Der zweite Teil des Interviews mit RB-Leipzig-Sportdirektor Ralf Rangnick. Die Themen: Rangnicks Gründe für das Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft bei der EM 2016, seine Ansichten zu einer Spielidee, die auf Ballbesitz fußt sowie seine Prognose, wie sich der europäische Fußball in den kommenden Jahren entwickeln wird. Hier geht's zum ersten Teil des Interviews mit Ralf Rangnick.
SPOX: Herr Rangnick, Sie unterfüttern Ihre fußballerischen Ansichten häufig mit wissenschaftlichen Untersuchungen. Ist es aufgrund dieser Analysen für Sie sozusagen unlogisch, einen anderen Weg zu verfolgen?
Ralf Rangnick: Es ist statistisch nachgewiesen, dass man ab 15 Sekunden durchschnittlicher Ballbesitzzeit fast keine Chance mehr auf ein herausgespieltes Tor hat. Mir war auch die Nachbetrachtung unseres EM-Ausscheidens gegen Frankreich zu oberflächlich.
SPOX: Weshalb?
Rangnick: Wir hatten gegen Frankreich eine durchschnittliche Ballbesitzzeit von 22 Sekunden. Zum Vergleich: In Leipzig haben wir letzte Saison im Schnitt 4,8 Sekunden benötigt, um den Ball zurück zu erobern und acht Sekunden, bis wir dann abgeschlossen haben. Bei unseren besten Spielen, wo wir die Gegner durchweg dominieren konnten, hatten wir dabei eine durchschnittliche Ballbesitzzeit von elf Sekunden.
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SPOX: Fußball ist doch keine Mathematik, mögen manche einwerfen.
Rangnick: Doch, statistisch betrachtet bis zu einem gewissen Grad schon. Es ist Fakt, dass weltweit nach Ballverlust innerhalb von acht Sekunden die größte Chance auf Rückeroberung des Balles besteht. Und die größte Chance, nach Balleroberung ein Tor zu erzielen, besteht innerhalb von zehn Sekunden. Diese beiden Tatbestände determinieren unsere Idee vom Fußball.
spoxSPOX: Vereint ein Spieler wie Antoine Griezmann, der Deutschland mit seinen beiden Toren aus dem Turnier schoss, diese Fähigkeiten für Sie?
Rangnick: Ganz eindeutig. Wir sind gegen Frankreich vor allem auch an Griezmann gescheitert. Der einzige gegnerische Spieler mit Speed und Tiefgang hat die Partie nicht zufällig entschieden - und auch nicht nur gegen uns. Wenn du Tore schießen willst, brauchst du Tempo und Spielwitz, im Idealfall sogar in Kombination. Griezmann verkörpert beides.
SPOX: Wie beobachten Sie einen Ballbesitztrainer wie Pep Guardiola, der in Barcelona und beim FC Bayern enorm konstant und sehr erfolgreich gearbeitet hat?
Rangnick: Ich habe es im ersten Teil ja schon angedeutet: So weit sind wir gar nicht voneinander entfernt. Es war in seiner vorletzten und letzten Barcelona-Saison schon beeindruckend. Da waren sie nicht nur am erfolgreichsten, sondern auch am besten. Das so häufig gelobte Tiki Taka diente ja vor allem dazu, sich zu erholen und den Gegner zu frustrieren. Auch wenn man sagen muss, dass den Gegnern häufig der Mut und die richtigen Ideen gefehlt haben.
SPOX: Was wäre für Sie die beste Idee gegen solche Gegner?
Rangnick: Gegen Barca und die Bayern hat man nur dann eine Chance auf Balleroberung, wenn wirklich alle mitmachen. Genau deshalb hat Mainz letzte Saison in München gewonnen, genau deshalb konnte der BVB vor einigen Jahren fünf Spiele in Folge gegen sie gewinnen. Die Bayern hatten damals gegen Dortmund 70 Prozent Ballbesitz, aber null Prozent Siegchance.
SPOX: Dann kommt es also gar nicht so sehr auf die Quantität, sondern vielmehr auf die Qualität des Ballbesitzes an?
Rangnick: Ja. Ich erinnere mich an ein Interview in der Marca mit dem Trainer von Real Sociedad, einem kommenden Barca-Gegner. Er wurde gefragt, was Barca so besonders mache. Er meinte, die meisten Experten würden denken, Barca wäre extrem gefährlich bei eigenem Ballbesitz. Das wäre aber falsch, sie seien erst dann richtig stark, wenn man als Gegner plötzlich selbst den Ball hat - weil sie dann überfallartig attackieren. Ich glaube auch, dass Pep dies in München immer forciert hat. Die Bayern haben in ihren besten Phasen ein gutes Gegenpressing gespielt, aber die Dauer des Ballbesitzes war länger als in den besten Zeiten von Barca.
SPOX: Auch wenn Sie eher über das Spiel ohne Ball kommen, finden Sie sich also auch in dieser Art Fußball wieder?
Rangnick: Klar. Ein bisschen spiegelt sich in der Art und Weise, wie eine Mannschaft spielt, auch die Mentalität des Trainers wieder. Pep ist ein temperamentvoller Coach, aber auch ein Ästhet. Auch ich sehe gerne schönen, aber vor allem auch schnellen und aggressiven Fußball. Ich finde es sterbenslangweilig, wenn ständig quer- und zurückgespielt wird und man 30 Sekunden später wieder an derselben Stelle angelangt ist.
SPOX: Wenn eine Partie demnach nur fünf, sechs Highlight-Szenen für die Zusammenfassung bietet, deutet das für Sie auf ein langweiliges Spiel?
Rangnick: Für mich sollte ein Spiel während der gesamten 90 Minuten immer so ablaufen, dass Highlights jederzeit passieren können. Dies ist eher der Fall, wenn man so spielt wie wir. Langweilig sind unsere Spiele in aller Regel nämlich nicht. Natürlich sollte das Ergebnis am Ende stimmen, aber Fußball muss meiner Auffassung nach auch immer ein Erlebnis sein und einen hohen Unterhaltungswert haben.
SPOX: Man hat bei der EM in Frankreich sowie wenig später bei der U19-EM am Beispiel des Finalisten Italien gesehen, dass auch relativ destruktiver Fußball erfolgreich sein kann. Wie beurteilen Sie dies?
Rangnick: Ich hätte mir in Frankreich gewünscht, dass die eine oder andere dieser kleinen Nationen ihr Spiel sozusagen als Zugabe noch mit mehr Prinzipien gewürzt hätte, wie sie auch für uns wichtig sind. Dann hätten sie in meinen Augen noch mehr erreichen können. Teamspirit, eine Idee bei Standardsituationen und die Bereitschaft aller Spieler, bei gegnerischem Ballbesitz mitzumachen, haben gerade für Wales und Island ausgereicht, um ein Spiel zumindest offen zu gestalten. Daraufhin wurden die meist favorisierten Gegner unzufrieden, haben mehr riskiert und plötzlich ging eben eine Lücke auf. Ich hätte mir da im Spiel gegen den Ball noch mehr Mut und Zutrauen gewünscht - dann hätten sie ihre Gegner noch viel mehr beeindrucken können.
SPOX: Welche war in Ihren Augen die taktische reifste Mannschaft?
Rangnick: Bei Italien konnte man die Handschrift des Trainers am meisten erkennen. Das lag natürlich auch daran, wie Antonio Conte gecoacht hat und aufgetreten ist. Italien hatte die meisten modernen taktischen Elemente in seinem Spiel, obwohl sie die älteste Mannschaft waren.
SPOX: Welche Elemente meinen Sie?
Rangnick: Wann immer es möglich war, haben sie Gegenpressing gespielt oder auch tief in der gegnerischen Hälfte hoch attackiert. Trotzdem doppelten sie mit ballorientierten Elementen auch am eigenen Strafraum. Es war extrem schwer, gegen sie zu Torchancen zu kommen und dennoch waren sie in der Umschaltbewegung immer gefährlich im Spiel nach vorne. Conte hat weniger auf Individualisten gesetzt, sondern offensichtlich genau die Spieler ausgewählt, die als Team seine Idee am besten umsetzen konnten. Genau das macht für mich gute Trainerarbeit aus.
SPOX: Wohin glauben Sie entwickelt sich der europäische Fußball in den kommenden Jahren, wird der Sport immer perfekter?
Rangnick: Das gilt doch aber für viele Sportarten. In der Leichtathletik hat sich der 100-Meter-Weltrekord vor 30 Jahren noch um Zehntelsekunden fast jährlich verbessert, jetzt reden wir von Hundertstelsekunden. Auch der Fußball ist in den letzten zehn Jahren eine andere Sportart geworden.
SPOX: Liegt das nur an der Häufigkeit und Intensität von Sprints und schnellen Läufen?
Rangnick: Eindeutig. Wenn wir uns heute einen Spieler anschauen, dann messen wir gar nicht mehr so sehr die Zeit, die er lateral für die ersten 10, 20 oder 30 Meter braucht. Uns interessieren vor allem die Beschleunigungswerte, beispielsweise auch nach einer Abstoppbewegung zurück in die andere Richtung. Deshalb braucht es heute ganz andere körperliche Voraussetzungen, so dass es eben nicht mehr egal ist, wie sich die Spieler ernähren oder wie sie schlafen. Ich finde, der Fußball ist dadurch ehrlicher geworden. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes Hochleistungssport. spox
SPOX: Welche Rolle werden dabei die Trainer spielen?
Rangnick: In den nächsten Jahren wird es für sie darauf ankommen, auf neue Entwicklungen immer wieder die passenden Antworten zu finden. Das wird immer mehr mit kognitivem und neuronalem Training zu tun haben, die kognitive Wahrnehmung auf dem Feld wird dabei immer wichtiger. Man muss lernen, unter räumlichen Begrenztheiten in extrem kurzen Zeitfenstern die Übersicht zu behalten und die richtigen Lösungen zu finden, um durchzukommen. Der Teufel wird immer mehr im allerkleinsten Detail stecken.
SPOX: Die Anforderungsprofile an die Trainerstäbe werden also immer komplexer?
Rangnick: Die Zeiten von "geht's raus und spielt's Fußball" sind lange vorbei. Es ist daher auch übrigens Quatsch zu sagen, mit dem Kader der Bayern sei es keine Kunst, drei Mal in vier Jahren das Double zu gewinnen. Dazu war Borussia Dortmund zum Beispiel im Vorjahr viel zu gut - und dennoch hatten die Bayern am Ende zehn Punkte Vorsprung. Das zeigt ihre und Peps überragende Qualität und Leistung.
Hier geht's zum ersten Teil des Interviews mit Ralf Rangnick!