Elf ungleich elf

Jerome Boateng wird den Münchnern wohl mindestens drei Monate fehlen
© getty

Die Verletzung von Jerome Boateng trifft den FC Bayern ins Mark und hinterlässt viele Fragezeichen. Wie sehr hängen die Saisonziele am Abwehrchef? Wie reagiert Pep Guardiola auf den Ausfall? Und: Kommt der legitime Ersatzmann aus dem Mittelfeld?

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Pep Guardiola war ruhig. Ein Stirnrunzeln hier, ein Achselzucken da. "Es ist keine gute Nachricht für uns", sagte der Spanier im Volksparkstadion, fast schon gleichgültig. "Wenn wir ihn für längere Zeit verlieren, werden wir trotzdem mit elf Mann spielen."

So richtig abnehmen wollte man dem Katalanen die betonte Lockerheit aber nicht. So war der geglückte Rückrundenauftakt gegen den HSV ob der Geschehnisse in Minute 56 recht schnell zur Randnotiz verkommen. Ohne gegnerische Einwirkung verletzte sich Abwehrchef Jerome Boateng und musste raus. Muskelverletzung im Adduktorenbereich, wie der Klub am Tag danach bestätigte.

Während der Verein selbst nur davon sprach, "vorerst" ohne den 27-Jährigen auskommen zu müssen, geistert eine Ausfallzeit von mindestens drei Monaten wegen eines Muskelbündelrisses durch die Medien. Sogar vom möglichen Saisonaus ist zu lesen. Was Guardiola dann doch die Sorgenfalten auf die Stirn treiben sollte. Denn bei aller Breite, Klasse und Versatilität seines Kaders: Die Rechnung elf Mann ist gleich elf Mann geht ohne Boateng nicht auf.

Die unangenehme Frage

Zu integral ist die Rolle Boatengs im Gesamtkonstrukt der bestmöglichen Bayern. Will man sich eine Hand voll Spieler aus dem Kader des FCB herauspicken, die tatsächlich unersetzbar sind - Boateng gehörte definitiv dazu.

Und das nicht nur wegen seiner Qualitäten in letzter Reihe. Als Ballverteiler in die Spitze hat Boateng eine ebenbürtige Rolle zu seinen Kollegen im Mittelfeld. "Es gibt die Verbindung Boateng-Müller, es gibt die Verbindung Boateng-Lewandowski", hatte Dortmunds Coach Thomas Tuchel nach der 1:5-Klatsche in der Allianz Arena gehadert, bei der die weiten Bälle Boatengs auf das Sturmduo zum Schlüssel wurden.

Auch ist es der Verteidiger, der mit seinen Seitenwechseln auf die Costas und Comans dieser Welt viele Bayern-Angriffe initiiert, das Spiel klug verlagert, den gedoppelten Außenstürmern elementare Sekunden der Freiheit verschafft. Seine Athletik und herausragendes Arbeiten in der Defensive machen Boateng zu einer Personalie, die es vielleicht nicht noch ein Mal auf der ganzen Welt, geschweige denn ein zweites Mal im Kader des FC Bayern gibt.

Jetzt muss man sich an der Säbener Straße die unangenehme Frage stellen: Wie ersetzt man solch einen Spieler dennoch?

Lösung mit Wiener Dialekt?

Dass die Münchner auf dem Transfermarkt nachlegen werden, ist unwahrscheinlich. Zum einen sind da die generellen Laster des Markts im Winter: Wen bekommt man überhaupt? Und zu welchen überteuerten Konditionen? Zumal die Münchner wohl keinen Verteidiger finden werden, der die nötige Klasse hat und in der Champions League noch spielberechtigt ist.

Das vorhandene Personal wird es richten müssen. Neben dem dauerverletzten Medhi Benatia, der nach einem Muskelbündelriss erst Anfang Februar zurückkehren wird, bleiben dem Rekordmeister zwei gelernte Innenverteidiger: Holger Badstuber, nach zwei Kreuzbandrissen und mehreren Muskelverletzungen wieder einmal dabei, Fuß zu fassen, und Javi Martinez, nach einem Jahr Pause und mehreren Wehwehchen auf einem guten Weg zurück zur alten Klasse, aber selbst immer noch hier und da von Blessuren geplagt.

Dennoch ist der zweikampf- und kopfballstarke Martinez als neuer Abwehrchef auf den ersten Blick die plausibelste Lösung. Auf den zweiten kommt die aus dem Mittelfeld - und trägt den Namen David Alaba. Man munkelt, der Österreicher soll mit seiner Vertragsverlängerung zögern, weil er wissen möchte, ob Carlo Ancelotti mit ihm im Mittelfeld plant. Seine Wunschposition hat der Österreicher in der Vergangenheit oft genug verbalisiert. Jetzt könnte er als Abwehrchef zum Schlüsselspieler werden.

Freilich hat Alaba nicht den Körper oder die Kopfballstärke Boatengs, doch sind es die Schnelligkeit und Antizipationsfähigkeit, gepaart mit der hohen Spielintelligenz des 23-Jährigen, die ihn zum Kandidaten als zentralen Verteidiger machen. Die Bayern haben mit Durchschnittswerten von knapp 70 Prozent den mit Abstand meisten Ballbesitz - für die Hauptaufgabe, Konter und Gegenstöße zu unterbinden, ist der flinke Alaba perfekt geeignet.

"Bitte alle fit!"

Und wie sieht es taktisch aus? In den vier Pflichtspielen der laufenden Saison, in denen Boateng nicht startete, griff Guardiola einmal auf eine Dreierkette zurück: zu Hause beim 3:0 gegen Leverkusen. In der Mitte als Abwehrchef übrigens mit David Alaba.

Ansonsten starteten die Münchner in Boatengs Abwesenheit nominell mit vier Verteidigern. Es ist also nicht gesagt, dass die Rechnung automatisch lautet: Ein Innenverteidiger weniger macht aus der Vierer- eine Dreierkette. Vielleicht zieht Guardiola einen geliebten Mittelfeld-Spieler ab, um den Defensivverbund zu stärken. Vielleicht tüftelt Pep auch an einer Variante, die niemand auf dem Schirm hat.

Fest steht nur, dass der "große, große Wunsch" des Trainers auch in seinem letzten Halbjahr nicht in Erfüllung gehen wird. "Bitte keiner verletzt! Bitte alle fit! Ich will in Europa mit der besten Mannschaft kämpfen. Ich brauche alle!", sagte der Katalane in der Winterpause.

In der Bundesliga brauchen die Bayern wohl keinen Boateng, um die acht Punkte Vorsprung vor dem BVB zu verteidigen. Aber wenn es in der Champions League gegen die Großen geht, wenn BBC und MSN die Münchner Defensive fordern, wenn die Kontrahenten Dybala, Ibrahimovic & Co. heißen, dann ist der Verlust des momentan wohl besten Innenverteidigers der Welt mehr als nur ärgerlich.

Ein Verlust, der in den ganz großen Spielen, in denen es auf die ganz kleinen Details ankommt, zum entscheidenden Faktor werden kann. "Wir brauchen einen Jerome mit 100 Prozent", waren Arjen Robbens Worte nach Abpfiff im Volksparkstadion. Richten müssen es jetzt wohl elf Andere.

Jerome Boateng im Steckbrief

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