Florian Müller hat beim VfB Stuttgart das schwere Erbe von Gregor Kobel angetreten und eine äußerst bewegte und teils sehr komplizierte erste Saison bei den Schwaben erlebt. Formschwankungen, von den Fans kritisch beäugt, von Corona flachgelegt - aber am Ende trotz eines kapitalen Patzers im Saisonfinale mit einem Moment für die Ewigkeit beschenkt.
Im Interview mit SPOX und GOAL gibt Müller einen kleinen Einblick in sein Seelenleben nach dem unvergesslichen Klassenerhalt, er blickt aber auch sehr reflektiert auf das Fußballgeschäft im Allgemeinen und erklärt, warum er sich aus der Blase so gut wie möglich heraushalten will.
Der 24-Jährige spricht außerdem über eine wegweisende Entscheidung im Alter von nur 10 Jahren und verrät, wie sich VfB-Coach Pellegrino Matarazzo in dieser Saison verändert hat.
Herr Müller, stimmt es, dass Ihr Vater Sie davon abhalten wollte, Torwart zu werden?
Florian Müller: Das stimmt. Dabei stand er selbst mal im Tor, vielleicht gerade deswegen. Er meinte, dass Torwart einfach so ein unglaublich undankbarer Job sei und irgendwie hat er damit ja auch ein Stück weit recht. Ich habe am Anfang sowohl im Feld gespielt als auch im Tor gestanden, mir hat auch beides Spaß gemacht, aber ich war im Tor einfach deutlich besser als im Feld. So habe ich mich dann entschieden, die Familientradition fortzusetzen und stand ab 12 nur noch im Tor. Im Nachhinein war es keine so schlechte Entscheidung.
Sie haben ganz früh in Ihrem Leben eine bemerkenswerte Entscheidung getroffen. Da waren Sie 10 Jahre alt. Erzählen Sie.
Müller: Es ging darum, auf welches Gymnasium ich nach der Grundschule wechsle. Einfacher wäre es natürlich gewesen, ein Gymnasium in der Nähe zu wählen, aber ich wollte unbedingt auf die Eliteschule des Sports in Saarbrücken, auch wenn das mehr als 30 Kilometer von unserem Elternhaus entfernt war. Erstens war ich komplett sportverrückt, ich habe gefühlt jede Sportart ausprobiert, und zweitens hatte ich damals schon den Traum und die Vision im Kopf, dass ich eines Tages Profi werden will. Und deshalb war für mich klar, dass die Schule in Saarbrücken perfekt für mich ist. Meine Eltern waren allerdings anfangs nicht so begeistert. Und mit 10 konnte ich es ja nicht alleine entscheiden. (lacht) Aber ich konnte sie zum Glück überzeugen.
War das nicht hart, einfach aufgrund der Entfernung?
Müller: Es war in der Rückschau schon enorm, ich bin jeden Morgen um 6.30 Uhr aus dem Haus und war dann 90 Minuten unterwegs, um in die Schule zu kommen. Aber als Kind nimmst du die Anstrengung ja nicht so wahr, heute würde ich wahrscheinlich denken, dass es verrückt ist, aber damals hat mir das nichts ausgemacht. Im Gegenteil, es war eine richtig coole Zeit, aus der ich extrem viel mitnehmen konnte und die mich genau in die richtige Richtung gebracht hat. Ich würde es jederzeit wieder so machen.
Sie haben immer schon einen sehr reflektierten Blick auf das Fußball-Business gehabt, woher kommt das?
Müller: Mir war es von Anfang an in meiner Karriere extrem wichtig, dass ich Kontakt zu Freunden und Bekannten halte, die nicht in diesem Geschäft unterwegs sind. Die ein "normales" Leben führen, weil man als Fußballer kein "normales" Leben lebt, wenn man ehrlich zu sich ist. Man befindet sich in einer Blase, aus der ich mich einfach ein Stück weit heraushalten will. Wenn ich beim Training oder beim Spiel bin, bin ich zu 100 Prozent und mit allem, was ich habe, dabei, aber daneben ist es mir wichtig, mich ein bisschen herauszunehmen. Das tut mir sehr gut. Das hält dich auch am Boden. Wenn du mit Menschen außerhalb des Fußballs sprichst, merkst du manchmal erst, was wirklich in der Welt los ist und was wirkliche Probleme sind. Und du merkst, was für ein privilegiertes Leben du führst. Es ist nicht selbstverständlich, Fußballprofi zu sein.
imago imagesFlorian Müller: "Kein Mensch ist so viel Geld wert"
Was stört Sie am Business am meisten?
Müller: Alles wird immer größer, größer und noch größer, das bekommen wir ja alle mit. Wenn ich mir die Entwicklung der Ablösesummen anschaue, ist das teilweise surreal. Kein Mensch ist so viel Geld wert. Ich versuche, mich einfach auf mich und meinen Verein zu konzentrieren und das größtenteils auszublenden.
Dann konzentrieren wir uns auf Sie und die neue Saison. Pellegrino Matarazzo meinte, dass Sie sich etwas vorgenommen hätten für die Saison. Der Start war schon mal stark, wenn man an das Leipzig-Spiel denkt. Was haben Sie sich konkret vorgenommen?
Müller: Ich will zeigen, was ich kann. Ich will das zeigen, was ich in der letzten Saison nicht so zeigen konnte, wie ich das gerne gemacht hätte. Ich habe im Gegensatz zum letzten Jahr die komplette Vorbereitung mitgemacht. Statt zehn Tage war ich sechs Wochen dabei, das macht einen großen Unterschied, das spüre ich jeden Tag. Ich fühle mich richtig gut und fit.
War die Olympia-Teilnahme in der Rückschau dann das größte "Problem" in der letzten Saison?
Müller: Olympia war eine unglaubliche Erfahrung, die ich auf keinen Fall missen möchte, aber für die Saison beim VfB war es nicht optimal, das ist die Wahrheit. Ich war lange nicht bei 100 Prozent und als ich dann nahe dran war, hat mich Corona erwischt.
Florian Müller: So schlimm wurde ich von Corona getroffen
Und zwar richtig.
Müller: Ich lag wirklich vier Tage lang nur im Bett. Jedes Mal, wenn ich versucht habe, aufzustehen, musste ich mich nach ein paar Schritten direkt wieder hinlegen. Ich war komplett am Ende. Deshalb hat es danach auch ziemlich lange gedauert, bis ich mich wieder wirklich gut gefühlt habe. Eigentlich war ich erst Ende der Saison auf dem Level, auf dem ich gerne die ganze Saison gewesen wäre. Jetzt bin ich top in Form und will konstant die Leistungen zeigen, zu denen ich imstande bin. Ich habe ja schon bewiesen, dass ich es kann - jetzt will ich konstant Woche für Woche performen.
Wir müssen nochmal über das Köln-Spiel am letzten Spieltag sprechen, das für viele VfB-Fans vielleicht der schönste Fußball-Tag Ihres Lebens war und vielleicht für immer bleiben wird.
Müller: Für mich wird dieser Tag auch für ewig bleiben. Ich werde nie mehr den Moment vergessen, als ich nach dem Spiel und dem Platzsturm irgendwann in die Kabine gelaufen bin und im Spielertunnel erstmal zusammengesackt bin. Da sind schon ein paar Tränen geflossen. Ich brauchte diesen Moment ganz alleine für mich, weil da so eine brutale Last von mir abgefallen ist. Das waren extreme Emotionen, hoch und runter, komplett wahnsinnig. Es war die wildeste Achterbahnfahrt meines Lebens. Das ging ja schon vor dem Köln-Spiel los. Die ganze Vorgeschichte mit dem Punktgewinn bei den Bayern, wie die Saison generell für uns als Mannschaft, aber auch für mich persönlich gelaufen ist, dann mache ich diesen Patzer in der zweiten Halbzeit, wie gesagt, das war alles extrem zu viel.
Beschreiben Sie nochmal die Atmosphäre im Stadion vor dem 2:1 durch Endo.
Müller: Man hat wirklich gespürt, dass das ganze Stadion jetzt zusammen dieses verdammte Tor schießt. Kölner Spieler sind später zu mir gekommen und meinten auch nur: "Was war das denn bitte?" Es war unfassbar. Für Menschen, die nicht im Stadion dabei waren, ist das nicht zu beschreiben. Da war so eine Lautstärke, so eine Wucht, da ist so eine Kraft entstanden durch unsere Fans - das Tor musste fallen. Aber ich denke auch gerne an das München-Spiel, bei dem man in der Allianz Arena nur unsere Fans gehört hat. Unsere Fans haben uns so gepusht, auch wenn es schlecht lief über weite Strecken der Saison, sie haben einen großen Anteil am Klassenerhalt. Dieses Erlebnis wird Mannschaft und Fans wohl für ewig verbinden.
Florian Müller: Seine Karriere beim VfB Stuttgart im Überblick
BL-Spiele | Gegentore | Zu null |
33 | 56 | 4 |
Der VfB hat nach einer Zeit, in der das nicht so war, wieder viele Spieler, die zu Identifikationsfiguren geworden sind, einige von Ihnen sind aber wie Sasa Kalajdzic oder Borna Sosa nicht mehr ewig in Stuttgart. Sie könnten dafür eines der VfB-Gesichter der Zukunft werden. Vorstellbar?
Müller: Ich bin ein Typ, der grundsätzlich gerne lange bei einem Verein bleibt. Ich war nur ein Jahr in Freiburg aufgrund der Leihe, aber eigentlich will ich lange bei einem Klub bleiben und etwas aufbauen. Mit dem Verein, mit den Fans, mit der Stadt. Ich will beim VfB ein Führungsspieler sein. Ich bin zwar erst 24, aber ich habe schon relativ viel Erfahrung. Ich will den Jungs helfen, will von hinten heraus unterstützen, führen, auch meine Werte weitergeben. Ich wäre glücklich, wenn ich noch lange beim VfB bleiben und eine Zeit hier mit prägen könnte.
Jedem Torwart unterlaufen auch größere Schnitzer, das gehört dazu, wie gehen Sie mit solchen Fehlern um?
Müller: Ich glaube, dass man unterscheiden muss, um welche Art von Fehler es sich handelt. Es gibt richtige Böcke, so wie gegen Köln, da muss ich danach nicht großartig zur Analyse gehen. Die musst du so schnell wie möglich abhaken. Aber es gibt auch Fehler, bei denen wir sehr in die Detailanalyse gehen und genau schauen, was falsch gelaufen ist und wie ich das in Zukunft verhindern kann.
Steffen Krebs soll ein harter Hund sein als Torwarttrainer.
Müller: (lacht) Er ist schon ein Schleifer. Wir geben gut Gas im Training. Das Training ist sehr intensiv und deckt viele Komponenten ab. Gerade auch auf den athletischen Bereich legen wir großen Wert. Ich habe das Glück, dass ich in meiner jungen Karriere schon tolle Torwarttrainer hatte. In Mainz durfte ich zum Beispiel viel von Stephan Kuhnert lernen, ein großartiger Torwart und Mensch, da bin ich sehr gereift in jungen Jahren. Ich versuche generell, so viel wie möglich aufzusaugen. Ich schaue viel Sport im Fernsehen an. Wenn ich Handball oder Eishockey schaue, achte ich besonders auf die Torhüter. Man kann das zwar mit dem Fußball nur bedingt vergleichen, aber manchmal entdeckt man vielleicht doch eine Kleinigkeit, die man mitnimmt.
Florian Müller: "Er ist für mich immer noch die Nummer eins"
Auf welchen Torwart schauen Sie im Fußball besonders?
Müller: Manuel Neuer, ganz klar. Er ist für mich immer noch die Nummer eins.
"Müller mutiert zu Neuer" hieß es nach Ihrer bärenstarken Partie gegen Leipzig.
Müller: Das ist das Los eines Torwarts. Es geht schnell in die negative, aber auch schnell in die positive Richtung. Ich versuche, nicht so viel an mich heranzulassen. Nicht, wenn ich Fehler mache, aber auch nicht, wenn ich ein gutes Spiel mache. Ich habe nach dem Leipzig-Spiel nicht drei Tage lang mir Kommentare im Netz durchgelesen und mich abgefeiert. (lacht) Aber solche Spiele sind natürlich der Grund, warum ich Torwart geworden bin. Wenn du in einem Spiel merkst, dass du in einen Flow kommst, ist das einfach überragend. Ich hoffe, ich habe dieses Gefühl in dieser Saison noch öfter.
Wie hat sich das Torwartspiel denn aus Ihrer Sicht verändert?
Müller: Wir haben ja alle erlebt, dass die Torhüter zunehmend ins Spiel eingebunden sind. Das ist auch nach wie vor ein Trend. Du musst gut mit dem Fuß sein, du musst als Torhüter auch taktisch mehr vom Fußball verstehen, würde ich behaupten. Ich versuche bei uns auch, ein Teil der Kette zu sein und gut mitzuspielen, mit und gegen den Ball. Dass ich direkt da bin und Bälle ablaufen kann, wenn wir überspielt werden. Ich interpretiere die Rolle offensiv und will immer unterstützen. Am Ende geht es aber natürlich immer noch darum, Bälle zu halten. Wenn ich fünf überragende Pässe spiele, aber mir die Murmel hinten reinschmeiße, bringt mir das zu Recht keine guten Kritiken ein. Da habe ich lieber fünf überragende Saves, das ist und bleibt mein wichtigster Job.
imago imagesFlorian Müller über Matarazzo: "Er hat die Zügel angezogen"
Es wird oft davon gesprochen, dass ein Torwart Ruhe ausstrahlen soll. Kann man das lernen?
Müller: Für mich ist das tatsächlich auch mit das wichtigste. Ruhe ausstrahlen, Sicherheit geben, auch von hinten coachen. Ich bin grundsätzlich ein ganz entspannter Typ, das hilft mir als Torwart, weil es - hoffe ich zumindest - sehr natürlich wirkt und ich nicht künstlich versuche, unbedingt Ruhe ausstrahlen zu wollen. Das würde nicht funktionieren. Wenn du ein hibbeliger Typ bist, kannst du nicht im Tor stehen und die Jungs vor dir haben das Gefühl, dass hier einer Ruhe ausstrahlt.
In der letzten Saison war der VfB läuferisch nicht auf einem oberen Level, auf die Fitness wurde jetzt ein enormer Fokus gelegt. Und generell scheint Matarazzo nach den Erfahrungen der letzten Saison härter geworden zu sein mit der Mannschaft. Stimmt das?
Müller: Er hat die Zügel angezogen. Das war in der Vorbereitung so, das ist aber auch jetzt in jeder Trainingswoche noch so. Wir haben eine Schippe draufgelegt, eine große Schippe. Wir haben da einen Sprung nach vorne gemacht - so muss es weitergehen und dafür wird der Trainer auch sorgen.
Abschließend, Sie standen bei den Olympischen Spielen im Tor einer DFB-Auswahl. Sie sind erst 24 Jahre alt. Ist die Nationalmannschaft perspektivisch ein Ziel?
Müller: Die Nationalmannschaft ist für jeden Fußballer ein Traum, aber ich mache mir da gar keinen Druck. Ich habe mir das nicht als Ziel gesetzt. Wenn ich gut genug bin eines Tages und ein Anruf kommt, dann freue ich mich sehr. Ich bin mir aber auch bewusst, dass wir in Deutschland keinen Mangel an guten Torhütern haben.