Die Abwehr ist unachtsam. William Kvist hat den Ball und schickt den gestarteten Timo Werner. Der Youngster ist pfeilschnell, nicht mehr aufzuhalten. Er läuft alleine auf Schalkes Schlussmann Ralf Fährmann zu. Das muss das 1:0 sein. Er schießt - knapp vorbei.
Wir schreiben den 30. November 2013. Stuttgart verlor damals 3:0 gegen Schalke. Timo Werner erinnert sich vielleicht noch gut an diesen Tag. Das damals 17-jährige Sturmtalent spielte gerade seine erste Saison beim VfB Stuttgart und deutete in großer Regelmäßigkeit an, dass es ein ganz besonderes Juwel der Stuttgarter Jugendarbeit sein könnte.
Mit der herausragenden Empfehlung von 30 Scorerpunkten aus 23 Partien der A-Jugend-Bundesliga avancierte Werner direkt zum Leistungsträger bei den Schwaben - Rekorde inklusive. Die Erwartungen stiegen ins Unermessliche.
Bloß zwölf Spieltage reichten dem aufstrebenden Talent, um drei Bestmarken zu knacken. Der jüngste Bundesliga-Debütant des VfB erzielte nicht nur als jüngster Stuttgarter ein Bundesliga-Tor, sondern gegen Freiburg komplettierte er am zwölften Spieltag den Rekord-Hattrick und stieg zum jüngsten Bundesliga-Doppelpacker aller Zeiten auf.
Der Hype? Enorm. Die große Chance gegen Schalke zwei Spiele später? Ein Ausrutscher. Oder?
Hinter den Erwartungen
Timo Werner schoss knapp vorbei. Knapp vorbei. Diese zwei Worte beschreiben in der Nachbetrachtung auch Werners Zeit beim VfB, denn die großen Erwartungen vermochte das hochveranlagte Talent nie wirklich erfüllen.
In allen drei Saisons beim VfB absolvierte Werner mindestens 30 Spiele. Allerdings gelang es ihm nicht, zum unumstrittenen Stammspieler aufzusteigen. Besonders in den ersten beiden Saisons wechselten ihn seine Coaches genauso oft ein, wie er auch in der Startelf stand.
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Sein Spiel wirkte ähnlich inkonstant. Werner spielte hektisch, schien vor dem Tor unsicher. Jugendliche Unbekümmertheit musste immer wieder jugendlicher Aufregung weichen. Folglich kam das große Talent in keiner seiner VfB-Saisons über zehn Scorerpunkte hinaus. Es haperte irgendwie immer.
Stuttgart nicht gefestigt genug
Doch nicht nur seine persönliche Spielweise legte ihm Steine in den Weg, sondern vor allem das reichlich fragile Gesamtkonstrukt des VfB Stuttgart. Einem 17-Jährigen die große Bürde aufzuerlegen, die glorreiche Zukunft eines abstiegsbedrohten Traditionsklubs einzuleiten, ist zu überambitioniert.
Darüber hinaus suchte der Youngster vergeblich nach einer festen Position im VfB-System. Er pendelte dabei ständig zwischen den Flügeln, hängender Spitze und Mittelstürmer-Position. Doch wirklich glücklich wurde er nie. Ganze sechs Trainerwechsel, die er in seiner Stuttgarter Zeit miterlebte, taten ihr Übriges.
Je mehr er versuchte, desto weniger klappte: Der Druck, mit dem der Stürmer beim VfB zurechtkommen musste, stieg proportional mit der Erwartungshaltung. Folglich stagnierte Werners Entwicklung. Der Abstieg der Stuttgarter, den das große Talent alleine natürlich nicht verhindern konnte, gab schließlich den passenden Anlass, die Situation zu überdenken.
Mehr als nur ein Tapetenwechsel
Werner ist und bleibt trotz seiner bereits drei absolvierten Bundesliga-Saisons und der manchmal fehlenden Kaltschnäuzigkeit vorm gegnerischen Tor ein hoch veranlagtes Talent mit ausgezeichneter Technik, bei dessen Schnelligkeit nur die wenigsten Bundesliga-Profis mithalten können. Außerdem blieb er von großen Verletzungen verschont. Das Interesse aus Leipzig erschien da nur logisch.
"Als das Angebot von RB kam, musste ich mir zusammen mit meinem Berater Gedanken machen, weil das natürlich ein nächster Schritt ist, der zudem unglaublich reizvoll ist", sagte Werner gegenüber Sport1.
Schließlich ging es bei diesem Transfer nicht nur um einen sportlichen Tapetenwechsel, es ging für Werner auch darum, sich zu emanzipieren, auch wenn er dafür seinem Heimatverein notgedrungen den Rücken kehren musste. "Ich bin VfB'ler durch und durch, das bleibt auch so. Doch ich muss auch an meine Karriere denken", erörterte Werner, der elf Jahre das VfB-Dress trug.
Ein Gang in die zweite Liga hätte seiner zukünftigen Laufbahn angesichts der Qualitäten, über die der Youngster zweifellos verfügt, nur geschadet. Dagegen sah sich Werner beim Aufsteiger besser untergebracht. "Red Bull an sich hat den Anspruch, junge Sportler zu Top-Leistungen zu bringen. Diese Möglichkeiten hat man nicht oft in Deutschland", fasste er die Vorzüge des Vereins gegenüber Focus online zusammen. Und genau dieses Konzept passt zu ihm.
Erwachsen mit 20
Für seine gerade einmal 20 Jahre macht Werner insgesamt einen sehr abgeklärten und reifen Eindruck. Er scheint zu wissen, was gut für ihn ist und wo er am besten hinpasst. Souverän reagiert er auf kritische Fragen zu RB Leipzig und zu seinem Wechsel. Doch angesichts der harten Zeiten in Stuttgart kommt das nicht von ungefähr.
"In Stuttgart gab es früher schon mal einen Döner in der Mittagspause", verriet Werner der Sport Bild, doch "in Leipzig werden im Trainingszentrum verschiedene Mahlzeiten angeboten: vegan, glutenfrei, laktosefrei, sowie eine Vollwert-Mahlzeit." Den jugendlichen Leichtsinn scheint der 20-Jährige endgültig abgelegt zu haben - ebenso wie die Aufregung.
Einer von vielen
Nach einem Drittel der Saison liest sich Werners Bilanz in Leipzig hervorragend: Zwölf Bundesligaspiele, sieben Tore, vier Vorlagen. Er findet dort genau das, was ihm Stuttgart nicht bieten konnte. Der Abstiegsdruck ist Euphorie gewichen, der Trainer sitzt fest im Sattel und im Leipziger 4-4-2 fühlt sich der Ex-Stuttgarter offensichtlich pudelwohl.
Obendrein verteilt sich die Last auf die Schulter vieler Talente: Neben Sabitzer, Poulsen, Forsberg und Co. ist Werner nur einer von vielen. Und das tut ihm sichtlich gut. Er wirkt in seinem Spiel gefestigt wie noch nie und weniger hektisch.
Auf diese Weise gelangen dem Stürmer zuletzt in Freiburg zwei Treffer. Mit einer vorher nie dagewesenen Ruhe tauchte Werner vor dem Tor von Alexander Schwolow auf. Einmal umkurvte er den Keeper souverän und beim anderen Mal schloss Leipzigs Nummer elf lässig ins lange Eck ab. Fertig war der Doppelpack gegen Freiburg am zwölften Spieltag. Jetzt geht es gegen Schalke und Ralf Fährmann. Da war doch mal was?
Timo Werner im Steckbrief