Wahnsinn! Ein anderes Wort kann man für das Spiel der deutschen Mannschaft nicht finden. Wahnsinn, wie mutig und gut sie gegen die als übermächtig geltenden Russen gespielt haben. Sie waren gleichwertig, hatten sogar die besseren Chancen.
"So gut wie heute haben wir noch nie gegen Russland ausgesehen, seit ich mitspiele. Zumal die Russen ja auch noch mit einer echten Startruppe am Start waren", sagte DEB-Veteran Sven Felski nach dem Spiel. "Das ist sehr, sehr schade, aber wir können total stolz auf uns sein."
Wolf: "Hatten Russland am Rande eines Punktverlusts"
Wahnsinn war leider auch, wie viele Gelegenheiten die Deutschen ausgelassen haben - und wie eiskalt die Russen stattdessen vor dem Tor waren. Bestes Beispiel: Alexander Owetschkin. Fast das ganze Spiel über war der Superstar total abgemeldet, doch seine einzige Großchance verwandelte er prompt zum letztlich entscheidenden 3:1 in der 50. Minute. Der Anschlusstreffer von Alexander Barta kam leider zu spät.
"Ich wüsste nicht, wann ich schon mal gegen so eine große Mannschaft so unglücklich verloren hätte. Wir haben ein riesiges Spiel gemacht, trotzdem ist es im Nachhinein ärgerlich, so knapp verloren zu haben", sagte Michael Wolf im Gespräch mit SPOX und sprach die überraschende Erkenntnis des Abends noch einmal aus. "Wir hatten die Russen am Rande eines Punktverlusts."
Gerade Wolfs Reihe mit Marcel Müller und Christoph Ullmann hatte zahlreiche große Chancen, aber: "Gegen so einen Gegner ist es nicht so einfach, Tore zu schießen", sagte Wolf.
Ehrhoff mit bärenstarkem Einstand
Und noch einmal Wahnsinn. Wahnsinn nämlich, wie stark Christian Ehrhoff direkt nach seiner turbulenten Anreise aus Kanada gespielt hat. Dank ihm hat Deutschland extrem viel Druck auf das russische Tor gemacht. In dem erwischte Goalie Semyon Warlamow jedoch einen sehr guten Abend.
Trotzdem kann Deutschland stolz sein. Denn so eine gute Leistung (Schussverhältnis: nur 36:34 Russland) gegen ein russisches Team hat man schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Die Fans jubelten trotz der Pleite nach der Schlusssirene frenetisch.
Mit diesem Engagement sind die Chancen auf das Erreichen des Viertelfinals trotz der Niederlage noch völlig intakt.
SPOX fasst die Lehren aus dem Russland-Spiel zusammen.
Erstes Drittel: Schon vor dem Spiel zeigen die Deutschen, dass die Sache sehr aggressiv angehen wollen. Beim Warmschießen geht prompt eine Plexiglasscheibe zu Bruch. Aber auch im richtigen Spiel legen die Deutschen gut los. Begünstigt durch zwei frühe Strafen gegen die Russen findet das DEB-Team schnell zu Passsicherheit und hat sogar einige ganz gute Chancen. Mit einer Strafe gegen Kai Hospelt nach acht Minuten wendet sich das Blatt ein wenig. Die individuelle Klasse der Russen gewinnt die Oberhand und DEB-Goalie Dimitrij Kotschnew muss gegen Pawel Datsyuk zum ersten Mal in höchster Not retten. In der 15. Minuten ist er dann aber machtlos, als ein Schuss von Alexander Frolow von der Bande zurückkommt und genau auf der Kelle von Ilja Kowaltschuk landet. Der verlädt den Goalie und macht das 1:0. Doch von Schock bei den Deutschen keine Spur. In der folgenden Überzahl haben Christan Ehrhoff und Constantin Braun gute Schusschancen, aber Warlamow im russischen Tor hält gut. Trotz des Rückstands eine großartige Leistung des DEB-Teams, Uwe Krupp hat seine Jungs sehr gut eingestellt. Sie sind nicht zu defensiv, sondern bringen auch immer wieder Entlastung nach vorne. Beleg: 13:12 Torschüsse für Deutschland.
Zweites Drittel: Wer glaubt, die Deutschen haben im ersten Drittel am Limit gespielt, täuscht sich. Im zweiten Abschnitt geht es noch mutiger nach vorne. Besonders die zweite Reihe mit Wolf, Ullmann und Müller wirbelt und erspielt sich hochkarätige Chancen. Aber sie scheitern mehrfach am ganz starken Warlamow. Dann das bittere 0:2 aus heiterem Himmel. Braun rückt aus dem Slot heraus und lässt Kulemin mutterseelenallein vor Kotschnew stehen. Der muss den folgenden Schuss von Afinogenow nur noch abfälschen. In der Defense sind die Deutschen jetzt manchmal zu spät dran. Dafür geht es vorne stark weiter. Felski und Schütz laufen bei Breaks alleine auf Warlamow zu, aber die Scheibe will einfach nicht ins Tor. Die Deutschen scheitern wieder an ihrer chronischen Abschlussschwäche. Bis zur Schlusssirene im zweiten Drittel. Denn im allerletzten Moment bringt der stark spielende Ehrhoff einen Pass von Wolf endlich über die Linie, nur noch 1:2.
Drittes Drittel: Weiterhin geben die Deutschen keinen Deut nach. Läuferisch kann das Team tatsächlich mit den Russen mithalten. Die Kraft reicht aus. Doch dann nach zehn Minuten wieder so ein unnötiges Gegentor. Semin bringt von der Bande aus den Puck blitzschnell in den Slot. Dort steht Owetschkin ganz alleine und lässt Kotschnew keine Chance. Die Russen sind eiskalt vor dem Tor. Das ist der einzige Unterschied zwischen ihnen und dem deutschen Team. Doch die Deutschen sind immer noch nicht tot zu kriegen. Sechs Minuten vor Schluss verwandelt Barta den Abpraller nach einem Kreutzer-Schuss zum Anschlusstreffer. Nach einer Strafzeit gegen Braun bleibt den Deutschen am Ende nur noch eine Minute, um ohne Torhüter alles auf eine Karte zu setzen. Doch das verdiente 3:3 will nicht mehr fallen.
Star des Spiels: Christian Ehrhoff. "Mit ihm sind wir stärker als ohne ihn", hat Uwe Krupp nach der Ankunft Ehrhoffs in Köln gesagt. Recht hatte er. Mit Ehrhoff auf dem Eis hatte Deutschland nicht nur einen läuferisch bärenstarken Verteidiger, sondern auch einen ständigen Antreiber im Spiel nach vorne. Ehrhoff schießt aus allen Lagen, bringt Druck aufs gegnerische Tor und ermöglicht somit zweite Chancen. Musterbeispiel war sein Tor, als er den Puck aus dem eigenen Drittel nach vorne brachte und dann selbst die Früchte erntete. Ehrhoff braucht sich hinter keinem einzigen der großen Stars im russischen Team zu verstecken. Er ist selbst ein Star.
Lehren des Spiels: Man muss sich verwundert die Augen reiben, wenn man Deutschland bei dieser WM zuschaut. Mit so viel Mut hat man das Team seit vielen Jahren nicht mehr spielen sehen. Die Deutschen strotzen so sehr vor Selbstvertrauen, dass sie sich auch um Gegner namens Owetschkin oder Kowaltschuk nicht scheren. Sie ziehen ihren Stiefel des geradlinigen Spiels knallhart durch, egal gegen wen.
Gleichwertig bei den Torschüssen, deutlich überlegen sogar bei den gewonnenen Bullys. Es wäre vermessen, die Deutschen gegen die Russen als dominant zu bezeichnen. Aber von einem Klassenunterschied früherer Jahre war keine Spur. Die Russen, die noch auf ihre Verstärkungen aus Pittsburgh (Jewgeni Malkin und Sergej Gontschar) verzichten mussten, hätten sich über eine Punkteteilung nicht beschweren dürfen, profitierten aber davon, dass sie eiskalt vor dem Tor waren. Das haben die Deutschen leider nicht geschafft.
Sicher ist trotzdem: Spielen die Deutschen gegen Weißrussland und die Slowakei ähnlich druckvoll, sollte das Erreichen des Viertelfinals kein Problem sein.