Matthäus: "Ballbesitz ist nicht gleich Dominanz"

SID
Lothar Matthäus nennt den FC Barcelona als sein Ideal für das Fußballspiel
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Frage: Was hat sich denn seit Ihrer Spielerzeit taktisch verändert?

Matthäus: Taktisch hat sich natürlich vieles verändert. Heute gibt es ganz andere Möglichkeiten, die Spieler zu trainieren. Ich hatte früher in Gladbach nicht mal einen Fitnessraum. Wir haben alles auf den Platz gemacht. Heutzutage hast du in der Trainingsarbeit einen Fitnessraum und zig Trainer in deinem Trainerstab. Du kannst viel mit dem Computer arbeiten. Du weißt, wie die Muskulatur gebaut ist von jedem Spieler. Wenn die kleinste Faser kaputt ist, wird das registriert. Dass der Fußball schneller geworden ist, dass er athletischer geworden ist, das muss ich alles gar nicht sagen, das wissen wir alles. Natürlich gibt es verschiedene Taktiken. Bevorzugte Taktik im Weltfußball ist das 4-2-3-1 System, weil man dadurch mit den zwei Sechsern kompakt nach innen steht. Ich spiele allerdings nicht gerne mit zwei Sechsern, wobei die Frage ist, wer denn wirklich mit zwei Sechsern spielt. Schweinsteiger ist ja zum Beispiel auch eher Achter als Sechser.

Frage: Wir sprechen deshalb nicht gerne von einer Doppelsechs, sondern von Sechser, Achter, Zehner.

Matthäus: Ja. Es kommt auch immer drauf an, welche Spieler du hast, wie stark deine Mannschaft ist. Ich habe zum Beispiel in Ungarn und auch bei Partizan Belgrad mit einer Dreierkette gespielt, also sehr kompakt, mit einem Sechser und zwei Außenverteidigern. Wenn du eine Dreierkette spielst, können die zwei Außenverteidiger 20 Meter weiter nach vorne schieben. Dann geht ein Sechser nach hinten in die Dreierkette und dadurch können zwei Spieler weiter nach vorne gehen. Praktisch spiele ich so mit einer Dreierkette mit Libero defensiv, aber dafür habe ich wieder die Möglichkeiten, andere Spieler nach vorne zu schieben. Und ob man nun mit einem oder mit drei Stürmern spielt, das sind ja nur Nuancen, die sich dadurch ändern. Beispiel Bayern: Ribery und Robben, sind das offensive Mittelfeldspieler oder Flügelstürmer? Ich würde sagen, das sind Flügelspieler, also 7 und 11. Bayern München spielt für mich mit drei Spitzen, Kroos ist der Zehner, Schweinsteiger der Achter und Gustavo der Sechser. Und dann habe ich meine Viererkette. Also spielt Bayern München im 4-3-3.

Frage: Wobei es bei den Außenstürmern heutzutage seltener der Fall ist, dass sie durchziehen an die Grundlinie, sondern öfter nach innen ziehen. Was halten Sie davon?

Matthäus: Die Frage ist: Was wollen wir? Wollen wir über die Außen kommen und flanken? Das funktioniert, wenn wir einen kopfballstarken Stürmer haben oder Spieler, die nachrücken oder von der Seite reinrücken, wenn die Flanke kommt. Aber der Neuner muss da unterstützt werden. Es kann nicht sein, dass die Flanke kommt und der Neuner spielt gegen vier Abwehrspieler. Dann wirst du keine Tore erzielen. Eine andere Möglichkeit ist, dass man, wie es zum Beispiel Robben macht, nach innen geht, den Ball auf seinen starken Fuß legt und so den Torabschluss sucht. Aber auch hier gibt es Gegenmittel. Inter Mailand hat es zum Beispiel super gemacht beim Champions League Finale gegen Bayern München. Der Robben war in einer Riesenform, aber die Verteidiger wussten: Außen können wir ihn vorbeiziehen lassen, das ist nicht das Problem. Wenn er aber nach innen kommt, ist ein Sechser da, unterstützt den linken Verteidiger und blockiert ihn.

Frage: Woher erklärt sich dann der Trend, dass weniger Flügelspieler an die Grundlinie ziehen?

Matthäus: Das ist eine gute Frage. Früher hat man mit zwei Stürmern ein 4-4-2 System gespielt. Die Außenstürmer hatten bei ihren Flanken dadurch mehr Möglichkeiten. Vorne hattest du schon mal zwei Stürmer drin, dann ist meistens noch ein Mittelfeldspieler nachgerückt bzw. der Außenstürmer von der anderen Seite nach innen gegangen. Dadurch warst du mit drei, vier Spielern im Strafraum. Heute suchst du mit nur einem Stürmer den direkteren Weg zum Torerfolg.

Frage: Was wir als einen Trend im Taktikbereich sehen, gerade bei Barcelona, sind häufige Positionswechsel in der Offensive. Würden Sie das als Trend sehen oder ist das etwas Barcelona-spezifisches?

Matthäus: Ich kann mich an den SC Freiburg erinnern, 15 Jahre ist das her. Das war für Deutschland etwas ganz Neues. Finke hat die vier Offensivspieler durchtauschen lassen. Jeder konnte Spitze spielen und auch die anderen drei Positionen. Die Spieler durften machen, was sie wollten, nur die Positionen mussten besetzt sein. Das ist eine Möglichkeit, dass ich den Gegner ein bisschen verwirre und den Abwehrspieler verunsichere - wenn ich die Spieler habe, die diese Positionen auch spielen können.

Frage: Was noch ein sehr interessanter Fast-Positionswechsel ist, ist die Rolle, die Messi bei Barcelona spielt als zurückfallender Stürmer. Halten Sie das für interessant?

Matthäus: Auf jeden Fall. Ich finde es eine super Möglichkeit, Messi als zurückfallende Spitze, ich würde es mal 9 ½ nennen, einzusetzen. Es gibt zwei Innenverteidiger, die zwei Innenverteidiger haben keine Aufgabe, die anderen beiden Stürmer kommen über die Außen und gehen in die Schnittstelle zwischen Außenverteidiger und Innenverteidiger. Messi kann im Mittelfeld Überzahl schaffen und muss nicht mit dem Rücken zum Abwehrspieler arbeiten, sondern kommt mit dem Ball auf den Abwehrspieler zu, und das macht einem Abwehrspieler riesengroße Probleme.

Er ist ja kein Spielmacher. Maradona hat ihn bei der Weltmeisterschaft falsch eingesetzt, auch gegen Deutschland. Wenn ich weiß, Boateng spielt als linker Verteidiger, dann lass ich doch den Messi gegen Boateng spielen. Damals hat er auch bei Barcelona hauptsächlich auf der rechten Seite gespielt. Das war für mich ein taktischer Fehler von Maradona. Er hat ja sowieso viele Fehler gemacht. Auch wenn er mein Freund ist, aber das darf ich ja sagen.

Ich finde es einen wirklich guten Schachzug, Messi ein bisschen fallen zu lassen. Auch für die anderen beiden Stürmer. Villa ist ja auch kein Flügelstürmer, er kommt immer wieder ins Zentrum rein. Auch bei Valencia war er eigentlich schon eine Nummer 9. Die Verteidiger wissen dann nicht, wie sie sich verhalten sollen, wenn Villa nach innen kommt. Soll der Außenverteidiger mit Villa reinziehen? Das sind Momente, in denen alles funktionieren muss in der Abwehr: Villa übernehmen, Messi rechtzeitig attackieren. Barcelona lässt Überzahlsituationen entstehen. Das sind schon Waffen, die ein Trainer gerne hat.

Frage: Johan Cruyff hat zu Barcelona den interessanten Satz gesagt, er finde gar nicht so sehr die Offensive faszinierend, sondern wie sie den Ball zurückeroberten. Sehen Sie das auch so?

Matthäus: Ja. Das Wichtigste beim Pressing ist ja, dass alle mitmachen. Nach einem verlorenen Ball kurz hinter den Ball, dann gar nicht dem Gegner die Zeit und die Möglichkeit lassen, den Ball zirkulieren zu lassen, sondern gleich wieder attackieren. Dazu sind die Abwehrspieler technisch nicht die geschultesten. Dann kommst du, wenn du es clever und aggressiv machst, zu einer schnellen Ballrückeroberung.

Frage: Was denken Sie, muss man als Trainer machen, damit dieses Gegenpressing so gut funktionieren kann? Auch in der Bundesliga sieht man es öfter, z.B. Dortmund macht das sehr gut. Wie geht man das an?

Matthäus: Eine passende Geschichte: Als ich bei Inter Mailand gespielt habe, hat der AC Milan unter Sacchi Pressing gespielt. Sie haben im 4-4-2 gespielt mit Gullit, van Basten vorne, wobei Gullit ein bisschen um van Basten gespielt hat, Evani und Donadoni auf Außen, mit Ancelotti und Rijkaard zwei Sechser und hinten ihre Viererkette. Im Pressing haben sie erst einmal die Mitte zugemacht. Dann haben sie absichtlich den Außenverteidiger anspielen lassen, Andreas Brehme links und rechts war es Bergomi. Wenn einer von denen angespielt worden ist, haben die Laufwege funktioniert. Der offensive seitliche Mittelfeldspieler ist draufgegangen, alles hat sich verschoben. Nach hinten haben sie alles zugemacht, auch den Weg zum Torwart, also blieb diesen Außenverteidigern, die ja früher technisch schlechter geschult waren, nur der lange Ball.

Frage: Das ist jetzt gerade ein Muster, dass man beispielsweise aktuell bei Borussia Dortmund sieht. Wird dieses Pressing weiterhin ein erfolgreiches Mittel bleiben?

Matthäus: Die erfolgreichen Mannschaften spielen zurzeit einen Fußball mit einem frühen Pressing. Man kann es nicht über 90 Minuten durchhalten. Da sind wir wieder bei spielintelligenten Spielern, die durch die tägliche Arbeit wissen, wann sie attackieren müssen. Andererseits kannst du natürlich sagen, wir lassen uns nach Ballverlust tief fallen, um kompakt zu stehen, wie Mönchengladbach es beispielsweise macht. Sie haben erst 13 Gegentore in der Bundesliga bekommen und spielen mit zwei Viererketten sehr eng zusammen, davor mit Reus und Hanke, die wiederum an der vorderen Viererkette fast schon kleben. So stehen sie sehr kompakt.

Natürlich, Dortmund versucht häufig das offensive Pressing. Das ist situationsbedingt, man kann es nicht 90 Minuten machen. Andererseits musst du wieder ein Gegenmittel haben. Wenn du den Ball verlierst als ballführende Mannschaft in dieser Zone, das ist immer eine Gefahr für mein Tor.Das heißt, wenn ich jetzt genau weiß, dass eine Mannschaft so ein geiles Pressing spielt, bei dem ich wirklich unter Druck gerate, muss ich eben lange Bälle raushauen und versuchen, in der gegnerischen Hälfte den langen Ball oder den zweiten Ball zu erobern. So hat es beispielsweise Trapattoni gegen Milan gemacht. Ich war damals kein Freund davon, weil der Ball immer über meinen Kopf geflogen ist. Ich hatte nachher Nackenschmerzen, weil ich dem Ball nur über mir herschauen konnte. Ich habe mich auch mit Trapattoni nach dem Spiel angelegt, aber heute sehe ich ein, dass es damals die einzige Chance war. Wenn du mit denen mitspielen wolltest, hattest du keine Chance.

Frage: Was uns persönlich zum Schluss beim Thema Pressing interessiert: Sie haben bereits gesagt, Pressing kann man nicht über 90 Minuten durchhalten. Wie strukturiert man stattdessen das Pressing? Setzt man auf Phasen oder wird es flexibel eingesetzt?

Matthäus: Ich kann als Trainer nicht reinschreien, die ersten acht Minuten machen wir Pressing, die nächsten zehn Minuten keins. Das muss situationsbedingt passieren. Wenn die Mannschaft schon in einer offensiven Position ausgerichtet ist, wäre es ja blöd, fünfzig Meter zurückzulaufen und den Gegner spielen zu lassen. Dann kannst du ihn gleich attackieren. Das trainierst du ja auch. Wenn die Abwehr siebzig Meter weiter hinten steht, bringt es nichts. Dann suchst du wieder die Kompaktheit. Das macht Dortmund ja hervorragend: Wenn sie den Ball verlieren, attackieren sie gleich wieder. So hast du wirklich große Chancen, den Ball zurückzuerobern in einer Phase, in der der Gegner eigentlich schon einen Offensivdrang hat. Dann kannst du die offenen Räume nutzen, um erfolgreich zu sein.

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