Im Interview mit SPOX spricht der Bremer Innenverteidiger über die Abschaffung des Liberos, die Anforderungen an den modernen Abwehrspieler und das Abflauen der Euphorie um die deutsche Nationalmannschaft.
SPOX: Herr Mertesacker, Diskussionen um Taktik und Spielsysteme sind derzeit ziemlich schick. Selbst um kleinste Veränderungen ist teilweise ein regelrechter Hype entstanden. Wie sehen Sie Ihr Spiel als Innenverteidiger? Haben sich die Anforderungen verändert?
Per Mertesacker: Vor sieben, acht Jahren gab es die Revolution weg vom Libero und hin zur Viererkette. Ich habe damals noch in der Jugend gespielt und muss im Nachhinein sagen, dass das für mich der Durchbruch war. Die Viererkette hat mir am meisten gelegen, nur dort konnte ich den großen Sprung nach vorne machen. Davor bin ich nicht mal beachtet worden. So habe ich dann doch den Sprung in die Bundesliga und in die Nationalmannschaft geschafft.
SPOX: Worauf kommt es heute besonders an?
Mertesacker: Früher war ich Libero, da konnte ich mein Auge schulen und die richtige Antizipation lernen, um Löcher zuzulaufen und Übersicht zu gewinnen. All das kommt mir heute zugute. In der Viererkette, so wie wir sie spielen, sind das ganz entscheidende Faktoren. Wir verteidigen nicht als Einzelner auf den Gegner fixiert, sondern als Gemeinschaft im Raum zum Ball.
SPOX: Reicht dafür das vielzitierte Spielverständnis, die fußballspezifische Intelligenz - oder benötigt man doch mehr?
Mertesacker: Viele Manndecker früherer Schule konnten locker zum Innenverteidiger umgeschult werden. Das setzt auf jeden Fall ein gutes Maß an Spielintelligenz voraus: Wann rücke ich raus, wann greife ich wie an, wann gehe ich zum Kopfball hoch, wie sichere ich meinen Partner ab. Eine Situation richtig zu bewerten und dann die Aktion zum richtigen Zeitpunkt zu starten, setzt durchaus Intelligenz voraus. Und natürlich Erfahrung. Beide Dinge kann man sich antrainieren.
SPOX: Dazu muss man allerdings auch wissen, wer der Partner an seiner Seite ist. In der Nationalmannschaft ist das im Moment nicht klar.
Mertesacker: Jeder Innenverteidiger hat ganz klare Vorgaben, die er zu erfüllen hat. Insofern ist das zunächst nicht das Problem.
SPOX: Aber das Zusammenspiel steht und fällt mit der Abstimmung aufeinander.
Mertesacker: Jeder, der die Position auch im Verein spielt, kennt die Abstimmung. Dafür gibt es universelle Kommandos, die in jedem Verein dieselben sind. Außerdem haben viele Stürmer oft die gleichen Laufwege, wenn sie zum Beispiel durch die beiden Innenverteidiger durchlaufen. Aber diese Woche, die wir jetzt hier zusammen sind, tut uns trotzdem sehr gut. Nur dann kann man die Automatismen üben: Als Kette geschlossen rausrücken oder ein Innenverteidiger rückt alleine raus und der andere sichert ab.
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SPOX: Zuletzt hat das nicht immer so gut funktioniert.
Mertesacker: Die Abstimmung der gesamten Mannschaft war nicht okay. Wir haben gegen Aserbaidschan erkannt, dass das nicht gut war und uns auch selbstkritisch vor Augen geführt, dass uns jeder Gegner aushebeln kann. Aber um das zu verbessern, sind wir hier.
SPOX: Macht man sich als Verteidiger von bestimmten Stürmer eine Art Lauf- und Schussbild, so wie ein Handballtorhüter die Würfe seiner Gegner studiert?
Mertesacker: Ich schaue mir vor meinen Spielen durchaus meine Gegenspieler auch im Fernsehen bewusst an und merke mir, wie sie welche Bewegungen machen. Aber das ist nur ein Punkt. Wichtiger ist, wie ich mich verhalte und welche Optionen ich ihm anbiete, die er nutzen kann.
SPOX: Verleiten zur Falschhandlung?
Mertesacker: Manchmal. Bei einigen Spielern muss man Aktionen eindämmen, bei anderen kennt man die Abläufe und Aktionen schon sehr gut.
SPOX: Ist die Rotation auf der Torhüterposition für Sie und Ihr Spiel störend?
Mertesacker: Wir haben zur Zeit sehr gute Torhüter, die man gerne hinter sich hat. Ich habe mit Rene Adler und Robert Enke schon in der Nationalmannschaft zusammengespielt, Tim Wiese sehe ich jeden Tag im Training. Die Erfahrungswerte stimmen und entscheidend ist für mich, dass ich bei dem, der hinter mir steht, ein gutes Gefühl habe. Jeder dirigiert von hinten heraus, da gibt es kaum Unterschiede. Insofern ist derzeit die Torhüter-Rotation für mich okay.
SPOX: Es beruht also alles auf einer gewissen Basis, die immer da ist. Egal wie die Person, das System oder der Gegner heißt?
Mertesacker: Seit ich dabei bin, sind die Aufgaben klar verteilt und immer wieder abzurufen. Nur dafür müssen sie auch immer wieder neu herausgefordert werden. In jedem Spiel: Lang und breit stehen und mit dem vertikalen Pass nach vorne eine schnelle Spieleröffnung haben. Das ist das Basispaket. Nur wollen unsere Gegner das verhindern, also müssen wir es immer wieder leicht modifizieren und anpassen.
SPOX: Wie sehen Sie die Entwicklung der Mannschaft seit dem EM-Finale 2008?
Mertesacker: Wir haben viele Punkte geholt, das ist positiv. Aber im Bezug darauf, wie wir uns spielerisch präsentieren wollen, ist im Moment etwas der Zug raus. Da wollen wir uns eigentlich in einem anderen Licht präsentieren. Wir wollen eine Mannschaft sein, die ganz schwer zu besiegen ist. Nur dafür müssen wir noch einiges zulegen. Wir dürfen nicht nur als Turniermannschaft gefürchtet sein. Wir müssen unsere Art und Weise auch in anderen Länderspielen wieder überzeugender rüberbringen.
SPOX: Angeblich ist die Euphorie um die Mannschaft verflogen. Ist es eine unfaire Diskussion? Immerhin gewinnt Deutschland immer noch ziemlich oft.
Mertesacker: Die Euphorie steht und fällt mit der Leistung, die die Mannschaft bringt. Wir sind relativ erfolgreich, das stimmt. Aber jetzt geht es gegen nicht ganz so hochkarätige Gegner und da ist es schwer, die Euphorie auf einem hohen Level zu halten. Das Ballungszentrum sind große Turniere oder einzelne Highlights, die gesetzt werden.
SPOX: Der Bundestrainer ist sehr erleichtert, dass er die Mannschaft endlich wieder über einen längeren Zeitraum beisammen hat. Sie auch?
Mertesacker: Definitiv. Die Abstimmung in den Einzelteilen und dann später im Gesamtbild ist viel intensiver möglich.
SPOX: Täuscht der Eindruck, dass es manchmal zu harmonisch innerhalb des Teams zugeht?
Mertesacker: Die Atmosphäre ist sehr gut. Aber hier herrscht nicht Friede, Freude, Eierkuchen. Es kommen immer wieder neue Spieler nach, die den Druck auf die anderen erhöhen. Wir wollen nichts beschönigen, sondern haben trotz der reibungslosen Atmosphäre jeden Tag harten Konkurrenzkampf.
SPOX: Wie viel Russland ist vor den beiden Spielen gegen Südafrika und Aserbaidschan schon in den Köpfen?
Mertesacker: Bei mir noch gar nichts. Für mich ist das noch sehr weit weg und ich habe das Gefühl, dass es bei meinen Mitspielern genauso ist. Dafür ist die Partie in Aserbaidschan noch zu sehr in den Köpfen. Jeder weiß, worauf es ankommt. Denn womöglich ist das sogar das wichtigere Spiel. Wir wollen in der Qualifikation unseren erfolgreichen Weg weitergehen. Und dann in Russland an unseren Auftritt vom Hinspiel anknüpfen.
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