Nach seiner Entlassung bei Tottenham Hotspur gilt Mauricio Pochettino als Trainerkandidat beim FC Bayern München. Er ist einer der herausragenden Trainer der vergangenen Jahre - aber eher keiner, der zur vermeintlichen Hausphilosophie des FC Bayern passt.
Als der FC Bayern am 30. September nach London reiste, um dort tags darauf das letzte überzeugende Spiel unter Trainer Niko Kovac zu bestreiten (7:2 gegen Tottenham Hotspur), wurde der Vorstandsvorsitzende Karl-Heinz Rummenigge nach Kovacs Gegenüber Mauricio Pochettino gefragt.
Und Rummenigge sprach: "Pochettino ist ein Mann, der ähnlich wie wir auf Ballbesitz, auf Offensivgeist setzt und sich nicht defensiv groß um den Gegner kümmert." In den folgenden rund zwei Monaten hat sich einiges geändert: Kovac ist beim FC Bayern nicht mehr im Amt und Pochettino bei Tottenham auch nicht, dafür aber stattdessen beim FC Bayern, der zumindest bis zur Winterpause interimistisch von Hansi Flick betreut wird, im Gespräch.
Natürlich nicht geändert hat sich seitdem dagegen der Umstand, dass Rummenigges damalige Aussage zumindest ein bisschen geflunkert war. Denn: Ein Mann, "der auf Ballbesitz setzt", ist Pochettino nicht, und er ist auch kein Mann, "der sich nicht defensiv groß um den Gegner kümmert".
Wie viel Premier League schaut Rummenigge?
Seit seinen Aussagen über Lucas Hernandez ("Den Spieler habe ich persönlich noch gar nie gesehen") und Rodri ("Ich kenne den Spieler gar nicht") weiß man, dass der ehemalige Präsident des FC Bayern Uli Hoeneß nicht sonderlich viel Primera Division schaut. Kommt schließlich auch nur im Internet, das er nach eigener Aussage boykottiert.
Nun fragt man sich natürlich: Wie viel Premier League schaut Rummenigge? Hat er bei seiner Einschätzung von Pochettino mit voller Absicht geflunkert? Oder weiß er es nicht besser? Und wenn er es nicht besser weiß, weiß es dann wenigstens Oliver Kahn?
Kahn wird zum neuen Jahr in den Verein einsteigen und zwei Jahre später Rummenigges Posten als Vorstandsvorsitzender übernehmen. Schon an der aktuellen Trainersuche soll er intensiv teilnehmen. Wie er sie angehen wird, hat Kahn bereits verraten. "Man muss wegkommen von irgendwelchen Namen", sagte er, sondern sich stattdessen fragen: "Was ist der Fußball, für den Bayern stehen möchte? Und was ist ein Trainer, der optimal dazu passt?"
Pochettino steht für Tempo und Dynamik statt Dominanz
Das sind weise Fragen. Jetzt müssen sie weise behandelt und letztlich auch weise beantwortet werden. Eines ist dabei klar: Will der FC Bayern das von Louis van Gaal und Pep Guardiola installierte, von Jupp Heynckes weitergeführte (von Kovac vergessene) und vor allem von Rummenigge so geliebte dominante Ballbesitz-Spiel, das dem Klub sehenswerten und erfolgreichen Fußball bescherte, in dieser Form weiterführen, dann gibt es zwei Optimallösungen.
Da van Gaal seine Karriere beendet hat und Guardiola Manchester City wohl eher nicht verlassen wird, bleiben auf höchstem Niveau aktuell: Erik ten Hag von Ajax Amsterdam und Thomas Tuchel von Paris Saint-Germain. Beide stehe für diese Art Fußball und beide wären nächsten Sommer wohl zu haben, wenn man sie mit ähnlicher Inbrunst umgarnen würde wie einst Heynckes.
Pochettino wäre in diesem Fall dagegen der falsche Mann. Pochettinos Mannschaften haben zwar meist mehr Ballbesitz als der jeweilige Gegner, weil sie schlicht besser sind. Aber von der Grunddenkweise her ist Pochettino weniger der Spezies Guardiola als viel mehr der Spezies Jürgen Klopp zuzuordnen: ein Pressing-Trainer, der den Fußball aus Umschaltmomenten herausdenkt. Ein Außenseitertrainer.
"Intensiv, schnell, mit hohem Pressing und vielen einstudierten Bewegungen", umreißt Pochettino seine Spielphilosophie in seiner Autobiografie. Er ist ein Trainer, dessen Mannschaften eher mit Tempo und Dynamik daherkommen, als mit erdrückender Dominanz.
Ex-Spieler Veljkovic: "Sein Lieblingsthema ist das Pressing"
Der heutige Bremer Milos Veljkovic kommt aus der Jugend von Tottenham, trainierte monatelang unter Pochettino und kennt einen anderen Trainer als Rummenigge. "Pochettino gewinnt lieber 1:0 als 5:4", sagte Veljkovic gegenüber SPOX und Goal. "Sein Lieblingsthema ist das Pressing. Generell beschäftigt er sich hauptsächlich mit dem Verhalten seiner Mannschaft bei gegnerischem Ballbesitz. Er arbeitet sehr viel mit der Viererkette und den beiden Sechsern. Den Stürmern macht er genau vor, wie sie anlaufen sollen."
Bei Tottenham agierte Pochettino in den vergangenen Jahren meist mit drei bis vier zentralen Offensivspielern aus dem Pool Harry Kane, Christian Eriksen, Heung-Min Son, Lucas Moura und Dele Alli. Sie pressen ihre Gegenspieler geschlossen und tief in der gegnerischen Hälfte, schalteten bei Ballgewinn schnell um und versuchten dann, mit einstudierten Spielzügen rasch zum Abschluss zu kommen.
Ein System, das einerseits konträr zum (bis zur Ankunft von Kovac) beim FC Bayern jahrelang praktizierten, den Gegner mit langen Passstafetten zermürbenden Ballbesitzspiel steht, und außerdem auch konträr zum bereits noch länger praktizierten Flügelspiel. Während Tottenham seit Jahren ohne reine Flügelspieler agiert, dribbelten beim FC Bayern einst Arjen Robben und Franck Ribery, aktuell Kingsley Coman und Serge Gnabry und demnächst womöglich auch Leroy Sane auf den Flügeln.
Pochettino: Ähnlichkeiten mit Klopp und Simeone
Großen Wert legt Pochettino auf Fitnessarbeit, die zur nötigen Wucht führt. Als Tottenham in der vergangenen Saison ins (letztlich gegen den FC Liverpool verlorene) Champions-League-Finale marschierte, dominierte die Mannschaft ihre Gegner in der K.o.-Phase Borussia Dortmund, Manchester City und Ajax Amsterdam weniger spielerisch, als vielmehr physisch.
"Sein Erfolg bei Tottenham basierte genau wie Klopps Erfolg bei Liverpool darauf, dass seine Spieler schneller und stärker sind als die anderen", sagte der renommierte englische Journalist Jonathan Wilson, der unter anderem für den Guardian schreibt, zu SPOX und Goal. Laut Wilson stellte Pochettino jahrelang "die fitteste Mannschaft der Liga". Pochettino selbst sagte mal: "Ohne die richtige Einstellung, ohne Eifer und Gier braucht es keine Taktik." Mit dieser Denkweise hat Pochettino Ähnlichkeiten mit Diego Simeone von Atletico Madrid, findet Wilson: "Beiden geht es um Hingabe und Moral."
Rummenigge: "Ein Trainer muss sich dem Verein anpassen"
Pochettino ist einer der herausragenden Trainer der vergangenen Jahre. Er kann Spieler entwickeln und zu einer funktionierenden Mannschaft formen, die besser ist als die Summe ihrer Einzelteile. Pochettino steht für einen intensiven, spektakulären Umschaltfußball mit Spielern, die hoch pressen und nach Ballgewinn einstudierten Mustern folgen. Er steht für einen Fußball, der begeistert und mitreißt, der für Euphorie sorgt. Aber er steht nicht für einen dominanten Ballbesitz-Fußball, den der FC Bayern zu seiner vermeintlichen Hausphilosophie erklärt hat.
Es spricht aus Sicht des FC Bayern natürlich absolut nichts dagegen, eine Abkehr von dieser generellen Philosophie zu wagen und Pochettino als neuen Trainer zu verpflichten. Entscheidend ist dann aber, dass das in vollem Bewusstsein über einen Wandel geschieht. Dass der Verein die Ansichten des neuen Trainers genau kennt, sich darauf einlässt und auch die Transferpolitik darauf abstimmt.
Ob das funktioniert? Mit Kovac hat das nicht funktioniert und als das immer deutlicher wurde, erklärte Rummenigge im Sommer bei Sport1: "Ich glaube, dass sich ein Trainer der Spielkultur eines Klubs anpassen muss - und nicht umgekehrt."