SPOX: Die Ursprünge des Gehörlosensports in Deutschland reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück. 1888 wurde der erste Gehörlosensportverein in Berlin gegründet. Dennoch gibt es nur sehr wenige gehörlose Profisportler. Wie erklären Sie sich das?
Ollert: Gerade in Mannschaftssportarten, also Kommunikationssportarten, ist es natürlich sehr schwierig, sich zu etablieren. Ich denke, das Problem liegt eher am Selbstvertrauen der gehörlosen Kinder und Jugendlichen. Oft wird ihnen von allen möglichen Seiten gesagt, dass sie aufgrund ihrer Behinderung bestimmte Dinge besser lassen sollten. Und gerade in solch einem Alter, in dem du von Erwachsenen abhängig bist, machst du das dann auch nicht. Aber das ist Quatsch.
SPOX: Sie veranstalten in diesem Jahr in Zusammenarbeit mit dem Hörgerätunternehmen Phonak bereits zum dritten Mal das Simon Ollert Fußball-Camp für schwer hörgeschädigte Kinder.
Ollert: Ich wollte den Kindern und auch ihren Eltern einfach zeigen, dass sie großes Potenzial haben und dass man damit arbeiten kann. Dabei geht es um Ballgefühl und fußballerisches Geschick. Die Jugendlichen können lernen, sich mit anderen zu messen und so im spielerischen Rahmen Selbstvertrauen und Mut gewinnen. Wir haben das Ziel, Kinder mit Hörverlust in ihrer Entwicklung zu fördern.
SPOX: Ihr Fall kann eine Inspiration für viele Kinder sein, während andere Menschen in Ihrem Alter sich noch nicht einmal ihrer eigenen Zukunft sicher sind. Wie fühlt es sich an, mit 20 Jahren diese Vorbildfunktion auszufüllen?
Ollert: Mir ist durchaus bewusst, dass ich eine Verantwortung gegenüber den Kindern habe. Ihnen fehlt einfach Selbstvertrauen und das möchte und kann ich ihnen vermitteln. Ich sehe auch im Camp, wie sich die Kinder weiterentwickeln. Bei einigen Müttern floss durchaus die eine oder andere Träne. Manche sagten uns, sie hätten ihr Kind noch nie so glücklich gesehen. Das ist dann schon sehr emotional. Daher ist der Andrang in jedem Jahr groß.
SPOX: Wie groß?
Ollert: Im vergangenen Jahr erhielten wir Anfragen aus den USA, die leider etwas zu spät eingegangen sind. Aber: Einer schaffte es aus Russland ins schöne Ettal. Er konnte weder Deutsch, noch Englisch oder Gebärdensprache. Und dennoch blühte er in diesen fünf Tagen richtig auf. Er wollte gar nicht mehr nach Hause. (lacht)
SPOX: Die magische Kraft des Fußballs.
Ollert: Das kann man wohl sagen. Ähnliches habe ich auch in Malawi erlebt, wo ich als Markenbotschafter von Phonak ein Projekt der Stiftung Hear the World besucht habe. Die Kinder dort haben immer und überall Fußball gespielt. Sie knüllten Mülltüten zu einer Kugel, klebten sie zusammen und spielten damit barfuß Fußball. Sport kann generell als eine Art Therapie fungieren. Wenn ich in meiner Kindheit irgendwelche Probleme hatte, sei es in der Schule oder mit meinen Eltern, schnappte ich mir einen Ball und bolzte aufs Tor.
SPOX: Wurden einige dieser Probleme durch Ihr geringes Hörvermögen ausgelöst? Gerade für Jugendliche mit einer Behinderung gibt es ein gewisses Isolationsrisiko.
Ollert: Ich wuchs in meiner Umgebung als Exot auf, da ich das einzige Kind mit Hörgeräten war. Es ist allerdings wichtig, Kinder mit Behinderung nicht übersensibel oder bevorzugt zu behandeln. Meine Eltern warfen mich immer wieder ins kalte Wasser. Wenn ich in der Schule geärgert wurde, sagte mein Vater nur: "Dann ärger' doch zurück. Ich kann da nichts machen." Genau damit hat er mir sehr geholfen. Inklusion beginnt mit dem schonungslos offenen Umgang zwischen Menschen ohne und Menschen mit Behinderung. Beide Welten verstecken sich leider ein bisschen voreinander.
SPOX: Welche einfachen Änderungen würden Ihrer Meinung nach zu einem höheren Maß an Inklusion beitragen?
Ollert: Man könnte beispielsweise im Kino Untertitel einführen - mit einer Art 3D-Brille für Untertitel. Genauso sollte man an Bahnhöfen die Durchsagen auch lesen können. An öffentlichen Orten würde das auch die Mitmenschen etwas mehr für dieses Thema sensibilisieren.
SPOX: Nicht einmal alle TV-Sender bieten Untertitel an.
Ollert: Das stimmt. In Österreich ist es zum Beispiel gesetzlich vorgeschrieben. Ich bin der Meinung, dass viele Bemühungen um Inklusion eher alibimäßig sind, um die Leute zufriedenzustellen. Im Grunde passiert aber nichts. Dabei wäre es so einfach. Zum Teil fehlt einfach nur eine Unterschrift. Das ist sehr schade. Und das trifft auch auf die Sportpolitik zu.
SPOX: 2016 bekamen die deutschen Paralympics-Athleten zum zweiten Mal dieselben Prämien für eine Goldmedaille wie ihre olympischen Kollegen. Ein scheinheiliger Akt?
Ollert: Ich sehe das schon so. Ich finde, es wird darunter viel zu wenig gemacht. Im Gehörlosenfußball gibt es beispielsweise keine Jugendmannschaften, weil einfach nicht genug Geld zur Verfügung gestellt wird. Die Kinder müssen entweder im Erwachsenenbereich mitspielen oder bei anderen Vereinen unterkommen. Das ist sehr schwer für sie. Viele Vereine verstecken sich vor dieser Herausforderung. Mir kam zum ersten Mal der Gedanke zu meinem eigenen Fußball-Camp, als mir ein Vater erzählte, dass er seinen tauben Sohn bei einem Verein anmelden wollte. Und der antwortete dann, es sei schwierig, da der Verein nur via Telefon korrespondieren würde und nicht per E-Mail- oder Textverkehr. So etwas ist dann natürlich besonders traurig.