"Volle Konzentration auf das Wesentliche und Ruhe im Karton", forderte BVB-Sportdirektor Michael Zorc im Mai. Die Schlussphase der Vorsaison stand an, das Pokalfinale in Sicht.
Zorcs Vorgabe ließ sich letztlich nur schwer in die Tat umsetzen, der Karton war sehr durchlässig. Die Diskussionen um die Zukunft von Trainer Thomas Tuchel rissen nicht ab, wenngleich sich die Mannschaft tatsächlich auf das Wesentliche konzentrieren konnte und mit dem Titelgewinn in Berlin die Bilanz der Spielzeit um einiges verschönerte.
Die Ruhe hielt jedoch nicht lange. Sie wurde Wochen später überlagert von Ousmane Dembeles skurrilem Trainingsstreik und der Hektik, die in den letzten Tagen des Sommertransferfensters aufkam. Die Unruhe war für einige Tage zurück in Dortmund und sie hat den gesamten Verein angesichts des unklaren Ausgangs dieser krummen Nummer in Atem gehalten.
Bosz erhält Lob von Sammer
In all diesem Lärm arbeitete der neue Coach Peter Bosz ziemlich unbeeindruckt seine Ideen mit dem Team ab, so dass ihm selbst ein kritischer Zeitgeist wie Matthias Sammer Lob zollte. "Ich beurteile seinen Umgang, sein Auftreten, sein bisheriges Tun als sehr souverän", sagte der heutige TV-Experte bei Eurosport.
Es ist auch Boszs Verdienst, dass die Mannschaft wie schon nach dem Anschlag auf den Mannschaftsbus im April eine starke Reaktion auf dem Platz folgen ließ. Das Ballyhoo, das beim BVB in den letzten Monaten beinahe permanent ungewöhnlich groß war, scheint die Spieler in ihrem Kerngebiet nur wenig zu tangieren.
Der ideale Saisonstart mit drei Zu-Null-Siegen in drei Pflichtspielen und der Tabellenführung in der Bundesliga war zwar gewiss keine Sensation. Dass die Rädchen aber bereits so ordentlich ineinander griffen bei Boszs neuer Borussia, ließ sich nach einer durchwachsenen Vorbereitung mit vier Niederlagen in sechs Testspielen nicht vorhersehen.
Es geht ans Eingemachte für den BVB
Die erste Startphase hat Bosz also mit einem "sehr gut" abgeschlossen. Am Samstag beginnt nun Phase zwei mit dem Auswärtsspiel beim SC Freiburg (15.30 Uhr im LIVETICKER). Dreimal schlug der BVB vor dem 31. August noch in Sachen Transfers zu (Andrej Yarmolenko, Jeremy Toljan, Jadon Sancho), der Kader ist nun komplett. Bis zu 23 Pflichtspiele stehen bis Weihnachten im üblich atemlosen Rhythmus an, die reine Trainingszeit wird sich erheblich reduzieren.
Jetzt erst geht es ans Eingemachte, nach Freiburg steht mit dem Champions-League-Spiel in Wembley gegen Tottenham das erste Highlight der Saison an. Auf Bosz werden dann andere, neue Aufgaben zukommen.
Der Niederländer muss nicht nur seine drei Last-Minute-Einkäufe in die Mannschaft integrieren und an die speziellen Abläufe gewöhnen, die sein 4-3-3-Pressingsystem erfordern. Auch die zuletzt verletzten Leistungsträger Julian Weigl sowie Kapitän Marcel Schmelzer kehren nach der Länderspielpause zurück.
Wie handhabt Bosz die Personalien Weigl und Sahin?
Gespannt sein darf man vor allem, wie Bosz die Personalie Weigl handhabt. Seit seinem Wechsel zum BVB vor zwei Jahren fungierte Weigl als Anker im Dortmunder Spiel, er balancierte die Bewegungen in die Offensive wie Defensive aus und war durchgängig der Spieler mit den meisten Ballkontakten.
Die alleinige Sechserposition hat unter Bosz nun allerdings einen neuen Anstrich bekommen. Wie die gesamte Formation ist sie im Feld weiter nach vorne geschoben, das Aufgabengebiet besteht nun vor allem auch aus vor- oder vorvorletzten Pässen in die Tiefe.
In dieser Rolle hat der unter Tuchel nicht nur verletzungsbedingt kaum berücksichtigte Nuri Sahin eine erstaunliche Renaissance erfahren, auch wenn er sich in den bisherigen Partien analog zu seinen Stärken auch immer wieder tiefer fallen ließ, um die Symmetrie zu den aufrückenden Außenverteidigern zu wahren.
Bosz legt den Finger in die Wunde
Es erscheint möglich, aber nicht extrem wahrscheinlich, dass Bosz in seiner Elf Platz für Weigl und Sahin findet. Zwar dürfte Weigl behutsam an die Wettkampfbelastung herangeführt werden und Bosz in diesem Gespann eine gute Rotationsmöglichkeit sehen, ein Weigl dauerhaft auf der Bank ist jedoch kaum vorstellbar.
Dortmunds Coach wird seine Vorstellungen bereits im Kopf haben, wie er diese Thematik langfristig zu lösen gedenkt. Der Neue an der Seitenlinie ist seit Amtsantritt noch keinen Millimeter von seiner Linie abgewichen. Boszs ruhiges und unbeeindrucktes Auftreten wirkt auf die Mannschaft unübersehbar positiv ein.
Seine Analysen kommen klar daher, er ist sich auch nicht zu schade, immer wieder den Finger in die Wunde zu legen, anstatt ausschließlich nur positive Aspekte in den Vordergrund zu stellen. "Mit dem Spiel bin ich nicht ganz zufrieden, gerade beim Ballbesitz. Da muss man den Ball in einem hohen Tempo laufen lassen, muss schnell die Seiten wechseln. Das haben wir nicht gut gemacht. Das müssen wir besser machen. Wenn wir zu viele einfache Bälle verlieren, müssen wir oft Druck machen. Wenn wir weniger Bälle verlieren, haben wir mehr Energie für das Fußballspielen. Aber das wird normalerweise jede Woche ein bisschen besser", sagte er nach dem 2:0-Sieg gegen Hertha BSC.
BVB: Bald wieder Ruhe im Karton?
Diese Sprachregelung scheint schlicht, doch sie scheint auch typisch Bosz. Seine Einschätzungen, wann und wie sich die Mannschaft an seine Vorgaben gewöhnt, traten bisher meist ein. Die Defizite sind tatsächlich nach und nach geringer geworden. In den beiden Bundesligapartien konnte der BVB sein neues Spiel so lange aufrechterhalten wie nie zuvor.
Ob dieses Entwicklungspflänzchen stets weiter auf selbe Weise wächst wie zuletzt, wird in den kommenden Wochen einer ernsten Probe unterzogen. Nämlich dann, wenn sich die Highlights in der Königsklasse mit dem Alltag in der Liga abwechseln, wenn Verletzungen das Team durchwirbeln, wenn effektiv rotiert werden muss, wenn die Rückkehrer eingebaut werden müssen.
Bekommt Bosz diese Unwägbarkeiten ähnlich moderiert wie seinen Start beim BVB, könnte die ersehnte Ruhe im Karton tatsächlich wieder langfristig entstehen - und das ganz ohne Ansage von oben.