Babak Rafati machte als Schiedsrichter Karriere, bis ihn Depressionen auf die "Klippe zwischen Leben und Tod" trieben. Im SID-Interview spricht der heutige Mentalcoach und Redner anlässlich des zehnten Todestages von Robert Enke über den Umgang mit der tückischen Krankheit. Und über die Fußball-Branche, die sich weiter öffnen müsse.
Herr Rafati, Sie halten heute hauptberuflich Vorträge über Depressionen, Mobbing und Burn-out. Hat Sie auch schon einmal ein großer Fußballklub gebucht?
Babak Rafati (früherer FIFA-Schiedsrichter): Nein, ein Fußballklub noch nicht, aber einzelne Profis - sie fragen mich für Themen wie Motivation und Mentalcoaching an. Mit Druck und Stress kenne ich mich aus und spreche aus eigener Erfahrung.
Wenn sie von den Profis engagiert werden, geht das auf eine Eigeninitiative zurück. Warum werden Sie nicht von den Klubs gebucht?
Rafati: Die Verantwortlichen im Profifußball befürchten einen Imageverlust, wenn sie sich mit dem Menschen, der Psyche, mit Drucksituation, Stress und diesen Themen befassen. Es geht heute aber nicht mehr um immer schneller, weiter, höher. Du gewinnst die Spiele in Zukunft nicht, indem du mehr trainierst. Du gewinnst sie im Kopf - indem du mental fit bist und Stressmomente nicht mehr als solche wahrnimmst. Da müssen wir ansetzen und ich glaube, das wird auch in Zukunft in den Vereinen so sein.
Warum fällt es den Akteuren im Fußball immer noch so schwer, vermeintliche Schwächen zu zeigen?
Rafati: Ganz einfach: Wir Männer müssen stark sein, dürfen keine Schwächen oder Gefühle zulassen. Das sind aber alles falsche Glaubenssätze. Gerade dann, wenn ich eintauche und sehe was mich belastet, fange ich an eine Bereitschaft aufzubringen, um Schritt für Schritt an mir zu arbeiten. Da holst du die entscheidenden Prozente raus. Ich höre von den Spielern immer wieder, dass sich die Vereinspsychologen gar nicht darum kümmern, was sie wirklich stört. Da müssen wir ansetzen. Dann geht es vielleicht erst einmal einen Schritt zurück, man springt dann aber ein paar Schritte nach vorne.
Was würde der Babak Rafati von heute dem Babak Rafati von vor neun, zehn Jahren raten. Wo war der entscheidende Moment, als es kein zurück mehr gab?
Rafati: Das Problem ist, dass man den Punkt nicht fixieren kann. Es ist ein schleichender Prozess. Wir hatten bei den Schiedsrichtern eine neue Führung, und ich habe den Mund aufgemacht, die Missverhältnisse angesprochen. Dann habe ich natürlich Fehler gemacht auf dem Platz, damit machst du dich angreifbar. Dann kommt Druck ins Spiel, durch Druck habe ich Stress. Ich hatte irgendwann körperliche Signale, Achillessehnenprobleme, die drückst du dann weg, du musst ja performen.
Wie ging es dann weiter?
Rafati: All das hat mich irgendwann in eine Antriebslosigkeit gebracht. Ich hatte keinen Bock mehr die Sporttasche zu packen, konnte nicht mehr schlafen. Das Hirn ist irgendwann erkrankt. So bin ich in die Nacht in Köln rein und habe nach 18 Monaten eine Selbstzerstörung vorgenommen. Ich habe mich selbst verletzen wollen - ohne dabei an den Tod zu denken. Mir ging es darum, den beschissenen, brutalen, unmenschlichen Film zu beenden, damit dieses Kino im Kopf vorbei ist. Heute denke ich: 'Wie bescheuert muss ich gewesen sein, diesen Weg zu wählen.' Sich selber zu zerstören, ist kein Ausweg. Wir können unser eigenes Drehbuch schreiben, dafür gibt es Strategien. Darüber muss man sprechen. Über das Sprechen versteht man viel.
Was ging Ihnen damals durch den Kopf, als sich Robert Enke das Leben nahm?
Rafati: Ganz ehrlich, ich habe gedacht: 'Wie kann er nur?' Ich habe es nicht verstanden. Er war Millionär, Bundesligaspieler, Nationaltorhüter. Ich war auf der anderen Seite. Wir wissen viel zu wenig darüber, warum Menschen so entscheiden, warum Robert Enke diesen Weg gegangen ist. Jeder Mensch - das meine ich ernst und nicht provokant - trägt Züge von Robert Enke oder mir in sich. Mir geht es um den richtigen Umgang mit Stress. Wenn der aufkommt, muss man in die richtige Schublade greifen. Damit man eben nicht den Weg von Robert Enke oder mir geht. Ich hätte eigentlich aus Enkes Geschichte lernen müssen. Erst nach meiner Heilung habe ich mich dann stark mit ihm auseinandergesetzt, endlich das Buch über ihn gelesen und auch noch einmal nachvollzogen, wo meine Fehler lagen. Es ist schizophren: Es muss immer erst richtig knallen, damit wir aufwachen. In meinem Fall war es noch nicht zu spät, auf der Klippe zwischen Leben und Tod gab es für mich noch die Rettung. Bei Robert Enke war es leider nicht der Fall.
Glauben Sie, dass das Schicksal von Robert Enke oder Ihr eigenes etwas zum Guten verändert hat?
Rafati: Es ist absolut nichts besser geworden. Auch Valentin Markser, der Psychiater von Robert Enke, hat gerade erst gesagt, dass wir keinen Schritt weiter gekommen sind. Ich glaube, dass bei der DFL und beim DFB das Thema Stress und Druck viel zu sehr unterschätzt wird. Ich kriege es im Coaching ja mit, welche Dinge die Spieler beschäftigen - und es wird immer mehr. Der Druck wird mehr und wir schaffen es nicht, auf uns zu schauen. Wir schauen immer noch weg. Es gibt immer mal wieder rhetorische Feuerwerke, aber es wird sich nie richtig mit dem Thema befasst. Es ist keine Schande, wenn einer mal nicht weiter weiß. Und aus eigener Erfahrung sage ich: Wenn du dich damit beschäftigst und die Zusammenhänge verstehst, dann wirst du vielleicht für ein, zwei Monate weniger spielen - aber dann kommst du richtig gestärkt raus, dir wachsen Flügel. Dann aber für immer.
Wie verbringen Sie den 19. November?
Rafati: Es ist offiziell mein zweiter Geburtstag. Ich gehe immer mit meiner Frau Essen und wir feiern. Es war ein bitterböser Tag in meinem Leben, aber wiederum hat er auch etwas sehr Schönes. Ich habe aus den Fehlern von damals wahnsinnig viel gelernt. Dieser Tag musste passieren, um zu dem zu werden, der ich heute bin. Der Tag hat mich sehr nach vorne gebracht - mental und persönlich.