SPOX: Herr Rangnick, Sie unterfüttern Ihre fußballerischen Ansichten häufig mit wissenschaftlichen Untersuchungen. Ist es aufgrund dieser Analysen für Sie sozusagen unlogisch, einen anderen Weg zu verfolgen?
Ralf Rangnick: Es ist statistisch nachgewiesen, dass man ab 15 Sekunden durchschnittlicher Ballbesitzzeit fast keine Chance mehr auf ein herausgespieltes Tor hat. Mir war auch die Nachbetrachtung unseres EM-Ausscheidens gegen Frankreich zu oberflächlich.
SPOX: Weshalb?
Rangnick: Wir hatten gegen Frankreich eine durchschnittliche Ballbesitzzeit von 22 Sekunden. Zum Vergleich: In Leipzig haben wir letzte Saison im Schnitt 4,8 Sekunden benötigt, um den Ball zurück zu erobern und acht Sekunden, bis wir dann abgeschlossen haben. Bei unseren besten Spielen, wo wir die Gegner durchweg dominieren konnten, hatten wir dabei eine durchschnittliche Ballbesitzzeit von elf Sekunden.
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SPOX: Fußball ist doch keine Mathematik, mögen manche einwerfen.
Rangnick: Doch, statistisch betrachtet bis zu einem gewissen Grad schon. Es ist Fakt, dass weltweit nach Ballverlust innerhalb von acht Sekunden die größte Chance auf Rückeroberung des Balles besteht. Und die größte Chance, nach Balleroberung ein Tor zu erzielen, besteht innerhalb von zehn Sekunden. Diese beiden Tatbestände determinieren unsere Idee vom Fußball.
SPOX: Vereint ein Spieler wie Antoine Griezmann, der Deutschland mit seinen beiden Toren aus dem Turnier schoss, diese Fähigkeiten für Sie?
Rangnick: Ganz eindeutig. Wir sind gegen Frankreich vor allem auch an Griezmann gescheitert. Der einzige gegnerische Spieler mit Speed und Tiefgang hat die Partie nicht zufällig entschieden - und auch nicht nur gegen uns. Wenn du Tore schießen willst, brauchst du Tempo und Spielwitz, im Idealfall sogar in Kombination. Griezmann verkörpert beides.
SPOX: Wie beobachten Sie einen Ballbesitztrainer wie Pep Guardiola, der in Barcelona und beim FC Bayern enorm konstant und sehr erfolgreich gearbeitet hat?
Rangnick: Ich habe es im ersten Teil ja schon angedeutet: So weit sind wir gar nicht voneinander entfernt. Es war in seiner vorletzten und letzten Barcelona-Saison schon beeindruckend. Da waren sie nicht nur am erfolgreichsten, sondern auch am besten. Das so häufig gelobte Tiki Taka diente ja vor allem dazu, sich zu erholen und den Gegner zu frustrieren. Auch wenn man sagen muss, dass den Gegnern häufig der Mut und die richtigen Ideen gefehlt haben.
SPOX: Was wäre für Sie die beste Idee gegen solche Gegner?
Rangnick: Gegen Barca und die Bayern hat man nur dann eine Chance auf Balleroberung, wenn wirklich alle mitmachen. Genau deshalb hat Mainz letzte Saison in München gewonnen, genau deshalb konnte der BVB vor einigen Jahren fünf Spiele in Folge gegen sie gewinnen. Die Bayern hatten damals gegen Dortmund 70 Prozent Ballbesitz, aber null Prozent Siegchance.
SPOX: Dann kommt es also gar nicht so sehr auf die Quantität, sondern vielmehr auf die Qualität des Ballbesitzes an?
Rangnick: Ja. Ich erinnere mich an ein Interview in der Marca mit dem Trainer von Real Sociedad, einem kommenden Barca-Gegner. Er wurde gefragt, was Barca so besonders mache. Er meinte, die meisten Experten würden denken, Barca wäre extrem gefährlich bei eigenem Ballbesitz. Das wäre aber falsch, sie seien erst dann richtig stark, wenn man als Gegner plötzlich selbst den Ball hat - weil sie dann überfallartig attackieren. Ich glaube auch, dass Pep dies in München immer forciert hat. Die Bayern haben in ihren besten Phasen ein gutes Gegenpressing gespielt, aber die Dauer des Ballbesitzes war länger als in den besten Zeiten von Barca.
SPOX: Auch wenn Sie eher über das Spiel ohne Ball kommen, finden Sie sich also auch in dieser Art Fußball wieder?
Rangnick: Klar. Ein bisschen spiegelt sich in der Art und Weise, wie eine Mannschaft spielt, auch die Mentalität des Trainers wieder. Pep ist ein temperamentvoller Coach, aber auch ein Ästhet. Auch ich sehe gerne schönen, aber vor allem auch schnellen und aggressiven Fußball. Ich finde es sterbenslangweilig, wenn ständig quer- und zurückgespielt wird und man 30 Sekunden später wieder an derselben Stelle angelangt ist.