In Ihrer langen Laufbahn gab es neben diesen Highlights auch einige mehr oder wenige bekannte Episoden wie das DFB-Pokal-Viertelfinale 1997 zwischen Alemannia Aachen und SV Waldhof Mannheim. Damals sorgte ein Elfmeter für großen Gesprächsstoff.
Merk: Wenn man diese Szene hätte nachstellen wollen, es wäre nicht gelungen... Ich gab Elfmeter für die Alemannia. Zuvor flog ein Ball in den Waldhof-Block und kam nicht mehr zurück. Der Torwart hielt den Elfmeter, ließ ihn abprallen und in genau diesem Augenblick flog der andere Ball zurück auf dem Platz. Den Wurf über den Fangzaun kannst du eigentlich gar nicht so genau berechnen, die Fans wollten wahrscheinlich schon vorher den Schützen bei der Ausführung stören. Der Nachschuss wurde dann verwandelt und zwar unhaltbar für den Torhüter. Ich musste aber Schiedsrichterball geben - ohne Diskussion. Gerecht war vielleicht etwas anderes, aber es war regelkonform. Die Emotionen kochten zwar hoch, aber am Ende war jeder vernünftig. Im Elfmeterschießen hat Mario Krohm, der Schütze des angesprochenen Elfmeters, übrigens erneut verschossen und Mannheim gewonnen.
Legendär war natürlich das Saisonfinale 2001, als Schalke 04 für vier Minuten Deutscher Meister war und Sie in Hamburg einen indirekten Freistoß gaben, mit dem Patrik Andersson den FC Bayern in der Nachspielzeit zum Titel schoss. Wie blicken Sie heute darauf zurück?
Merk: Die Bilder der weinenden Schalker Fans gehen mir bis heute nahe. Wenn du aber etwas selbst in der Hand hast und es verspielst, darfst du niemandem die Schuld geben. Schalke hatte ja am 33. Spieltag in Stuttgart verloren und die Bayern gleichzeitig in der 90. Minute gegen Kaiserslautern gewonnen. In dieser Saison haben die Bayern mit mir in Cottbus und Rostock verloren, ich habe sogar Oliver Kahn vom Platz gestellt. Schalke hat mit mir in Dortmund und kurz vor Saisonende in Leverkusen gewonnen. Danach kam Rudi Assauer zu mir und sagte, ich sei ja ein richtiger Glücksbringer für Schalke.
S04 Meister der Herzen: "Nicht dafür da, die Regeln zu beugen"
Der indirekte Freistoß innerhalb des Strafraums hatte seinen Ursprung in einem Rückpass, den HSV-Keeper Mathias Schober aufnahm. Eine solche Entscheidung kommt nicht häufig vor...
Merk: Ich habe das in meinem Leben zweimal so entschieden: 1992 in Barcelona, zu diesem Turnier ist die Regel eingeführt worden, und neun Jahre später im Volksparkstadion. Ich würde immer wieder so entscheiden, auch wenn man das nicht will. Ich bin aber nicht dafür da, die Regeln zu beugen.
Sie haben danach nie wieder ein Schalke-Spiel gepfiffen.
Merk: Das war meine persönliche Entscheidung, es gab keinen Druck von oben. Wenn ich bereits vor dem Anpfiff im Mittelpunkt des Spiels gestanden hätte, wäre das nicht förderlich gewesen. Mit vielen Schalkern bin ich über die Jahre wieder zusammengekommen. Sie waren nicht glücklich darüber, aber das Thema war dann auch erledigt.
Kann es in solch einer auch dramatischen Situation nicht passieren, dass die gesamten Begleitumstände eine Entscheidung beeinflussen?
Merk: Wenn ich so gedacht hätte, wäre ich nicht berechenbar und über Jahre so leistungsfähig gewesen. Das würde sich dann auch auf andere Situationen auswirken. Nach dem Motto: Der erste Elfmeter war fragwürdig, jetzt gebe ich den anderen auch einen.
Zehn Jahre zuvor pfiffen Sie das DFB-Pokal-Halbfinale zwischen Köln und Duisburg, als es zum berühmten Spruch "Macht et, Otze" kam.
Merk: Frank Ordenewitz hatte bereits Gelb gesehen und wäre im Endspiel gesperrt gewesen. Eine Rote Karte hingegen hätte nur eine Sperre für die Liga zur Folge gehabt. Dies teilte Ordenewitz während des Spiels seinem Trainer Erich Rutemöller mit. Der meinte dann nur: "Mach et, Otze." Also hat der Ordenewitz den Ball in einer belanglosen Situation einfach weggehauen. Ich wusste genau, was er vorhatte, aber dennoch stand es nicht zur Debatte, ihn auf dem Platz zu lassen. Nach dem Platzverweis hat er sich bei mir sogar bedankt, wurde jedoch nachträglich vom DFB fürs Finale gesperrt.
Ein extrem tragisches Erlebnis mussten Sie beim Confederations Cup 2003 verarbeiten, als der Kameruner Spieler Marc-Vivien Foe im Halbfinale gegen Kolumbien nach 73 Minuten tot zusammenbrach. Wie sind Sie damit umgegangen?
Merk: Ich habe lange nicht darüber gesprochen. Das war der Tiefpunkt meiner Laufbahn, das wünsche ich niemandem. Es war ein furchtbar heißer Sommer in Lyon mit über 40 Grad. Ich sah, wie er hinfiel und war auch der Erste, der bei ihm war. Dann kamen die Betreuer, haben ihn behandelt und direkt zum Krankenwagen getragen. Mein erster Gedanke war: Der lebt nicht mehr! Es blieb aber bei den Beteiligten und auf den Zuschauerrängen sehr ruhig - bis zum Abpfiff.
Was geschah dann?
Merk: Im Spielertunnel bekamen wir erste Informationen. Diese Minuten - ich war auch noch in der Kabine von Kamerun - waren grausam. Am Tag danach wäre ich am liebsten abgereist. Immer wenn in den anschließenden Monaten auf dem Platz irgendwas passiert ist, ein harter Zweikampf, ein Spieler am Boden, bin ich zusammengezuckt. Meine Gelassenheit war wie weggeblasen. Eine solche Situation, dass ein junger und fitter Spieler auf dem Rasen tot umfällt, ist nur schwer zu verkraften. Da sieht man, wie unwichtig und klein es ist, ob der Ball hinter der Linie ist oder nicht.
Merk & Kahn beenden Karriere: "Hoch bewegende Augenblicke"
Drei Jahre später leiteten Sie bei der Heim-WM in Deutschland drei Spiele. Eine großes Partie oder eine Partie auf dem Betzenberg war aber nicht dabei. Wieso?
Merk: Ab 2003 kam es innerhalb der FIFA zu einem Strukturwandel. Sportpolitisch waren es für nahezu alle europäischen Schiedsrichter drei ganz komplizierte Jahre bis zur WM. Jeder wusste, dass es mein Traum war, daheim zu pfeifen. Wer hat diese Möglichkeit schon? Doch bereits ein halbes Jahr vorher war klar, dass es gerade deshalb nicht passieren wird. Dabei hätte es sich aufgrund der Gruppenkonstellation mit Spielen wie Japan gegen Australien oder Paraguay gegen Trinidad & Tobago absolut angeboten.
Eröffnungsspiel, die Halbfinals, das Spiel um Platz drei, das Endspiel - kein einziger europäischer Schiedsrichter durfte 2006 eines dieser Spiele leiten. Weshalb war das so?
Merk: Und das waren Schiedsrichter, die in der Champions League Woche für Woche mit den besten Spielern der Welt zu tun hatten. So schlecht konnten die also gar nicht sein. Jeder dachte, dass ich der WM entgegenfiebere, aber ich wusste schon 2003, dass das nichts wird. Man ist eine Figur der Sportpolitik. Einen Tag vor dem Finale bin ich abgereist und habe gesagt: Ich mache das nicht mehr mit. Während ganz Deutschland feierte, saß ich zuhause.
Zwei Jahre später leiteten Sie 2008 Ihr letztes Bundesligaspiel. Auch Oliver Kahn beendete damals seine Karriere. Mit ihm tauschten Sie nach der Partie das Trikot. War das spontan?
Merk: Ja. Kurioserweise waren es auch bei ihm genau 20 Jahre, seine erste Saison war meine erste Saison. Eine solch große Wertschätzung erfährt man nicht immer. Das waren hoch bewegende Augenblicke, zumal ja auch Ottmar Hitzfeld verabschiedet wurde.
Sie hatten beschlossen, ein Jahr vor Erreichen der Altersgrenze aufzuhören. Warum?
Merk: Man bot mir an, die Grenze für mich aufzuheben, aber das wollte ich nicht. Alle wussten, dass ich nicht ins letzte Jahr gehen wollte. Ein Jahr vorher machte ich international Schluss, da wurde ich auch noch einmal Weltschiedsrichter. Ich wollte eine selbstbestimmte Entscheidung auf dem Höhepunkt treffen und keine Abschiedstour haben, wo ich dann auf jeder Station die gleichen Sprüche zu hören bekomme.