"Chaosbewältigung ist das halbe Leben, Chaosschaffen die andre Hälfte", philosophierte einst Manfred Hinrich. Gemeint hat er damit wohl vieles, nur nicht RB Leipzig. Besser treffen können, hätte er es aber auch nicht. Denn der Höhenflug der Roten Bullen, der derzeit in Platz zwei gipfelt, lässt sich mit diesem Satz treffend zusammenfassen.
Vormalig geht es RB Leipzig um das Chaosschaffen. Die Bewältigung folgt zu einem späteren Zeitpunkt, daran hat sich auch mit Ralph Hasenhüttl wenig geändert. Ohnehin hat der ehemalige Trainer des FC Ingolstadt sich eher an Leipzig angepasst, als Leipzig sich an Hasenhüttl.
Trainer und Mannschaften passten schon im Vorherein gut zueinander, viel zu sehen ist von Hasenhüttls 4-3-3-Grundordnung aus Zeiten beim FCI aber nicht mehr. Er hat sich dem 4-4-2 mit engen Flügelspielern angeschlossen. Wenn man nach Roger Schmidt gehen würde, dem 4-2-2-2.
Das querliegende Sechseck
Aus dieser Grundordnung heraus zieht Leipzig ein kompaktes Pressing auf, das dem Gegner die Mitte zum Aufbau nimmt und ihn somit früher oder später zu einem Pass auf Außen oder einem langen Schlag zwingt. Soweit nichts Ungewöhnliches, das ist Ziel vieler Mannschaften.
Die Art und Weise macht Leipzig aber doch zumindest zu einer seltenen Mannschaft. Im 4-2-2-2 agieren zwei Stürmer zentral, die beiden Flügelspieler sind aber eingerückt. Deren Spannweite geht von Halbraum zu Halbraum und bietet so den Flügel an. Die Sechser dahinter sichern ab, rücken aber genauso gerne im Pressing mit auf.
So entsteht bisweilen eine Art querliegendes Sechseck um die gegnerischen Sechser, Julian Weigl von Borussia Dortmund etwa sah sich konsequent von sechs Spielern umzingelt. Seine Ballaktionen reduzierten sich von sonst durchschnittlichen 105 auf 78, der Spielaufbau der Dortmunder lief besonders über die rechte Seite.
Warten auf den Trigger
Damit erreichen die Bullen ihr erstes Unterziel. Die Mitte blockieren, den Ball zwischen den Innenverteidigern laufen lassen und auf bestimmte Trigger aktiv Druck auf den Ball ausüben. Diese Trigger können sich geringfügig unterscheiden, sind aber oft Querpässe zwischen den Innenverteidigern und Pässe auf die Außenverteidiger sowie Stoppfehler, unsauber gespielte Bälle oder Gegner mit Rücken zum Spielfeld.
Hierdurch müsste nun rein statistisch die Passquote der Gegner deutlich zurückgehen, die Quote der langen Bälle dagegen steigen. Das tun sie, allerdings nicht in solchem Maße, als dass man daraus sinnvolle Schlüsse ziehen könnte. Es offenbart sich ein Unterschied zum Aufstiegsjahr: Leipzig lässt den Gegner öfter in der Abwehr zirkulieren, die Trigger sind weniger geworden.
Dadurch bleiben Passquote und der Anteil an langen Bällen ähnlich, da die Gegner mehr als gewohnt den Ball im eigenen Drittel laufen lassen. Haben Hoffenheims Innenverteidiger sonst im Schnitt rund 55 Pässe pro Partie, verbuchten sie gegen Leipzig jeweils etwa 67 Pässe. Torhüter Oliver Baumann schaffte es gar unter die Top-4-Passgeber - ein Zeichen für die gute Struktur Leipzigs.
Vertikalspiel nach vorne
Erst auf den Trigger hin wird nun das aggressive Spiel aufgezogen. Leipzig räumt eine Feldhälfte meist komplett und rückt weit heraus. Oft fällt der ballferne Außenverteidiger zu den Innenverteidigern, während der ballnahe AV nach vorne marschiert. Die Sechser rücken auf, die Stürmer schieben stark. Es wird eng auf dem Feld.
In diesen Momenten hat Leipzig erfolgreich Chaos geschaffen und damit frei nach Hinrich die Hälfte bereits erledigt. Es entwickelt sich ein hektischer Spielmoment, in dem RB seine Stärken ausspielt. Hier machen sich Ausbildung und Scouting bewährt. Auf der einen Seite ist Leipzig physisch stark, schnell und ausdauernd, auf der anderen Seite zudem reaktionsschnell und gut geschult in der Entscheidungsfindung.
Mit schnellen Angriffen geht es nach Balleroberung dann gegen einen unsortierten Gegner nach vorne. Fast immer wird vertikal in die Tiefe gespielt, um dann prallen zu lassen und selbst wieder zu starten. Gelegentlich leiten die Sechser mit scharfen, diagonalen Bällen auch einen etwas geordneteren Angriff ein.
Fouls keine Dauerlösung
Gelingt die Balleroberung nicht, besteht ohnehin schon Überzahl in Ballnähe und damit oft eine gute Möglichkeit zum Gegenpressing. Hierbei spielt RB oft Risiko, da die beiden Sechser und der ballnahe Außenverteidiger derart hoch stehen. Es öffnet sich immer wieder der Raum vor der Viererkette, der brandgefährlich werden kann, sollte das Gegenpressing umspielt werden.
Leipzigs Spieler wissen sich zwar mit klugen Fouls zu behelfen, das ist aber keine Dauerlösung für 90 Minuten oder mehr. Zudem brechen Fouls Pressing. Das Chaos ist dann weg und Leipzig steht wieder am Anfang. Durchaus also noch ein Punkt, an dem Hasenhüttl arbeiten wird. In Ingolstadt räumte Roger als Anker vor der Abwehr großräumig auf.
Interessanterweise stellt Leipzig auch beim eigenen Spielaufbau mehr Chaos als Ordnung her. Viele der Zuspiele werden von Torhüter, den Innenverteidigern oder einem bisweilen fallenden Sechser lange nach vorne gespielt. Die Mannschaft rückt dann kompakt nach und versucht wieder, den dynamischen Spielmoment zu nutzen, um gefährliche Angriffe ausspielen zu können.
Die Defensive geht vor
Auch mit Ball lassen sich Parallelen zwischen Ingolstadt und Leipzig ziehen - oder auch Leipzig und Ingolstadt, je nachdem, wie man das einordnen will. Da der Umschaltmoment die größte Stärke im Spiel RBs ist, macht es wenig Sinn, das Feld breit und tief zu machen, wie es andere Mannschaft in Ballbesitz tun.
Vielmehr schiebt Leipzig gar bei eigenem Ballbesitz nahezu komplett auf eine Spielfeldhälfte und bleibt so auch bei Ballverlust immer in der Lage, diesen direkt wieder zu erobern. Dadurch wird das Offensivspiel zwar bisweilen etwas holprig und unansehnlich, die Defensive geht aber vor.
Da Leipzig Ballgewinne in Überzahl verbucht, hat meist auch der Gegner verschoben. Kurze Bälle sorgen für ein Verlassen der Druckzone und schließlich wird ein schneller Konter gefahren. Auch hier gilt eben wieder: Chaosbewältigung ist das halbe Leben. Hinrich hätte seinen Spaß an Leipzig.
RB Leipzig im Überblick