SPOX: Bereits unzählige Talente vor und nach Ihnen wurden von Frankfurt nicht angemessen gefördert. Sind Sie nachtragend?
Kirchhoff: Es tat sehr weh, dass einen der Heimatverein einfach so abgibt. Dennoch will ich den Verein nicht verdammen. So was passiert im Fußball häufig genug, auch Lewis Holtby wurde in der Jugend von Mönchengladbach weggeschickt und ist jetzt Nationalspieler. Daher sehe ich es selbst nicht als Schande an, aussortiert worden zu sein. Ich freue mich eher über den glücklichen Zufall, dass ich zur A-Jugend nach Mainz wechseln konnte.
SPOX: Dort gewannen Sie gemeinsam mit Tuchel gleich die deutsche A-Jugend-Meisterschaft - mit einem Finalerfolg über Dortmund, das Mario Götze in den Reihen hatte.
Kirchhoff: Unsere Stärken waren der riesige Zusammenhalt und die einzigartige Stimmung in der Mannschaft. Andre Schürrle gehörte zu den Stützen, auf der Sechs übernahm Konstantin Fring eine herausragende Rolle. Andere Jungs hatten wiederum unglaubliche Hochphasen wie Velibor Velemir oder Christoph Sauter, der später zu Nürnberg ging und jetzt in Aalen spielt.
SPOX: Nach dem Triumph fielen Sie jedoch in ein Loch. Erst die einjährige Pause, dann enttäuschten Sie bei Ihrem Comeback in der zweiten Mannschaft des FSV.
Kirchhoff: Es stimmt, ich habe wirklich schlecht gespielt. Ich bin immer ins Spiel mit dem Gedanken gegangen: "Ich muss etwas Besonderes machen, ich muss der Beste sein, ich muss herausstechen!" Das war eine Form des überhöhten Selbstanspruchs, die gleichzeitig dazu führte, elementare Tugenden des Fußballs zu vernachlässigen. Ich vergaß, dass man auch in der Regionalliga mit Einsatz und Intensität vorangehen muss, stattdessen habe ich alles zu locker genommen. Dafür habe ich die Quittung kassiert.
SPOX: Haben Sie eine Erklärung für Ihr Verhalten?
Kirchhoff: Ich war aus der Jugend gewohnt, mich aufgrund meiner fußballerischen Anlagen durchsetzen zu können. Deswegen musste ich lernen, dass im Profibereich, auch bei der zweiten Mannschaft, Verbissenheit und die Bereitschaft zur hundertprozentigen Arbeit die wichtigsten Eigenschaften sind. Mittlerweile versuche ich in jedem Spiel Aggressivität vorzuleben: Der Gegner soll auch durch meine Präsenz Respekt bekommen. Es ist ein Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist.
SPOX: Sie hatten in der Jugend eine eher brave Frisur, jetzt setzen Sie auf einen markanten Haarschnitt und Dreitagebart. Zufall - oder wollen Sie auch optisch Kanten zeigen?
Kirchhoff: Es war keine bewusste Entscheidung, es ist mehr ein Zeichen meiner grundsätzlichen Entwicklung als Mensch. Drei Jahre klingen für ältere Menschen nicht lang, mir hingegen kommen diese drei Jahre, seit ich die neue Frisur habe, vor wie ein halbes Leben. Mit 18 war ich noch ein halbes Kind, mit 21 bin ich auf dem Weg zu einem Erwachsenen.
SPOX: Wie zogen Sie sich aus dem Tief im Vorjahr?
Kirchhoff: Es ging eher schleichend vonstatten. Familie, Freunde, mein Berater Roger Wittmann: Ich habe mich fast jede Woche einmal mit engen Vertrauten zusammengesetzt und mir den festen Vorsatz formuliert, dass ich in jede Trainingseinheit mit vollem Einsatz gehen muss. Ich konnte es nicht sofort umsetzen und ich war nicht unbedingt leicht im Umgang, aber nach drei, vier Monaten wurde es immer besser.
SPOX: Wie wichtig war Tuchel bei Ihrer Entwicklung?
Kirchhoff: Mir war es vor allem wichtig, dass er mir häufig ins Gesicht gesagt hat, woran es noch hapert. Dass meine Leistungen in der U 23, egal ob im Training oder im Spiel, nicht gut genug waren. Er hat mir den Spiegel vorgehalten.
SPOX: Hat sich Tuchel seit der A-Jugend-Meisterschaft 2009 verändert?
Kirchhoff: Die Öffentlichkeit will es nicht wahrhaben, doch er ist sogar ruhiger geworden. Vielleicht kommt der gegenteilige Eindruck auf, weil er wegen der hohen Lautstärke in den Stadien so rumbrüllen muss, um uns Anweisungen zu geben. In der A-Jugend waren so wenige Zuschauer, dass man ohnehin jeden Ruf gehört hat, in der Bundesliga kommt hingegen nur ein Drittel an.
SPOX: Es droht nicht die Gefahr, dass sich Tuchel wie viele junge Trainer vor ihm abnutzt?
Kirchhoff: Ganz im Gegenteil: Es gibt Trainertypen, die vor allem nur über die Motivationsschiene kommen und sich tatsächlich abnutzen. Thomas Tuchel kann ebenfalls emotionalisieren, bei ihm steckt aber mehr dahinter. Er bringt eine solche Kompetenz und inhaltliche Tiefe mit, dass er immer faszinierend bleibt und neue Impulse setzt. Er ist einfach ein toller Trainer.
Jan Kirchhoff im Steckbrief