wie Henry oder Trezeguet überfordert wären mit der überbordenden Erwartungshaltung. Weil er es ertragen kann. Er ist léquipes stiller Wächter, ihr wachsamer Beschützer, aber auch ihr dunkler Ritter.
Diese WM ist wie eine Verdichtung von Zidanes Karriere. Die ersten 160 Minuten brilliert er wie gewohnt. Dann macht ihn einer dieser unbeherrschten Momente vom designierten Superstar des Turniers zur französischen persona non grata. Eine dümmliche Tätlichkeit gegen chancenlose Saudis kostet ihn zwei Spiele Sperre. Wären die Franzosen ohne ihren Anführer im Achtelfinale ausgeschieden, Beckhams englischer Spießroutenlauf Wochen später wäre ein Kindergeburtstag gewesen im Vergleich zur Aufregung in jenem Land, das seine eigenen Helden mit einer Wollust demontiert, die man immer der deutschen Neidgesellschaft zuschreibt.
Diese Unbeherrschtheit, ja dieser Jähzorn, die so merkwürdig mit seiner stillen Beherrschtheit jenseits des Platzes kontrastieren, lässt noch einmal 10 Tage lang die Zweifel an Zidanes Nervenstärke, ja an seinem Charakter aufkommen. Ein talentierter Spieler, der sich ewig selbst im Weg steht. Der Frankreich blamiert und im Stich gelassen hat. Als aber Italien im Viertelfinale - wieder mit Zidane - verabschiedet wird, ist der Weg geebnet.
"Der Mann des Abends, das Spiel seines Lebens."
...formuliert später Rolf Kramer, einer dieser Stillen im deutschen TV, zur Beschreibung des Finals von St. Denis. Zwei Kopfballtore ins Herz der scheinbar übermächtigen Brasilianer und aus Zidane, dem ewigen Zweiten, ist die dritte große Ikone des französischen Fußballs geworden.
Die Freude lässt er heraus. Triumphgesten sind ihm wesensfremd. Die absurde Überhöhung der Mannschaft als Symbol der bestens integrierten, multikulturellen Kinderschar des Vaterlands, die später in den Flammen brennender Autos aufgehen wird, lässt er über sich ergehen. Er könnte dagegen angehen, sich wehren gegen die Vereinnahmung. Denn er weiß es besser. Der algerischstämmige Held der Nation kennt die Demütigungen und die Abneigung, die "Schwarzfüßen" wie ihm alltäglich entgegenschlägt. Er weiß, dass sich Menschen darum reißen, ihn zu berühren, die die Straßenseite wechseln würden, wenn sie einem wie ihm begegnen und er nicht Fußballer wäre.
Zwei Jahre später ist Zidane auf dem vorläufigen Gipfel. Der erste globale Champion, der Europameister wird. Deutschland sammelt die Trümmer der Ribbeckära. Der Boulevard zeigt Bratwürste im Deutschlandtrikot und Zidane daneben. Überlebensgroß. Zidane, der Ikone der Stille, wäre das wohl zuwider gewesen, hätte er es mitbekommen.
2001 wächst zusammen, was zusammengehört. Zidane, der größte Fußballer der Welt, wechselt zum größten Club der Welt. Für die bis dahin größte Ablöse der Welt. Schier unvorstellbare 150 Mio. DM zahlen die Königlichen. Der Pomp der Vorstellung lässt Zidane sichtbar kalt, ist ihm geradezu unangenehm. Auch vom Moment, da er wie ein Kaiser empfangen wird, der Extrastellare unter den Galaktischen, lässt er sich nicht mitreißen. Keine Sprüche, keine Ankündigungen. Ein höfliches Lächeln. Dann läuft er auf. Ganz in weiß. Lässt Taten sprechen, die immer lauter waren als Worte. Die Tat von Glasgow, das Jahrhunderttor.
Das Unwürdige an einem Trikottausch
Den Abgang dominiert seine dunkle Seite. Der Dialog mit Materazzi ist Legende. Die handfeste Beendigung leider auch. Zidane dominiert das Finale wie immer. Er trifft wie immer (WM 1998, EM 2000, CL 2002), ein bemerkenswertes Comeback des zwei Jahre vorher schon Zurückgetretenen steht kurz vor der Vollendung. Die Erwähnung seiner Schwester und käuflicher Liebe in einem Satz lässt Zidane zum wilden Stier und sein letztes Spiel zum unwürdigen Ende werden. Die 15. und letzte rote Karte seiner Karriere. Leute wie Materazzi oder Jochen Kientz kennt man vor allem als Opfer des Jähzorns jenes Stillen im Lande, den sie "Zizou" nannten.
Ein Held wurde er wegen seiner Eleganz, seiner Spielintelligenz und natürlich seiner Tore. Aber auch weil er einer dieser altmodischen Vertreter war, der daran glaubte, dass überragender Fußball immer lauter spricht als schrille Kleidung, farbige Sportwagen oder blondierte Scheitel. Der damit wie aus der Zeit gefallen schien und seine Zeit doch dominierte, eine Ära prägte, ohne darüber viele Worte zu verlieren. Zehn Jahre ein König. Vom Sohlenschrubber gegen Strunz zur Kopfnuss von Berlin. Zinedine. Zidane. Ein stiller Held, mein stiller Held.
Für mich hat Fußball Zidane! Jeder will sein (sollte sein wollen) wie er
Traurig macht mich nur, dass sich jeder in seinem letzten Spiel an den Kopfstoss erinnert und nicht, an den Elfmeter. Ich liebe dich, Zizou
So einen wirds nicht mehr geben. Auch viel besser als die heutigen "Stars"
Zizou würde die alle in die Tasche stecken...
Insgesamt ne klasse Thenemwoche, zusammen mit den NBA-Previews richtig viel guter Lesestoff zurzeit.
"Ein höfliches Lächeln. Dann läuft er auf. Ganz in weiß. Lässt Taten sprechen, die immer lauter waren als Worte. Die Tat von Glasgow, das Jahrhunderttor."
Ich sehe grad das 8-jährige Ich vor mir, wie es seinen Trick imitiert
Überragender Fußballer, überragender Blog. Vielen Dank!
Jetzt weiß ich, warum.
Zidane war schon ein Großer seiner Zeit und hat so eine Hommage mehr als verdient.