Hecking: "Ich habe Prügel bezogen"

Stefan Moser
23. Juli 200921:30
Dieter Hecking ist seit September 2006 Trainer bei Hannover 96Imago
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Mit Hannover 96 erlebte Dieter Hecking in der abgelaufenen Saison das schwierigste Jahr in seiner noch jungen Bundesliga-Karriere als Trainer. Gerade nach der Trennung von Sportdirektor Christian Hochstätter im Januar 2009 wurde der 44-Jährige in der Doppelfunktion als Trainer und Manager zur alleinigen Zielscheibe der teilweise massiven Kritik.

Zu viele Gegentore, die eklatante Auswärtsschwäche und einige Querelen abseits des Platzes machten Hecking zum Sündebock für Medien und Fans. Dass Hannover dabei die Rückrunde als achtbestes Team abschloss, wurde dabei zur Nebensache.

Im Interview mit SPOX erzählt Hecking über die Narben aus der letzten Saison, die Probleme mit der Doppelfunktion als Trainer und Sportdirektor und seine neue Herangehensweise an die kommende Spielzeit. Außerdem spricht er über die Kritik von Jupp Heynckes an der jungen Trainergarde, die Wechselgerüchte um Robert Enke und den Abschied von Michael Tarnat.

SPOX: Herr Hecking, Jupp Heynckes hat am Wochenende die jungen Trainer kritisiert: Sie seien gute Verkäufer, denen es aber oft am nötigen Know-How mangelt. Sie sind ein junger Trainer...

Dieter Hecking: Stimmt, aber ich kann die Kritik meines alten Trainers Jupp Heynckes verstehen. Wir jungen Trainer müssen aufpassen, nicht das Gefühl zu vermitteln, wir hätten die Weisheit und den Fußball neu erfunden. Ich sehe mich selbst noch als Trainer, der lernen muss. Man braucht in der Bundesliga viel Erfahrung, um auf bestimmte Situationen richtig zu reagieren.

SPOX: Mit Heynckes' Worten: Man kann nicht am offenen Herzen operieren, wenn man vorher noch nie im OP war.

Hecking: Da gebe ich ihm Recht. Natürlich hat jeder seine eigene Philosophie und eigene Ideen. Und jeder, der in der Bundesliga arbeiten will, muss auch von seiner Linie überzeugt sein. Doch am Ende zählt für einen Trainer, dass er eine stimmige Mannschaft auf den Platz bringt, die die Ziele des Vereins erreicht.

SPOX: Dann gehören Sie gar nicht in die Reihe der "modernen" Trainer?

Hecking: Ich würde sagen: Jein. Ich sehe mich selbst als Fußballlehrer, der sich entsprechend zu 80 bis 85 Prozent um das kümmert, was unmittelbar auf dem Platz passiert. Trotzdem suchen wir darüber hinaus aber auch immer nach neuen Möglichkeiten und Methoden abseits des Platzes.

SPOX: Wie zum Beispiel die Arbeit mit Peter Boltersdorf, einem Motivationscoach, mit dem Sie schon in Aachen zusammengearbeitet haben.

Hecking: Darüber haben wir schon im Winter nachgedacht, aber damals haben wir beschlossen, noch zu warten. Und jetzt hat der Zeitpunkt gepasst.

SPOX: Boltersdorf erstellt anhand eines Fragebogens Profile der Spieler, in denen ihre individuellen Antriebe und Lebensmotive analysiert werden. Was erhoffen Sie sich davon?

Hecking: Er hat unter anderem mit Jürgen Klopp, der Handball-Nationalmannschaft oder dem Gewichtheber Matthias Steiner schon erfolgreich zusammengearbeitet. Es geht darum, gruppendynamische Prozesse innerhalb der Mannschaft besser zu begreifen. Darüber hinaus sieht man bestimmte Motivationsstrukturen von Spielern, die man anders vielleicht nicht erkennt. Aufgrund seiner Analyse ergeben sich dann im Optimalfall neue Ansätze für die persönliche Ansprache an die einzelnen Spieler.

SPOX: Für die Analyse werden unter anderem auch sehr persönliche Fragen gestellt. Plakative Beispiele: Welche Rolle spielt Sex im Leben des Einzelnen, wie wichtig sind Statussymbole, welche Rolle spielt das Essen, usw. Wie haben die Spieler darauf reagiert?

Hecking: Wir wollten keinen Druck ausüben und haben das Ganze auf freiwillige Basis gestellt. Aber die Gruppe hat sich geschlossen dafür entschieden, den Test zu machen. Die Mannschaft hat verstanden, worum es letztendlich geht. Die Resonanz war sehr gut.

SPOX: Haben Sie selbst schon die Fragen beantwortet?

Hecking: Ich habe mir schon in Aachen ein Profil erstellen lassen.

SPOX: Mit welchem Ergebnis: Was für ein Motivationstyp sind Sie, was treibt Sie an? Oder ist das zu privat?

Hecking: Naja, wenn Sie ein Beispiel wollen: Mir ist Essen als Lebensmotiv etwa ziemlich gleichgültig. Andere brauchen vielleicht eine Rose am Tisch und wollen das zelebrieren - ich will nur satt werden. Aber die wichtigste Erkenntnis war, dass ich mich in 13 von 16 Lebensmotiven, die Boltersdorf erarbeitet hat, auch tatsächlich wiedererkannt habe - also konnte es für mich kein Hokuspokus sein.

SPOX: Ist eine Analyse der Gruppendynamik auch eine Reaktion auf die letzte Saison, als das Teamgebilde nicht stabil war?

Hecking: Das ist einer der Ansätze. Das Fehlen einer klaren Hierarchie lag allerdings auch daran, dass wir fast über die komplette Saison immer sechs bis neun verletzte Stammspieler hatten. So kann sich kein stabiles Gesamtgefüge entwickeln. Dadurch ist vieles ins Wanken geraten.

SPOX: Trotzdem hatten einige Spieler aber auch Probleme mit dem für Hannover ungewohnt hohen Konkurrenzdruck im Kader.

Hecking: Entsprechende Äußerungen der Spieler muss man tatsächlich hinterfragen. Und auch die Spieler selbst müssen sich hinterfragen. Sie können ja nicht erwarten, dass sie ihren Platz geschenkt bekommen. Das war für manche Spieler vielleicht neu, aber sie müssen den Konkurrenzkampf annehmen, wenn sie nach vorne kommen wollen. Wir haben den Konkurrenzdruck ja bewusst erhöht. Ich als Trainer will einen starken Kader, um auf Ausfälle reagieren zu können. Und auch der Verein will sich weiterentwickeln.

SPOX: In diesem Sommer wurde der Kader allerdings eher ausgedünnt, mit Karim Haggui, Valdet Rama und Constant Djakpa sind nur drei Spieler dazugekommen. Wird auf dem Transfermarkt noch was passieren?

Hecking: Stand heute: Eher Nein. Mit unseren Neuzugängen sind wir bisher zufrieden und auch unsere vermeintliche Problemzone auf der rechten Abwehrseite können wir intern lösen. Steven Cherundulo ist nach fünf Monaten Verletzungspause wieder zurück und als Backup machte der junge Manuel Schmiedebacher bislang einen sehr guten Eindruck. Nur bei Jan Schlaudraff müssen wir sehen, wie sich seine Verletzung entwickelt und gegebenenfalls im Sturm noch mal nachbessern.

SPOX: Wie ist der Stand bei Schlaudraff? Bei ihm wurde sogar schon über eine mögliche Sportinvalidität spekuliert.

Hecking: Darüber mache ich mir keine Gedanken. Er lässt sich zurzeit bei Dr. Müller-Wohlfahrt in München behandeln. Es wurde bestätigt, dass wir mit der Behandlung auf dem richtigen Weg waren.

SPOX: Ansonsten bleibt der Kader also im Kern erhalten - auch die Gerüchte um Robert Enke scheinen vom Tisch...

Hecking: Ich gehe davon aus, dass Robert Enke bleibt. Es gab auch gar keine Anfrage für ihn. Auch intern sind wir ständig im Austausch und er hat nie gesagt: 'Passt auf, jetzt könnte was passieren'. So sind wir auch verblieben. Sollte noch etwas kommen, würde er uns informieren, immerhin müssen wir auch planen. Bisher war das nicht der Fall, es gab ausschließlich Spekulationen.

SPOX: Haben Sie wegen Enke mal mit Jogi Löw oder Andi Köpke über seine WM-Chancen gesprochen, wenn er in Hannover bleibt und nicht international spielt?

Hecking: Ich habe im Frühjahr mit Jogi Löw telefoniert: Es wurde uns deutlich mitgeteilt, dass das für die Nationalmannschaft keine Rolle spielt. Der Torwart-Typ, den Enke verkörpert, kommt beim DFB gut an. Ich bin mir zu 100 Prozent sicher, dass er mit zur WM geht. Mit seiner Konstanz und seinen guten Leistungen im DFB-Team ist er auch auf einem guten Weg, dort die Nummer eins zu sein. Mich würde das natürlich freuen.

SPOX: Enke selbst wünscht sich, wenn er in Hannover bleibt, mindestens 20 Gegentore weniger. Tatsächlich waren die 69 aus der letzten Saison auch zu viel.

Hecking: Enke selbst hat ja nur 47 Stück kassiert. 20 weniger macht 27 - mit so einer Abwehr kann man Deutscher Meister werden (lacht). Aber im Ernst: Natürlich müssen wir als Mannschaft im Defensivverbund zulegen. Es waren ein paar Spiele dabei, in denen wir zu viele Gegentore gefressen haben, was auf Dauer auch auf Kosten des Selbstvertrauens geht. Nun versuchen wir, das durch eine etwas kompaktere Spielweise zu kompensieren.

SPOX: Eine Maßnahme ist dabei die Umstellung auf ein 4-4-2 mit Raute. Damit steht im Vergleich zum 4-2-3-1 aus der letzten Saison nominell ein Sechser weniger auf dem Feld. Warum erwarten Sie sich davon trotzdem mehr Stabilität?

Hecking: Man kann mit einer Raute das Zentrum vielleicht sogar noch mehr verdichten. Wenn wir die defensiven Laufwege einhalten, können wir den Gegner noch stärker auf die Außenpositionen zwingen, um dort dann ins Pressing zu gehen. So hält man den Gegner weiter vom Tor weg. Das ist das Ziel.

SPOX: Und warum keine flache Vier im Mittelfeld?

Hecking: Durch eine zentrale Anspielstation hinter den Spitzen können wir nach Balleroberung sofort wieder den Spielmacher einbinden. Ein zusätzlicher Vorteil ist, dass einerseits die Halbfeldspieler in der Defensive mit ins Zentrum einrücken und zusammen mit dem Sechser ein Bollwerk bilden können. Dadurch stehen wir kompakter. Beim Umschalten nach vorne haben wir dann aber zugleich fünf Offensive auf dem Platz statt vier.

SPOX: Die Fans forderten am Ende der abgelaufenen Saison in Sprechchören das 4-4-2. Haben Sie keine Angst, dass Ihnen die Umstellung nun als Schwäche ausgelegt wird?

Hecking: Als die Sprechchöre damals kamen, haben wir schon im 4-4-2 gespielt. Insgesamt hat die Umstellung aber damit auch nichts zu tun. Vielmehr war es so, dass unsere Argumente für die Doppel-Sechs im 4-2-3-1 einfach durch die 69 Gegentore zunichte gemacht wurden. Also mussten wir etwas Neues probieren. Insofern glaube ich nicht, dass mir das als Schwäche ausgelegt wird.

SPOX: Das Verhältnis zu den Fans war insgesamt ziemlich belastet. Zum ersten Mal in Ihrer Karriere gab es "Hecking raus"-Rufe.

Hecking: Für mich war es in der Tat das erste Mal, dass ich derart unter Druck stand. Am Saisonende hatte sich einiges hochgeschaukelt, das war eine Erfahrung, die ich so noch nicht gemacht hatte. Aber für mich war diese Erfahrung enorm wichtig. Ich habe in dieser Phase auch einige Fehler gemacht - und die kann ich nun versuchen abzustellen.

SPOX: Sie sagen, Sie hätten sich einige blaue Flecken geholt - welcher tut am meisten weh.

Hecking: Geärgert hat mich vor allem, dass die sportliche Leistung plötzlich keine Rolle mehr spielte. Wir waren immerhin die achtbeste Rückrunden-Mannschaft - trotz der schwierigen Umstände. Doch das wurde nicht wahrgenommen.

SPOX: Mussten Sie aufgrund der Doppelbelastung nach der Trennung von Sportdirektor Christian Hochstätter Kompromisse eingehen?

Hecking: Im Nachhinein waren es zu viele, für die ich dann ja auch die Prügel bezogen habe. Das sind im Wesentlichen die Dinge, die man hätte vermeiden können. Jetzt mit Jörg Schmadtke an meiner Seite sind wir da auch wieder besser aufgestellt, so dass ich mich wirklich nur noch auf die Trainerarbeit konzentrieren kann.

SPOX: Betrachten Sie die Geschehnisse um den Abschied von Michael Tarnat auch in diesem Kontext?

Hecking: Die Verabschiedung von Michael Tarnat ist sicher mehr als unglücklich gelaufen, da gibt es überhaupt keine zwei Meinungen. Von der sportlichen Seite her gibt es keine Diskussion: Die Entscheidung ist richtig, den Vertrag nicht zu verlängern. Aber die Art und Weise, wie wir das gehandhabt haben, war dem Spieler gegenüber nicht in Ordnung. Das muss man in der Nachbetrachtung deutlich so sagen. Da hätten wir dem Michael einfach früher das endgültige Zeichen geben müssen, dass es nicht weiter geht.

SPOX: Warum haben Sie es nicht getan?

Hecking: Auch da haben wir gedacht: 'Mensch, wir sind immer noch im Abstiegskampf, wir warten noch, bis wir durch sind, um auch die nötige Ruhe zu haben.' Trotzdem würde ich im Nachhinein sagen, dass hätten wir anders lösen sollen.

SPOX: Im Testspiel gegen Arsenal soll Tarnat jetzt doch noch seinen Abschied bekommen. Was ist da geplant?

Hecking: Nachdem Michael beim Wolfsburg-Spiel nicht verabschiedet wurde, mussten wir uns viel Kritik anhören. Von daher wollen wir ihm nun den Rahmen bieten, den er auch verdient hat. Ich hoffe, er spürt dann, dass uns sein Abschied nicht so egal war, wie das vielleicht im ersten Moment rübergekommen ist. Wie das ablaufen wird, müssen wir mit ihm erst noch genauer besprechen.

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